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Klassiker-Archiv
-Friedrich Nietzsche |
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Weimarer Klassik
Nietzsche - Chronik:
»Weiß eigentlich irgend Jemand, was mich krank machte? was mich Jahre lang in
der Nähe des Todes und im Verlangen nach dem Tode festhielt? Es scheint mir
nicht so.«
Vorausgesetzt,
dass die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass
alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber
verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der
sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche
Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass
sie sich nicht hat einnehmen lassen: - und jede Art Dogmatik steht heute mit
betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht! Denn es
giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle Dogmatik liege zu
Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten Zügen. Ernstlich geredet,
es giebt gute Gründe zu der Hoffnung, dass alles Dogmatisiren in der
Philosophie, so feierlich, so end- und letztgültig es sich auch gebärdet hat,
doch nur eine edle Kinderei und Anfängerei gewesen sein möge; und die Zeit ist
vielleicht sehr nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich
schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und unbedingten
Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker bisher aufbauten, -
irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube,
der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug
zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der
Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen,
sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die Philosophie der Dogmatiker war
hoffentlich nur ein Versprechen über Jahrtausende hinweg: wie es in noch früherer
Zeit die Astrologie war, für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld,
Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche
Wissenschaft: - man verdankt ihr und ihren "überirdischen" Ansprüchen
in Asien und Agypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass alle
grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz
einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende Fratzen über die
Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum
Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der Platonismus in Europa. Seien wir nicht
undankbar gegen sie, so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der
schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein
Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato's Erfindung vom reinen Geiste und
vom Guten an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem
Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen - Schlafs geniessen darf,
sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist, die Erben von all der Kraft,
welche der Kampf gegen diesen Irrthum grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings
die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung
alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato
gethan hat; ja man darf, als Arzt, fragen: "woher eine solche Krankheit am
schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates
verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen? und hätte
seinen Schlierling verdient?" - Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es
verständlicher und für's "Volk" zu sagen, der Kampf gegen den
christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden - denn Christenthum ist
Platonismus für's "Volk" - hat in Europa eine prachtvolle Spannung
des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so
gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich,
der europäische Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon
zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch
den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische Aufklärung: - als
welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That
erreichen dürfte, dass der Geist sich selbst nicht mehr so leicht als
"Noth" empfindet! (Die Deutschen haben das Pulver erfunden - alle
Achtung! aber sie haben es wieder quitt gemacht - sie erfanden die Presse.) Aber
wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind,
wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister - wir haben sie noch, die
ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch
den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel .....
Sils-Maria, Oberengadin
im Juni 1885.
1.
Der
Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte
Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben:
was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche
wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange
Geschichte, - und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was
Wunder, wenn wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns
ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen
lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will
eigentlich "zur Wahrheit"? - In der that, wir machten langen Halt vor
der Frage nach der Ursache dieses Willens, - bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren
Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens.
Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit?
Selbst Unwissenheit? - Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, -
oder waren wir's, die vor das Problem hin traten? Wer von uns ist hier Oedipus?
Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und
Fragezeichen. - Und sollte man's glauben, dass es uns schliesslich bedünken
will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt, - als sei es von uns zum
ersten Male gesehn, in's Auge gefasst, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei, und
vielleicht giebt es kein grösseres.
2.
"Wie
könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem
Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung? Oder die
selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder das reine sonnenhafte Schauen des
Weisen aus der Begehrlichkeit? Solcherlei Entstehung ist unmöglich; wer davon
träumt, ein Narr, ja Schlimmeres; die Dinge höchsten Werthes müssen einen
anderen, eigenen Ursprung haben, - aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden
geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar!
Vielmehr im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im
"Ding an sich" - da muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo!"
- Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die
Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen; diese Art von Werthschätzungen
steht im Hintergrunde aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem
"Glauben" heraus bemühn sie sich um ihr "Wissen", um Etwas,
das feierlich am Ende als "die Wahrheit" getauft wird. Der Grundglaube
der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe. Es ist auch den
Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu
zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten
"de omnibus dubitandum". Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es
Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen
und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben,
nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige
Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten
hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den
Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem
Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung,
dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer
Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was den
Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit
jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise
verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.
