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Herr Wu lacht
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Der anthropotechnoartistischsannyasketologische Wunschpunsch

Goedart Palm zu den neuen Trainingseinheiten unseres Senior Drill Instructors Peter Sloterdijk

Wir alle besitzen Heimtrainer. Einer von ihnen ist Peter Sloterdijk, der von der Jan Steen-Leiblichkeit her zwar nicht a priori fitnessverdächtig erscheint, aber dessen im Feuilleton so nachhaltig beschworene »Hans-Dampf«-Denkerexistenz als umtriebig genug gilt, alte Meistererzählungen zu beleben und kreativ durcheinander zu wirbeln. In seiner neuen Frohbotschaft entwirft er eine mehrtausendjährige Geschichte der Übungen des Selbst, um in dieser Welt der tausendundeins Zumutungen besser mit eben diesem widerspenstigen Selbst klar zu kommen.

»Im antiken Ideenwettbewerb wurden Trainingsprogramme für Seelenformen lanciert, die im neuen ökumenisch-imperialen Horizont verwendbar und belastbar werden sollten. Man darf nicht vergessen, dass die antike Philosophie ein mentales work-out war, wie Pierre Hadot überzeugend gezeigt hat. Die logischen Formen dienten in ihr als Übungsgeräte. Wir erleben heute, dass die soziale Evolution uns wieder eine solche Größerformatierung abverlangt – eine neue Bemühung um Verkehrsfähigkeit mit allen möglichen koexistierenden Kräften in einem globalisierten Großraum. Die Philosophie ist heute ein super-work-out für die kommunikativen Energien, die weltweit Anschlüsse finden. Darin steckt schon ein so anspruchsvolles pragmatisches Programm, dass ich für Idealismus keine Verwendung sehe.«

Dass die Philosophie Kompetenzstreitigkeiten nicht aus dem Wege geht, gehört zu ihrer Erbmasse, aber »super-work-out« will noch mehr besagen, nämlich den Hiatus von Theorie und Praxis, von vita contemplativa und vita activa in kollektiver psychophysischer Fitness überwinden. »Du musst dein Leben ändern« klingt freilich so abgestanden, dass man Peter Sloterdijk schon ob des Mutes bewundern muss, einen Titel zu wählen, den jeder Lebensberater neueren Datums schon deshalb verwerfen müsste, weil er mit der abgenutzten Universalkategorie »Leben« operiert - wo wir doch prima vista gerne gewusst hätten, ob man nun mehr meditieren oder simplifizieren soll, ob man kunstvoll verarmt oder einfach nicht vor die Hunde gehen will, ob man Benimm-Regeln adaptiert, die zur Persönlichkeit reifen lassen, oder per Bachblüten eitel Sonnenschein ins Herz lässt. Da könnte doch jeder kommen. Aber Sloterdijk ist eben nicht jeder: »Wir müssen unser Leben entscheidend ändern, weil wir andernfalls an einem ökonomischen und ökologischen Selbstauslöschungsprogramm teilnehmen.« (FAZ-Interview) Das klingt auch nicht besonders originell, da wir seit den frühen Tagen des »Club of Rome«, seit einigen Jahrzehnten Anti-AKW und dem immer wieder neu angestachelten Wissen um atomare Vernichtungspotenzen das Menetekel als die zeitgemäße Wahrnehmungsform einer unübersichtlichen Gegenwart kennen gelernt haben. Das Menetekel ist theorietechnisch einfach zu bedienen, hat immer Recht und ist also der ideale Katalysatormotor des schon länger zeitgeistig runderneuerten Eisbrechers »Titanic«. Wenn Sloterdijk die so groß geschriebene »Große Katastrophe« als einzige Autorität markiert, der ethische Bedeutung zukommt, möchte man Karl Kraus variierend sagen, wir kannten sie schon, als sie noch kleiner gewesen ist. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit, wenn wir Günther Anders alarmistische Theorie der Apokalypseblindheit noch im Ohr haben, die uns auch schon myriadenfach im Atomregen untergehen sah. Katastrophenskalierung ist eine Frage der Perspektive, die insbesondere bei empfindsamen bis paranoiden Naturen risikostrategisch nicht immer hinreichend aufgehoben erscheint. Katastrophenmanagement im Beschwörungsgestus besitzt für magisch veranlagte Naturen apotropäische Qualitäten - was über die philosophische Wahrheitsfähigkeit solcher Prospekte so gar nichts sagt, aber eben hierzulande, ewiger Spengler sei Dank, auf üppige Provenienzen verweisen kann.

Gegen Omega-Verluste und den inneren Schweinehund von morgen
Über chiliastische Engpässe, eschatologische Kränkungen und andere Omega-Verluste hilft man sich philosophisch dadurch hinweg, dass die durchtrainierte Zukunft der schlappen Gegenwart auf die Sprünge hilft. Gegen das Stigma des Zeitgeistphilosophen hilft der Generationenvertrag der etwas anderen Art. Peter Sloterdijk markiert deshalb zum Auftakt eine alte Wahlverwandtschaft: »Ich mache mit meinem Buch erstmals den Versuch, die Gattungsbezeichnung von Nietzsches »Zarathustra«: »Ein Buch für alle und für keinen« wörtlich zu nehmen. »Für keinen« heißt es, weil es die Eliten, an die das Buch sich wenden könnte, noch nicht gibt.« Wenn das nicht selbstironisch verbucht werden darf, kann man dem Autor viel Gottvertrauen attestieren, in Zeiten des unabsehbaren Beschleunigungsterrors heute für die Eliten von morgen zu schreiben. Diese Avantgarde wird sich vielleicht schon nicht mehr die Augen reiben, sondern bereits die Schrauben festziehen, wenn sie auf diesen oder jenen Monte Verità gejagt wird. Ob das allerdings dann auch noch als Übung gelten dürfte oder sämtliche anthropometrischen Existenziale und ihre asketologischen Rezepturen aus drei Jahrtausenden über den phänomenologischen Haufen wirft, weil auch völlig andere Soziosysteme als Sloterdijksche Basislager zu beschreiben wären, steht nicht im Zentrum dieser Trainingsrunde. Immerhin gibt es jetzt erst mal die kaufbereite Elite, denn dieser Essay, der keiner ist, sondern eher ein Zeitreise-Roman des sich selbst trainierenden Selbst, klettert in den Bestseller-Hitparaden nach oben. »Selbst« und »Seelenlage« ist als Verkaufsoption der angeschlagenen Verlagsbranche schon länger bekannt: »Wer bin ich - und wenn ja wie viele?« (Richard David Precht) oder »Mit sich selbst befreundet sein: Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst« (Wilhelm Schmid) sind solche Seelenseller, die ein fundamentales Verlangen des Menschen nach Selbst-Aufklärung in der alten neuen Unübersichtlichkeit bedienen. Wer möchte nicht mit sich befreundet sein, wer nicht eine beruhigte Seelenlage in das zerbrechlich alimentierte Renten-Dasein hineinverwalten, wer nicht Freunde für sein bescheidenes Ego gewinnen und sein wahres Selbst im Fundamental-Aerobic kennen lernen, wenn die Lichtung dieses Wesens trotz Internet-Speeddating und Chatroom immer düsterer wird? Selbst für die alten Entfremdungsartisten in den Redaktionen hat Peter Sloterdijk ein Quantum Trost: »Sie könnten sich gegen den Zwang auflehnen, von Dingen zu reden, auf die es nicht ankommt. Täglich werden Journalisten an die Front der Ablenkungsthemen gerufen.« (FAZ Interview). Nun ist dieser Bellizismus nicht so tragisch, weil es ohnehin immer weniger Leser gibt, die nicht blinzeln können, wenn sie diese Fronten erleben. Wie in Zeiten des Internets eine Presse überleben sollte, die sich auf fundamentale Dinge hin äußert, wenn sie denn überhaupt solche Dinge zu erkennen vermag, ist ohnehin unerfindlich. Ist diese schwarze Kunst nicht im tiefsten, tiefsten Wesen Divertimento? Ist hier nicht das Sein Schein und darf es sein? Das Medienmotto der Selbstentfremdung ist seit der Kulturindustriedebatte von den üblichen Verdächtigen des authentischen, eigentlichen Lebens so oft bedient worden, dass wir uns längst fragen, warum »Seinsvergessenheit« nicht immer, aber doch oft genug eine prima Kondition ist, um sich den von außen herangetragenen Zumutungen des Authentizitätsdrucks zu versagen. Befreit man sich zum Anti-Ödipus oder anderen Scheinriesen im Ausgang von der bürgerlichen Befindlichkeit, um sich anschließend wieder zum Hampelmann des wahren Lebens machen zu lassen?