Vielleicht! - Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern!
Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten,
solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die
bisherigen, - Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. - Und
allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen.
3.
Nachdem
ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn
habe, sage ich mir: man muss noch den grössten Theil des bewussten Denkens
unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen
Denkens; man muss hier umlernen, wie man in Betreff der Vererbung und des
"Angeborenen" umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen
Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist
"Bewusstsein" in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven
entgegengesetzt, - das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine
Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller
Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthschätzungen,
deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten
Art von Leben. Zum Beispiel, dass das Bestimmte mehr werth sei als das
Unbestimmte, der Schein weniger werth als die "Wahrheit": dergleichen
Schätzungen könnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit für uns , doch
nur Vordergrunds-Schätzungen sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie
gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt nämlich,
dass nicht gerade der Mensch das "Maass der Dinge" ist .....
4.
Die
Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin
klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es
lebenfördernd, lebenerhaltend, Arterhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist;
und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile
(zu denen die synthetischen Urtheile a priori gehören) uns die
unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne
ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten,
Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl
der Mensch nicht leben könnte, - dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein
Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als
Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den
gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt,
stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.
5.
Was
dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch zu blicken,
ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind -
wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und
Kindlichkeit - sondern dass es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: während
sie allesammt einen grossen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem
der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich,
als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten,
reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht hätten (zum
Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher als sie und tölpelhafter
sind - diese reden von "Inspiration" -): während im Grunde ein
vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine "Eingebung", zumeist ein
abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher
gesuchten Gründen vertheidigt wird: - sie sind allesammt Advokaten, welche es
nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer
Vorurtheile, die sie Wahrheiten" taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit
des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten
Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen
Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Uebermuth und um ihrer selbst zu
spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant, mit der er
uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem
"kategorischen Imperativ" führen, richtiger verführen - dies
Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine kleine Belustigung darin
finden, den feinen Tücken alter Moralisten und Moralprediger auf die Finger zu
sehn. Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine
Philosophie - "die Liebe zu seiner Weisheit" zuletzt, das Wort richtig
und billig ausgelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein
den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese unüberwindliche
Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen würde: - wie viel eigne
Schüchternheit und Angreifbarkeit verräth diese Maskerade eines
einsiedlerischen Kranken!
6.
Allmählich
hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich
das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires;
insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder
Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze
Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung
davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines
Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral
will es (will er -) hinaus? Ich glaube demgemäss nicht, dass ein "Trieb
zur Erkenntniss" der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein
andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie
eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin
ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und
Kobolde -) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon
einmal Philosophie getrieben haben, - und dass jeder Einzelne von ihnen gerade
sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller
übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und
als solcher versucht er zu philosophiren. - Freilich: bei den Gelehrten, den
eigentlich wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn -
"besser", wenn man will -, da mag es wirklich so Etwas wie einen
Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut
aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe
des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen
"Interessen" des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders,
etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe
gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der
Wissenschaft gestellt wird, und ob der "hoffnungsvolle" junge Arbeiter
aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht: - es
bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem
Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine
Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist - das
heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander
gestellt sind.
7.
Wie
boshaft Philosophen sein können! Ich kenne nichts Giftigeres als den Scherz,
den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte: er nannte sie
Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im Vordergrunde
"Schmeichler des Dionysios", also Tyrannen-Zubehör und
Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen "das sind Alles
Schauspieler, daran ist nichts Ächtes" (denn Dionysokolax war eine populäre
Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist eigentlich die Bosheit,
welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn verdross die grossartige Manier, das
Sich-in-Scene-Setzen, worauf sich Plato sammt seinen Schülern verstand, -
worauf sich Epicur nicht verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in
seinem Gärtchen zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer
weiss? vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? - Es brauchte hundert Jahre,
bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur gewesen war. - Kam
es dahinter? -
8.