Der Zebulon der deutschen Fundamentalartistik
Es besteht der infektiöse Verdacht, dass der Fragenkreis, was Menschen denken oder nicht, ob sie lernen oder nicht und auch, ob sie üben oder nicht, für den Weltvollzug immer unwichtiger ist. Ob sie nun wie Neo in der Matrix Supersprünge beherrschen oder vor dem TV ermatten, führt dann nur noch zu der nüchternen Frage, ob sie die rote oder blaue Kapsel einwerfen. Was sagt der Cheftrainer dazu?
»...Vor allem gefahrenbewusster denken. Was bevorsteht, ist eine Art von gorgonischer Aufklärung. Wir müssen uns dafür entscheiden, ein globales Immunsystem aufzubauen, das uns eine gemeinsame Überlebensperspektive eröffnet. Wir haben jetzt an einem Schutzschild für die Erde, für die Menschheit und für ihre technischen Umgebungen zu arbeiten. Dazu wird ein globales Ökomanagement nötig. Ich nenne das Ko-Immunismus.« In bester Tradition des hegelianischen Recycling ist der Terminus verschreibungspflichtig, weil wir uns nach diversem cineastischen Alien-Horror einer biotechnischen Zwangskollektivierung ausgesetzt sehen könnten. Nein, das ist kein Fall für Ellen Ripley. Kästner-Kenner Sloterdijk hält es eher mit der Praxis von Dr. Fabian, dem Moralversteher zum Sofortbegreifen: »Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.« Die philosophische Tuwat-Bewegung wird vor allem ex negativo verständlich, wenn doch die tausendfach variierten Appelle nur noch wie alte verbrauchte Schnurren am Backofen erscheinen, deren höchst fragile Wirkungsgeschichte die Deckungsreserven selbst des wohlmeinenden Publikums langsam aufgebraucht hat. Wer glaubt jenseits der Lehrstühle noch an die Gefahrenabwehrrhetorik der Philosophie? Gesellschaftsanalyse wird durch Seismik ersetzt, Wissenschaft durch Denken und nun »common sense« durch humane Selbstaufgipfelung - die Terminologie variiert geringfügig, ohne dieses so fragile Apriori aufzugeben, man müsse nur die Tonart oder den Stil wechseln und schon wackelten die Verhältnisse zwischen Mensch und Welt nicht nur - sondern  purzelten – turnikuti, turnikuta - in die richtige Richtung. Wenn man genug übt oder gute Sprungfedern hat!

Sloterdijk verwahrt sich zwar dagegen, nun als religiöser Gemischtwarenhändler aufzutreten, so wenig sich dieser Eindruck im Blick auf die synästhetisch sich auftürmenden Terminologien auflöst. Im Prinzip geht es in den Selbständerungshinweisen um eine Verweltlichung jener Exerzitien, die das Selbst in religiös abgeschiedenen Kontexten groß gemacht haben oder eben, wenn man Sloterdijk folgt, dieses Selbst gegen die Welt immunisiert haben, um in ihr existieren zu können. Wer es in dieser Welt bis zu seinem natürlichen Ende aushalten will, kann seit Jahrzehnten auf unzählige Rezepturen und Remeduren zurückgreifen, die vordem zum Trimmprogramm religiöser Profis gehörten. Was bis heute den Kleinanzeigen-Markt überleben lässt und das Selbst zum transgressiven Geschäft von seriösen Gurus bis hin zu Dunkelkünstlern aller Sorten belastet, wird nun von Sloterdijk ideengeschichtlich variantenreich entfaltet. Aber landet man nicht schließlich doch wieder in einem weltdörflichen Poona, um ganz entspannt festzustellen, dass Erleuchtung keine vermittlungsfähige Disziplin ist und diese Entbergung höherer Geisteszustände für die gesellschaftliche Exzellenz wünschbar sein mag, doch nicht über Wohl und Wehe der Zukunft entscheidet.