In
jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die "Überzeugung" des
Philosophen auf die Bühne tritt: oder, um es in der Sprache eines alten
Mysteriums zu sagen:
adventavit asinus
pulcher et fortissimus.
9.
"Gemäss
der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der
Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass,
gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und
Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die
Indifferenz selbst als Macht - wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz
leben? Leben - ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist?
Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein,
Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gemäss der Natur
leben" bedeute im Grunde soviel als "gemäss dem Leben leben" -
wie könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst
seid und sein müsst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt
den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas
Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will
der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und
einverleiben, ihr verlangt, dass sie "der Stoa gemäss" Natur sei und
möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen - als eine
ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller
eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so
hypnotisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht
mehr anders zu sehen vermögt, - und irgend ein abgründlicher Hochmuth giebt
euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass, weil ihr euch selbst zu
tyrannisiren versteht - Stoicismus ist Selbst-Tyrannei -, auch die Natur sich
tyrannisiren lässt: ist denn der Stoiker nicht ein Stück Natur? Aber dies ist
eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich
heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie
schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist
dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur
"Schaffung der Welt", zur causa prima.
10.
Der
Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen: Schlauheit, mit denen man heute
überall in Europa dem Probleme "von der wirklichen und der scheinbaren
Welt" auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu horchen; und wer hier im
Hintergrunde nur einen "Willen zur Wahrheit" und nichts weiter hört,
erfreut sich gewiss nicht der schärfsten Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen
mag wirklich ein solcher Wille zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und
abenteuernder Muth, ein Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei
betheiligt sein, der zuletzt eine Handvoll "Gewissheit" immer noch
einem ganzen Wagen voll schöner Möglichkeiten vorzieht; es mag sogar
puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein
sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist
Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele: wie tapfer
auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den stärkeren,
lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint es aber anders zu
stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und das Wort
"perspektivisch" bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie die
Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen wie die
Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt "die Erde steht
still", und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz aus
den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen Leib?) wer
weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen, das man ehemals noch
sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten Grundbesitz des Glaubens von
Ehedem, vielleicht "die unsterbliche Seele", vielleicht den alten
Gott", kurz, Ideen, auf welchen sich besser, nämlich kräftiger und
heiterer leben liess als auf den "modernen Ideen"? Es ist Misstrauen
gegen diese modernen Ideen darin, es ist Unglauben an alles Das, was gestern und
heute gebaut worden ist; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn
eingemischt, der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht
mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus auf den Markt
bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks vor der Jahrmarkts-Buntheit und
Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu
und ächt ist als diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen
skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht
geben: ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt, ist
unwiderlegt, - was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an! Das
Wesentliche an ihnen ist nicht , dass sie "zurück" wollen: sondern,
dass sie - weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr und sie würden
hinaus wollen, - und nicht zurück! -
11.
Es
scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem eigentlichen
Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt hat, den Blick
abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich selbst zugestand, klüglich
hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine
Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel in den Händen: "das ist das
Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte".
- Man verstehe doch dies "werden konnte"! er war stolz darauf, im
Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori,
entdeckt zu haben. Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die
Entwicklung und rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze
und an dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken -
und jedenfalls "neue Vermögen"! - Aber besinnen wir uns: es ist an
der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? fragte sich Kant, -
und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht
mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen
Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie
allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar
ausser sich über dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als
Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: - denn
damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht
"real-politisch". - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie;
alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, -
alle suchten nach "Vermögen". Und was fand man nicht Alles - in jener
unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche
die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man
"finden" und "erfinden" noch nicht auseinander zu halten
wusste! Vor Allem ein Vermögen für's "übersinnliche": Schelling
taufte es die intellektuale Anschauung und kam damit den herzlichsten Gelüsten
seiner im Grunde frommgelüsteten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen
und schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in
graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als
wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entrüstung behandelt;
genug, man wurde älter, - der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich die
Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man hatte geträumt: voran und
zuerst - der alte Kant. "Vermöge eines Vermögens" - hatte er gesagt,
mindestens gemeint. Aber ist denn das - eine Antwort? Eine Erklärung? Oder
nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium
schlafen? "Vermöge eines Vermögens", nämlich der virtus dormitiva -
antwortet jener Arzt bei Molière,
quia est in eo virtus dormitiva,
cujus est natura sensus assoupire.