Promiskuität auf der westöstlichen Pritsche
Bei der religiösen Entkernung der Exerzitien besteht offensichtlich eine erhöhte Ansteckungsgefahr durch Scharlatane, was die Vermutung begründet, Exerzitien ohne Gott respektive jenseitige Letztverankerung könnten eine Mogelpackung, zumindest jedoch eine Light-Variante des wahren Lebens sein. Das Nietzsche-Motto, dass aus Übung Glauben wird, hat Sloterdijk selbst an den Anfang gestellt, ohne uns den Eindruck zu nehmen, dass es der Wahlengadiner genau umgekehrt gemeint hat. Nun ist Yoga bekanntlich inzwischen ein VHS-geeigneter Renner der in zehn Doppelstunden erarbeiteten Verträglichkeit des Selbst mit sich und der Fremdheit der Welt
»da draußen«, sodass die Teilnehmergebühr nicht schlecht investiert erscheint, wenn wir es etwa unzulässigerweise mit den Preisen für leibversessene Massagesessel vergleichen. Es gibt religionsübergreifende Begegnungen mit Techniken des Selbst, die Gemeinsamkeiten zwischen Ignatius, Benedikt, Sufi, Zen, Moppel-Ich et alii bestätigen oder sich wechselseitig für so »anschlussfähig« halten, dass man den systemwidrigen Schmusekurs der Religionen und die scientologische Promiskuität aller Traktätchen-Wahrheiten für die Norm halten möchte: »Benedikt für Manager: Die geistigen Grundlagen des Führens« (Baldur Kirchner), Finde das rechte Maß: Benediktinische Ordensregeln für Arbeit und Leben heute (Anselm Bilgri), wahlweise: Jesus für Manager: Frei sein im Job und im Leben (Paul J. Kohtes), Zen für Manager, Sun Tzu für Manager oder Fernöstliche Kriegsstrategien für westliche Manager (Stefan Moch). Angesichts dieser fachübergreifenden, schicksalsentsorgenden Literatur würde man gerne auf »Seppuku für Marsianer« ausweichen, weil die anmaßende Vereinnahmung von vormals vielleicht tauglichen Lebensregeln für diesen oder jenen Zweck, Teil einer geistigen Unterbietungskultur geworden ist, die Komplexitätsreduktion mit selbstgenügsamer Dummheit verwechselt. Denn was diese ganze Selbstverfertigungsliteratur nie zu beantworten vermochte, ist nun beispielhaft dieses: Werde ich erfolgreicher Manager eher mit Zen oder mit Jesus, oder ist das »irgendwie« so gleich-gültig wie überlaufende Teetassen im Kloster. Orientiere ich mich wie die DARPA an Sun-Tzus Informationskriegstechniken oder eher hieran:
»The Way of the Samurai is found in death. Meditation on inevitable death should be performed daily. Every day, when one's body and mind are at peace, one should meditate upon being ripped apart by arrows, rifles, spears, and swords, being carried away by surging waves, being thrown into the midst of a great fire, being struck by lightning, being shaken to death by a great earthquake, falling from thousand-foot cliffs, dying of disease or committing seppuku at the death of one's master. And every day, without fail, one should consider himself as dead. This is the substance of the Way of the Samurai.«
Unterkomplexe Regeln zur substantiellen Weltbewältigung sind so praktisch, weil sie richtig oder falsch sein können, aber uns eine Regel geben, obwohl der Glaube längst Not leidend war, ein Regelwerk könnte uns weiterhelfen. Wir können nur entscheiden, was wir nicht entscheiden können (Heinz von Foerster), also gilt evolutions- und aufmerksamkeitsstrategisch: Bilde eine Regel und rede davon. An dieser Stelle trifft sich der ungleich seriösere, kenntnisreiche und unterhaltsame Ansatz von Peter Sloterdijk wieder mit der spiritualistischen Weichspülerliteratur, die manches Seelenleben gerettet haben mag, ohne dass die therapeutische Wirkung wie in jedem Wunderprogramm laborfähig wäre.

Diese große westöstliche Pritsche zum praxisnahen Umgang mit sich selbst und dem Rest der Weltprobleme hat keine so weit reichenden und tief sitzenden Bindungswirkungen, wie sie Religionen besitzen, die eben nicht nur Exerzitien, sondern zuvörderst transzendentale Exklusivware bieten: Ewigkeit und Erlösung. Sind alle andere Derivate kreuzgefährlich bis substanzlos oder das neue vertikale Wissen des Selbst? Dass Welt und Selbst mit ideologisch entpflichteten Anthropotechniken zu retten sind, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die in die Welt eingelassene »conditio humana« jenseits der Überzeugungen schlechter Subjektphilosophie so wenig von menschlichen Entscheidungen abhängig ist. Die Idee Gottes war ein mächtiger Kraftquell für metaphysisch orientierte Wesen, mit der Gläubige durchstarten konnten, ohne erst aufwändige Techniken zu erlernen. Diese Ressource kann substantiell nicht durch »Anthropotechnik“ ersetzt werden, weil dieser Technik ein Spannungspol, ein Glaubensmoment, ein delirierendes »Credo quia absurdum est« fehlen und allein die korrekte Sorge um sich und den Planeten, wenn das nicht heimlich doch ein Klassenwiderspruch sein sollte, heute weniger denn je kollektiv taugliche Lösungen präsentiert. Nebenbei bemerkt lässt uns Sloterdijk so wie Goethe, wenn er über die tägliche Pflicht redet, im Stich, wenn es um die Beschreibung des detaillierten Trainingsplans für Autodidakten geht.