Aber
dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich an der Zeit,
die Kantische Frage "Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?"
durch eine andre Frage zu ersetzen "warum ist der Glaube an solche Urtheile
nöthig?" - nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen
unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich
noch falsche Urtheile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich:
synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "möglich sein": wir
haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur
ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als ein Vordergrunds-Glaube
und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört. - Um zuletzt
noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche "die deutsche
Philosophie" - man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen?
- in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus
dormitiva dabei betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggängern,
Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen
Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift
gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen
Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz -"sensus
assoupire".......
12.
Was
die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den
bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in Europa Niemand
unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen Hand- und
Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel) noch eine
ernstliche Bedeutung zuzumessen - Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der,
mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des
Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben,
wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben
an das Letzte, was von der Erde "feststand", abschwören, dem Glauben
an den "Stoff", an die "Materie", an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom:
es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen
worden ist. - Man muss aber noch weiter gehn und auch dem "atomistischen
Bedürfnisse", das immer noch ein gefährliches Nachleben führt, auf
Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren "metaphysischen Bedürfnisse"
- den Krieg erklären, einen schonungslosen Krieg auf's Messer: - man muss zunächst
auch jener anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen, welche
das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der Seelen-Atomistik. Mit
diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben zu bezeichnen, der die Seele als etwas
Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt:
diesen Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns
gesagt, ganz und gar nicht nöthig, "die Seele" selbst dabei los zu
werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu
leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum
dass sie an "die Seele" rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu
neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und
Begriffe wie "sterbliche Seele" und "Seele als
Subjekts-Vielheit" und "Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und
Affekte" wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem
der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um die
Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte, hat er sich
freilich selbst gleichsam in eine neue Oede und ein neues Misstrauen hinaus
gestossen - es mag sein, dass die älteren Psychologen es bequemer und lustiger
hatten -: zuletzt aber weiss er sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt -
und, wer weiss? vielleicht zum Finden. -
13.
Die
Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen
Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine
Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist
nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. - Kurz, hier wie überall,
Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien! - wie ein solches der
Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza's -). So nämlich
gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.
14.
Es
dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine
Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine
Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne
stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als
Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein
und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit
plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, überzeugend, - es folgt ja
instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist
klar, was "erklärt"? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, -
bis so weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben
gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise,
welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter Menschen, die sich sogar
stärkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie
haben, aber welche einen höheren Triumph darin zu finden wussten, über diese
Sinne Herr zu bleiben: und dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze,
die sie über den bunten Sinnen-Wirbel - den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte -
warfen. Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und
Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die
Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antitheologen unter
den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der "kleinstmöglichen
Kraft" und der grösstmöglichen Dummheit. "Wo der Mensch nichts mehr
zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen" - das
ist freilich ein anderer Imperativ als der Platonische, welcher aber doch für
ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Brückenbauern der
Zukunft, die lauter grobe Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ
sein mag.
15.
Um
Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die
Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie:
als solche könnten sie ja keine Ursachen sein! Sensualismus mindestens somit
als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip. - Wie?
und Andere sagen gar, die Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe? Aber dann wäre
ja unser Leib, als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber
dann wären ja unsre Organe selbst - das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie mir
scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der Begriff causa
sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt nicht das Werk
unsrer Organe -?
16.