Minima Technologica
Sloterdijks ontologischer Glaube an die Intelligenz des Menschen ist nicht so erstaunlich, weil Heidegger-Lektüre die dramatische Inszenierung des Da-Seins in Sorge und Gefahr bis zu dem Survival-Punkt fördert, wo die Passion stark wird, das Denken könnte diesen Kampf gewinnen. Der Begriff der
»Technik« existiert bei Sloterdijk aber nicht in der Heideggerschen Ambivalenz einer Welterschließung oder Wahrheitsform, die in der Nachfolge der Metaphysik auch den Menschen überfordern und überschreiten könnte. »Anthropotechnik« ist eine dem Kloster entsprungene Fertigkeit, während die von uns erlebte und erlittene »Technik« in ihrer Eigensinnigkeit und entfremdenden Verführungskunst bei Sloterdijk keine prominente Rolle spielt. Solange uns der Trimmberater nicht erläutert, warum etwa die Benommenheit vor dem omnipräsenten Monitor ein solches Ausmaß erreichen konnte, ohne dass monastische Techniken sich gegen die neuen Exerzitien des Mensch-Maschine-Tandems durchsetzen, bleibt der Heimtrainereffekt dieses Essays überschaubar. Sloterdijk singt zuletzt sogar noch das Loblied auf die Einfachheit, die er Richard Rorty und Hans Jonas als Ausweis ihrer philosophischen Extraklasse attestiert. Die Frage, wie man mit den hybriden Effekten der Technik, mit den phänomenologischen Bodenverlusten eines auf gesicherte Ergonomien angewiesenen Wesens, mit der schwer bis gar nicht kontrollierbaren Weltgesellschaft umgehen soll, stößt hier stur auf den Wiederholungsgestus der asketisch-akrobatischen Selbstveränderung. Gerade noch hat Jürgen Klinsmann eine »zusammenhängende Philosophie« angemahnt, der Sloterdijks fröhlich-synkretische Nacherzählung nicht in allen Momenten genügt – wenn er etwa biotechnische Episoden in die anthropotechnische Generalerzählung aufnimmt, ohne die kategoriale Differenz dieser Vertikalitätsformen signifikant werden zu lassen.

Diese Wunschpunschverschreibungstechnik verrät sich auch selbst nach dem aufwändigen philosophischen Entfaltungsaufwand in Reduktionen wie dieser: »Das Übermenschprogramm kann man auf sich beruhen lassen, wenn man weiß, dass es für die Vertikalspannung im allgemeinen steht.« Dann hat der Bergfex Nietzsche also wenigstens diesmal Glück gehabt und darf als gemeiner Gottsucher in die Philosophiegeschichte »ad usum delphini« eingehen. Da spart man sich die beunruhigende Frage nach der Gentechnologie, der »Menschenpark« verblasst im Heideggerschen Andenken an die Humanität und wir spüren Altersmilde, gegen die sich der noch nicht von seiner Schwester fürsorglich belagerte Nietzsche entschieden verwahrt hätte.

»Anthropotechnik« als moderate Elevation, als abgefederte Himmelfahrtstechnik zum Wohl und Wehe des Planeten könnte der letzte rhetorische Selbstbetrug gegenüber einer hoffnungslos überlasteten Spezies sein. Augenscheinlich wird jede anthropologische Kränkung mit einer Gegenoffensive beantwortet, die aus ältesten Beständen magaziniert wird, um dann wenigstens in den Operettenkriegen des Feuilletons zu bestehen. Jeder Zentrumsverlust dieser extrem reizbaren Spezies »Mensch« stößt auf narzisstische Gegenwehr. Wir fühlen uns jenem schwarzen Ritter (Monty Python and the Holy Grail) anverwandelt, der nach dem Verlust von Armen und Beinen gegenüber seinem Widersacher König Artus auf »Unentschieden« plädiert. Deshalb werden Briefe über die Humanität, über anthropologische Wunderwaffen und unzählige Selbstversicherungen des Menschen immer wieder gerne erworben. Die faktisch zu beobachtenden und nicht more sloterdico anempfohlenen Immunisierungsstrategien des Menschen gegen die Zumutungen der Welt sind so vielfältig wie ethisch indifferent, ohne dass daraus leicht eine global überbordende Solidarität entspringen würde. Die beste aller möglichen Welten oder doch wenigstens eine hinreichend gute bleibt die hartnäckigste Peilung, wenn man schon das Narrenschiff nicht so einfach in das offene Meer verlassen kann und selbst in diesem maritimen sweat-shop sentimentalische Reiselüste entstehen. Warum also immer jenem ältesten Reflex folgen, mit hohem philosophischen Aufwand nach end-gültigen Auswegen zu suchen und nicht mit mehr Gelassenheit und postprometheischer Selbstbescheidung die Dinge sich entwickeln lassen? »Seit 3000 Jahren ist ein Imperativ in der Welt, der Menschen verbietet, weiterzumachen wie bisher.« Der Imperativ könnte noch älter sein und den Menschen wie jede andere Daseinsform einbeziehen - weil die Welt an dem Sponti-Spruch: »Ich geh kaputt, gehst Du mit« selbst nach der Erfindung von Massenvernichtungswaffen keinen Gefallen findet. Dieser Imperativ ist aber augenscheinlich nicht kategorisch mit einer materialen Ethik liiert. Anderenfalls müsste die Frage quälen, warum die Meliorisierungsbestrebungen so wenig gediehen sind, wenn doch die hier angepriesenen Übungen des Selbst lange, viel zu lange bekannt sind. Sloterdijks Raumlogik behauptet im Kurzschluss von Ethos und Topos, dass nun kein Platz mehr für Freund-Feind-Kennungen wäre – wo immer wir dann die Heuschrecken ansiedeln. Wäre es so, dass Carl Schmitt trotz oder wegen Bush und Usama lediglich ein Auslaufmodell für identitätsschwache Hartschädel offeriert, dann sollten die anthropotechnischen Ko-Immunismen nicht von subjektabhängigen Appellen der vorliegenden Art und Güte abhängen, sondern von Mechanismen, die tiefer als der Mensch gedacht sind. Freilich, das lässt sich schlecht behaupten, ohne sich den Vorwurf einer misanthropischen Selbstfluchthaltung zuzuziehen. Der Sloterdijksche Voluntarismus ist bei aller philosophischen Schönheit im Detail dem Werbeflyer des Fitness-Studios oder den Empfehlungen für den Erwerb einer wirklich umfassenden Lebensversicherungspolice abgelistet. »Ja, wir können - unser Leben ändern!« Sloterdijks eigene Immunabwehr gegen Werbesprüche der amerikanischen Politik, die morgen schon so abgeledert klingen werden, wie es die geplatzten Kredite gerade zulassen, hat hier so versagt, dass sich nun der Generalverdacht gegen das Immunitäts-Paradigma einschleicht.