Es
giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es
"unmittelbare Gewissheiten" gebe, zum Beispiel "ich denke",
oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, "ich will": gleichsam
als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als
"Ding an sich", und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des
Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber "unmittelbare
Gewissheit", ebenso wie "absolute Erkenntniss" und "Ding an
sich", eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal
wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte
losmachen! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der
Philosoph muss sich sagen: "wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz
"ich denke" ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen
Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, - zum
Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss,
das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist,
welches als Ursache gedacht wird, dass es ein "Ich" giebt, endlich,
dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, - dass ich weiss ,
was Denken ist. Denn wenn ich nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte,
wonach sollte ich abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht
"Wollen" oder "Fühlen" sei? Genug, jenes "ich
denke" setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen
Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche , um so festzusetzen, was er ist:
wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges "Wissen" hat er für
mich jedenfalls keine unmittelbare "Gewissheit". - An Stelle jener
"unmittelbaren Gewissheit", an welche das Volk im gegebenen Falle
glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der
Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche
heissen: "Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache
und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als
Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?" Wer
sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der Erkenntniss getraut, jene
metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt:
"ich, denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss
ist" - der wird bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei
Fragezeichen bereit finden. "Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm
zu verstehen geben, es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren: aber
warum auch durchaus Wahrheit?" -
17.
Was
den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine
kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen
ungern zugestanden wird, - nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn "er"
will, und nicht wenn "ich" will; so dass es eine Fälschung des
Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt "ich" ist die Bedingung des
Prädikats "denke". Es denkt: aber dass dies "es" gerade
jenes alte berühmte "Ich" sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme,
eine Behauptung, vor Allem keine "unmittelbare Gewissheit". Zuletzt
ist schon mit diesem "es denkt" zu viel gethan: schon dies
"es" enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum
Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit
"Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig
ist, folglich -". Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere
Atomistik zu der "Kraft", die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie,
worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom; strengere Köpfe lernten
endlich ohne diesen "Erdenrest" auskommen, und vielleicht gewöhnt man
sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine
"es" (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat)
auszukommen.
18.
An
einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar
ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint, dass die hundertfach
widerlegte Theorie vom "freien Willen" ihre Fortdauer nur noch diesem
Reize verdankt -: immer wieder kommt jemand und fühlt sich stark genug, sie zu
widerlegen.
19.
Die
Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von
der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns
eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es
dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat,
was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen
und übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas,
das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte steckt das
Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen
Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger, seien wir
"unphilosophisch" -, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens eine
Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl
des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem "weg" und
"hin" selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch
ohne dass wir "Arme und Beine" in Bewegung setzen, durch eine Art
Gewohnheit, sobald wir "wollen", sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen
und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so
zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden
Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem
"Wollen" abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig
bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken,
sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando's. Das,
was "Freiheit des Willens" genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt
in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: "ich bin frei, "er" muss
gehorchen" - dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene
Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins
fixirt, jene unbedingte Werthschätzung "jetzt thut dies und nichts Anderes
Noth", jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was
Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will -,
befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es
gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist, - an diesem
so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort hat: insofern wir im
gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind, und als
Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens,
Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen;
insofern wir andererseits die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge
des synthetischen Begriffs "ich" hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen,
hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und
folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst angehängt, -
dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen genüge zur
Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die
Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte,
so hat sich der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine
Nothwendigkeit von Wirkung gäbe; genug, der Wollende glaubt, mit einem
ziemlichen Grad von Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien -, er
rechnet das Gelingen, die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und
geniesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit
sich bringt. "Freiheit des Willens" - das ist das Wort für jenen
vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem
Ausführenden als Eins setzt, - der als solcher den Triumph über Widerstände
mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich
die Widerstände überwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der
ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren "Unterwillen"
oder Unter-Seelen - unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen -
zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu. L'effet c'est moi: es begiebt sich
hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen Gemeinwesen begiebt, dass
die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des Gemeinwesens identificirt. Bei
allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der
Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler "Seelen":
weshalb ein Philosoph sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter
den Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den
Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen
"Leben" entsteht. -
20.
Dass
die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes
sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, dass
sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens
anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen
Glieder der Fauna eines Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie
sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen
Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie
immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie mögen sich noch so unabhängig
von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen: irgend
Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter
einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe.