Petrus-Regel versus Zombiesysteme
Vielleicht ist Immunisierung auch der rechte Mechanismus, sich gegen solche Präskriptionen der Philosophie widerständig zu verhalten, die nun dem Menschentier wiederum das Päckchen aufbürden, das wir längst an das System abgetreten hatten. Philosophie ist Geschmackssache. Wir können die »Petrus-Regel« auch in die Ecke legen und uns wieder auf Niklas Luhmann verlassen, weil das zumindest für das strapazierte Individuum weniger schweißtreibend ist. Wer den globalen Humanitätsstandard oder das sozioökonomische Wohlergehen mit dem Maßstab des esoterischen oder neo-monastischen Trainingsniveaus der Teilnehmer der (Welt)Gesellschaft erfasst, kann kaum auf Akzeptanz hoffen. Das mag aus der exklusiven bis isolierten Perspektive von Lehre und Forschung anders erscheinen, die ihren Exzellenzanspruch im internationalen Wettbewerb durch starke Protagonisten markieren. Hochdifferenzierte Systemleistungen basieren auf gesellschaftlichen Voraussetzungen, die sich nicht in der hier propagierten Typologie des Innenweltkünstlers, des Selbstveränderers und/oder des Heimmeditators erfüllen – ja im Gegenteil geeignet sein könnten, notwendige Integrationsleistungen ausdifferenzierter Gemeinwesen zu durchkreuzen. Die menschlichen Rollen verlieren an Originalität und Bedeutung, wie nun die Soziologie der verschiedensten Provenienzen auch jenseits der Systemtheorie immer wieder erkannt hat. Das »falsche Bewusstsein« braucht keine Währungsumstellung. Letztlich weiß das auch Sloterdijk, ohne sich von seiner eigenen Enttäuschung über die Zombifikation der Verhältnisse irre machen zu lassen:

»
In einer Inflationskultur können die Menschen nicht so verrückt sein wie das System. Der Wahnsinn ist offenbar aus den Personen ausgelagert worden, als hätte man ein Verfahren gefunden, Verrücktheit zu externalisieren. Das mag einer der Gründe sein, warum ich vom Verlauf der Krise so enttäuscht bin. Man fühlt sich inmitten der planetarischen Turbulenz um das wirkliche Drama betrogen. Da ist nicht eine einzige Figur aufgetreten, die die Krise personifiziert, kein farbiger Schurke, kein Shylock, neben Alan Greenspan ist Onkel Dagobert ein Charaktertitan. Noch nie habe ich eine solche Horde von bleichen Unpersonen beisammen gesehen.«
(manager-magazin)

Das mag daran liegen, dass auch die von Heidegger konstatierten Gefahren längst
»in die Funktionale gerutscht« sind und die Schmierenkomödianten diesseits und jenseits der Exzellenz-Gesellschaft keinen Autor mehr für ihre Unstücke suchen. Anders geht es bei unserem Kanoniker weiter: »Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen«. Diese marxistisch anverwandelte Immunologie mit darwinistischen Beimischungen wird dann vom Welttrainer Sloterdijk pastoral zugeschnitten auf eine »globale Ko-Immunitätsstruktur unter respektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partikularinteressen und der lokalen Solidaritäten«. Das hätte Frau Merkel zwar nicht ganz so sagen können, weil ihr diese philotherapeutische Terminologie nicht zur Verfügung steht. Doch so großartige planetarische Entwürfe, in denen das Böse mal wieder ausgetrieben wird, brauchen wir eigentlich und uneigentlich nicht mehr, nachdem uns zuletzt Hardt/Negri in Empire die nämlichen Blütenträume präsentierten. Nicht von ungefähr kommen die Theoretiker des Empire so wie Peter Sloterdijk auf den Autoextremsportler Franz von Assisi. Im kärglichen Kapitel »Gegen den Hunger« darf man im Angesicht des zum Tode lebenden Franziskus beeindruckt sein, »von dieser Verwandlung eines Elendsfaktors in galante Allegorie«, weil dieser Heilige mit Armut zu leben wusste. Steht uns jetzt die Reanimierung von stigmatisierten und nicht nur deswegen verdächtigen Eiferern bevor, um das Weltelend in den Griff zu kriegen? Peter Sloterdijk: »Das hilflose Ganze verwandelt sich in eine protektionsfähige Einheit. An die Stelle einer Romantik der Brüderlichkeit tritt eine kooperative Logik. Menschheit wird ein politischer Begriff.« Und so fort. Die Rettung naht. Ob das »Ganze« überhaupt philosophisch fassbar ist und »Menschheit« als politischer Begriff nicht spätestens seit der französischen Revolution zu oft dekliniert respektive guillotiniert wurde, mag weniger irritieren als die eins um andere Mal behauptete Untergangstauglichkeit der Welt, die den schwächelnden philosophischen Diskurs wieder aufpäppeln soll. Die Technik des »Umlabelns« als »Umwertung der Werte« im Light-Format, die geradewegs zum Markenzeichen und Spaßgarantiefaktor von Sloterdijk wurde, hat ambivalente Qualitäten, die irgendwann in der Lektüre zu »nerven« beginnen. Denn ob sich etwa die »Brüderlichkeit« in »Kooperation« verwandelt, das ist nahezu Jacke des Hausmeisters wie Hose des Facility Managers. Zu den Trainingseinheiten gehören auch mesmeristische Denkmerkwürdigkeiten wie diese: »Am Anfang war nicht Erziehung, sondern die Verführung durch das Erstaunliche. Von der Schule des Wunders allein gehen die Wirkungen aus, die Menschen zur Sezession bewegen.« Man riecht förmlich den nostalgischen Charme des Collège de ’Pataphysique, der den Sezessionär unter dem Wunderbaum umweht, wenn er die Revolution wegen unguter Erfahrungen wenigstens terminologisch zurückstellt, ohne uns deshalb als neuer gesellschaftlicher Protagonist zu überzeugen. Was man Sloterdijk hier wie anderenorts zu gute halten muss, ist, dass er – erheblich witziger (scintillatingly witty) als die zahllosen Spiritualartisten und Mythenbrüter - den unfreiwilligen Beweis erbringt, dass Philosophie als Welterklärungsmodell mit Handlungsoption nicht mehr den Differenzierungsgrad besitzt, der die Welt ernsthaft provoziert. Wir haben es immer vermutet: Das Schicksal der Welt ist doch zu ernst, als dass man es Philosophen überlassen darf. Muss die Frage, wem man es stattdessen überlässt, gar nicht mehr beantwortet werden, wenn die autopoietische Stärke der Welt ohne ethischen Mindeststandard weiterhin locker ausreicht, Sezessionäre aller Länder und Selbstverfertiger aller Denklager zu verkraften.  