Ihr Denken ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen,
Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten
Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen
sind: - Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die
wunderliche Familien-Ahnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen
Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft
vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie
der Grammatik - ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch
gleiche grammatische Funktionen - von vornherein Alles für eine gleichartige
Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt:
ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie
abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der
Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit grosser
Wahrscheinlichkeit anders "in die Welt" blicken und auf andern Pfaden
zu finden sein, als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter
grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer
Werthurtheile und Rasse-Bedingungen. - So viel zur Zurückweisung von Locke's
Oberflächlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen.
21.
Die
causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist,
eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des
Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem
Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach "Freiheit des Willens", in
jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen
der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte
Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt,
Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts
Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen'schen
Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in's Dasein zu
ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten
Begriffs "freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte
ich ihn nunmehr, seine "Aufklärung" noch um einen Schritt weiter zu
treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus
seinem Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf
einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht
"Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die
Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt -) gemäss
der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und
stossen lässt, bis sie "Wirkt"; man soll sich der
"Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe
bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung,
der Verständigung, nicht der Erklärung. Im "An-sich" giebt es nichts
von "Causal-Verbänden", von "Nothwendigkeit", von
"psychologischer Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die
Ursache", das regiert kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die
Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die
Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn
wir diese Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten,
hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben,
nämlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im
wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen. - Es ist
fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein
Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und
"psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen,
Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu fühlen, -
die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe,
von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief persönliche
Weise die "Unfreiheit des Willens" als Problem gefasst: die Einen
wollen um keinen Preis ihre "Verantwortlichkeit", den Glauben an sich,
das persönliche Anrecht auf ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören
dahin -); die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld
sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich selbst
irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie Bücher
schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art von socialistischem
Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der
Willensschwachen verschönert sich erstaunlich, wenn er sich als "la
religion de la souffrance humaine" einzuführen versteht: es ist sein
"guter Geschmack".
22.
Man
vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen
kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen - aber jene
"Gesetzmässigkeit der Natur", von der ihr Physiker so stolz redet,
wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten
"Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein "Text",
vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der
ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt!
"Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur hat es darin nicht anders
und nicht besser als wir": ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal
die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche,
insgleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. Ni dieu, ni maître"
- so wollt auch ihr's.- und darum "hoch das Naturgesetz"! - nicht
wahr? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte
Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst,
aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade
die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen
herauszulesen verstünde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und
Unbedingtheit in allem "Willen zur Macht" dermaassen euch vor Augen
stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort "Tyrannei"
schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher -
als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von
dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass sie einen
"nothwendigen" und "berechenbaren" Verlauf habe, aber nicht,
weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede
Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies
nur Interpretation ist - und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? -
nun, um so besser. -
23.
Die
gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen
geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und
Entwicklungslehre des Willens zur Macht zufassen, wie ich sie fasse - daran hat
noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift: sofern es nämlich erlaubt
ist, in dem, was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher
verschwiegen wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief
in die geistigste, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste Welt
gedrungen - und, wie es sich von selbst versteht, schädigend, hemmend,
blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten
Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat "das Herz"
gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der
"guten" und der "schlimmen" Triebe, macht, als feinere
Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und Überdruss,
- noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den
schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht,
Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-Haushalte
des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch
gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, - der
leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und
doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und fremdeste in
diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher Erkenntnisse: - und es
giebt in der That hundert gute Gründe dafür, dass Jeder von ihm fernbleibt,
der es - kann! Andrerseits: ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin
verschlagen, nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen
aufgemacht! die Hand fest am Steuer! - wir fahren geradewegs über die Moral
weg, wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität,
indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, - aber was liegt an uns! Niemals
noch hat sich verwegenen Reisenden und Abenteurern eine tiefere Welt der
Einsicht eröffnet: und der Psychologe, welcher dergestalt "Opfer
bringt" - es ist nicht das sacrifizio dell'intelletto, im Gegentheil! -
wird zum Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als
Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die
übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu
den Grundproblemen.
Zweites Hauptstück:
Der
freie Geist.