Neo-Wolpertingerlogie
Der Trainingsvorschlag, Menschen mit verbesserter Anthropotechnik Kassandra lügen zu strafen, wird für Sloterdijk deshalb verbindlich, weil er im Grunde seines rotorangefarbenen Herzens hinter allem begrifflichen Aufwand sehr elementar an das Gute glaubt, das vom Menschen bei gehöriger Anstrengung im gruppendynamischen Training generiert werden kann. Philotheosophisch erleben wir daher die Geburt eines superhybriden Neo-Wolpertingers, der so asketisch wie lustvoll, streng wie sinnlich, bhagwanistisch wie protestantisch wertethisch alle bekannten und neu entdeckten Denkmuskeln spielen lassen kann – vermutlich, weil erst die
»Sezession« vom Job, vulgo Arbeitsplatzverlust, die Welt zum nicht entfremdeten Fitness-Heterotop mutieren lässt. Das Buch könnte sein Trainingsziel verfehlen, weil Sloterdijk die kynisch-freche Vernunft nun in das saturierte Blueray-Format des kollektiven Happyends überführt – wenn man denn nur genug übt. Während in der misanthropisch gepolten Matrix die Menschen als Batterien einer Maschinenwelt missbraucht wurden, sitzen sie nun auf dem Multifunktions-Heimtrainer und strampeln sich für das kollektive Immunwohl die Beine ab. Während das erste »Buch für Keinen« erst posthum erstaunlich gut in das militante Einheitsformat des Tornisters passte, liefert der gegenwärtige Vertikaltrainer a priori bestsellernde Erbauungsliteratur mit dem Anspruch auf einen prominenten Platz im »Eastpak«, wenn es mal wieder nach Goa oder Metanoia geht. 

Wenn man Zahnschmerzen hat, helfen zwar Gottvertrauen, Nelkenöl und autogenes Training auch ein bisschen, aber künstliche Anästhetika sind, Hand aufs Herz, für geworfene Kreaturen in aktueller Bedrängnis doch allemal attraktiver. Die Entfremdungen des Selbst, die technisch gestützte Entfernung des Selbst hin zum Fremden sprechen vielleicht doch dafür, dass die Rede des letzten Menschen, er habe das Glück erfunden, dem Moralgedöns von Zarathustra auch in den nun upgedateten Trainingsversionen überlegen ist. Nietzsche war schon vor dem Aufstieg, vor den sechstausend Fuß Freeclimbing ein Cheftrainer, wenn es um Perspektiven und ihre Umkehrung ging und sei es auch nur, um sich der aufdringlichen und zumeist verlogenen Gutmenschenattitüde und dem platonischen Einheitsbrei gegebenenfalls mit noch größeren Lügen zu entziehen. Wenn Meisterdenker Sloterdijk dagegen so unkynisch weitertrainiert, ist zu besorgen, dass er die seit Hegel respektive Heideggers Rektorat vakante Stelle des Staatsdenktrainers noch vor Jürgen Habermas zugewiesen bekommt - denn etwas anderes kann sich eine von politischen, ökonomischen und intellektuellen Rezessionen gebeutelte Gesellschaft nicht wünschen, als die Spätbegeisterung für das Projekt »Menschheit« jenseits der Hartz IV-Tonnenperspektive neu zu entfachen. »Prinzip Hoffnung« reloaded. An anderer Stelle hatte Sloterdijk gesagt: »Das Nüchternwerden der Philosophie freilich liefert einen lehrreichen Befund. Es zeigt nämlich, dass die Philosophie geschichtlich nicht aus der Reihe tanzt und dass sie mit ihren besonderen Mitteln die Gesamttendenz des Zivilisationsprozesses vollstreckt. Zivilisation bedeutet in dieser Sicht die Durchsetzung von Ersatzdrogen unter Auslöschung des Bewusstseins davon, dass es sich um Ersatzdrogen handelt.« Sind Exerzitien und ihre hirnphysiologischen Kicks eben solches Methadon, um eine Welt zu ertragen, die auf die klassischen Tröstungen der Philosophie verzichtet und ihre neuen alten (Selbst)Beherrschungsfantasien verspottet? Human engineering im avancierten Verständnis könnte den »Bruder Esel« zur besser abgefederten Schnittstellenexistenz umbauen, als sie uns in den disparaten Entwürfen der Anthropotechnik und ihrer teilweise dubiosen Protagonisten erscheint. Mit weniger prätentiösem Anspruch, mit geringerem Aufwand des Selbsteinbaus in eine technisch emergente, nicht asketisch-artistisch zu befriedenden Welt mag für die menschliche Kondition noch eine kleine Zukunft bestehen. Aber das ist eine andere Geschichte, die Peter Sloterdijks Sendschreiben des wieder erstarkenden Selbst kein ebenbürtiges Pathos entgegensetzen wollte. Sollte hier die letzte, mehr als nur menschliche Chance bestehen, das Glück zu erfinden? Goedart Palm
 

Peter Sloterdijk
Du mußt dein Leben ändern

Über Anthropotechnik
Suhrkamp
723 Seiten, Gebunden
Euro 24,80 [D] / Euro 25,50 [A] / sFr 42.50
ISBN 978-3-518-41995-3

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