24.
O sancta simplicitas!
In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch! Man
kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich erst einmal die Augen für dies
Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und
einfach gemacht! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche,
unserm Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und Fehlschlüssen
zu geben! - wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsre Unwissenheit zu
erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit,
Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu
geniessen! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von
Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen
auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen,
zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern - als seine
Verfeinerung! Mag nämlich auch die Sprache, hier wie anderwärts, nicht über
ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen zu reden, wo es
nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt; mag ebenfalls die
eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt zu unserm unüberwindlichen
"Fleisch und Blut" gehört, uns Wissenden selbst die Worte im Munde
umdrehen: hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die
beste Wissenschaft uns am besten in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen,
zurecht gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie
unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, - das Leben
liebt!#
25.
Nach
einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht überhört werden:
es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der
Erkenntniss, und hütet euch vor dem Martyrium! Vor dem Leiden "um der
Wahrheit willen"! Selbst vor der eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem
Gewissen alle Unschuld und feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen
Einwände und rothe Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im
Kampfe mit Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen
Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit auf Erden
ausspielen müsst: - als ob "die Wahrheit" eine so harmlose und täppische
Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte! und gerade euch, ihr Ritter
von der traurigsten Gestalt, meine Herren Eckensteher und Spinneweber des
Geistes! Zuletzt wisst ihr gut genug, dass nichts daran liegen darf, ob gerade
ihr Recht behaltet, ebenfalls dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten
hat, und dass eine preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen
liegen dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und
gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen Gebärden und
Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen! Geht lieber bei Seite! Flieht in's
Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele! Oder
ein Wenig fürchte! Und vergesst mir den Garten nicht, den Garten mit goldenem
Gitterwerk! Und habt Menschen um euch, die wie ein Garten sind, - oder wie Musik
über Wassern, zur Zeit des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird: - wählt
die gute Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch
ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben! Wie giftig,
wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich nicht mit offener
Gewalt führen lässt! Wie persönlich macht eine lange Furcht, ein langes
Augenmerk auf Feinde, auf mögliche Feinde! Diese Ausgestossenen der
Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten, - auch die
Zwangs-Einsiedler, die Spinoza's oder Giordano Bruno's - werden zuletzt immer,
und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst
es wissen, zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal
den Grund der Ethik und Theologie Spinoza's auf!) - gar nicht zu reden von der Tölpelei
der moralischen Entrüstung, welche an einem Philosophen das unfehlbare Zeichen
dafür ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des
Philosophen, seine "Aufopferung für die Wahrheit" zwingt an's Licht
heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass
man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in
Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich begreiflich sein,
ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn (entartet zum "Märtyrer",
zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals). Nur dass man sich, mit einem solchen
Wunsche, darüber klar sein muss, was man jedenfalls dabei zu sehen bekommen
wird: - nur ein Satyrspiel, nur eine Nachspiel-Farce, nur den fortwährenden
Beweis dafür, dass die lange eigentliche Tragödie zu Ende ist: vorausgesetzt,
dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragödie war. -
26.
Jeder
auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er
von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst ist, wo er die Regel
"Mensch" vergessen darf, als deren Ausnahme: - den Einen Fall
ausgenommen, dass er von einem noch stärkeren Instinkte geradewegs auf diese
Regel gestossen wird, als Erkennender im grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer
nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und
grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert,
der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt alle
diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr immerdar aus und
bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg versteckt, nun, so ist Eins
gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als
solcher würde er eines Tages sich sagen müssen "hole der Teufel meinen
guten Geschmack! aber die Regel ist interessanter als die Ausnahme, - als ich,
die Ausnahme!" - und würde sich hinab begeben, vor Allem
"hinein". Das Studium des durchschnittlichen Menschen, lang,
ernsthaft, und zu diesem Zwecke viel Verkleidung, Selbstüberwindung,
Vertraulichkeit, schlechter Umgang - jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser
dem mit Seines-Gleichen -: das macht ein nothwendiges Stück der
Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, übelriechendste,
an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück, wie es einem Glückskinde
der Erkenntniss geziemt, so begegnet er eigentlichen Abkürzern und
Erleichterern seiner Aufgabe, - ich meine sogenannten Cynikern, also Solchen,
welche das Thier, die Gemeinheit, die "Regel" an sich einfach
anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um über
sich und ihres Gleichen vor Zeugen reden zu müssen: - mitunter wälzen sie sich
sogar in Büchern wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in
welcher gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere
Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren aufzumachen und
sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne
Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut werden. Es giebt sogar Fälle, wo
zum Ekel sich die Bezauberung mischt: da nämlich, wo an einen solchen
indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist,
wie bei dem Abbé Galiani, dem tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch
schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts - er war viel tiefer als Voltaire und
folglich auch ein gut Theil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, dass,
wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein feiner
Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, - unter Ärzten und
Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und wo nur Einer ohne
Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als von einem Bauche mit
zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit Einem; überall wo Jemand immer nur
Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn will , als
seien es die eigentlichen und einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen;
kurz, wo man "schlecht" vom Menschen redet - und nicht einmal schlimm
-, da soll der Liebhaber der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll
seine Ohren überhaupt dort haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der
entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst (oder,
zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) zerreisst und
zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und
selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der gewöhnlichere,
gleichgültigere, unbelehrendere Fall. Und Niemand lügt soviel als der Entrüstete.
-
27.
Es
ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und
lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati
oder besten Falles "nach der Gangart des Frosches" mandeikagati - ich
thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden? - und man soll schon für
den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich
sein. Was aber "die guten Freunde" anbetrifft, welche immer zu bequem
sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so
thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses
zuzugestehn: - so hat man noch, zu lachen; - oder sie ganz abzuschaffen, diese
guten Freunde, - und auch zu lachen!
28.
Was
sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen lässt, ist
das tempo ihres Stils: als welcher im Charakter der Rasse seinen Grund hat,
physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo ihres
"Stoffwechsels". Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die beinahe
Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des Originals, bloss weil
sein tapferes und lustiges tempo nicht mit übersetzt werden konnte, welches über
alles Gefährliche in Dingen und Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist
beinahe des Presto in seiner Sprache unfähig: also, wie man billig schliessen
darf, auch vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien,
freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd ist, in
Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius unübersetzbar.
Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe, alle langwierigen und
langweiligen Gattungen des Stils sind bei den Deutschen in überreicher
Mannichfaltigkeit entwickelt, - man vergebe mir die Thatsache, dass selbst
Goethe's Prosa, in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme
macht, als ein Spiegelbild der "alten guten Zeit", zu der sie gehört,
und als Ausdruck des deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen
"deutschen Geschmack" gab: der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et
artibus. Lessing macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles
verstand und sich auf Vieles verstand: er, der nicht umsonst der Übersetzer
Bayle's war und sich gerne in die Nähe Diderot's und Voltaire's, noch lieber
unter die römischen Lustspieldichter flüchtete: - Lessing liebte auch im tempo
die Freigeisterei, die Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche
Sprache, und sei es selbst in der Prosa eines Lessing, das tempo Macchiavell's
nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von Florenz athmen
lässt und nicht umhin kann, die ernsteste Angelegenheit in einem unbändigen
Allegrissimo vorzutragen: vielleicht nicht ohne ein boshaftes Artisten-Gefühl
davon, welchen Gegensatz er wagt, - Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich,
und ein tempo des Galopps und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich
dürfte gar eine deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend
ein grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in Erfindungen,
Einfällen, Worten: - was liegt zuletzt an allen Sümpfen der kranken, schlimmen
Welt, auch der "alten Welt", wenn man, wie er, die Füsse eines Windes
hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn eines Windes, der Alles gesund
macht, indem er Alles laufen macht! Und was Aristophanes angeht, jenen verklärenden,
complementären Geist, um dessentwillen man dem ganzen Griechenthum verzeiht,
dass es da war, gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, was da Alles der
Verzeihung, der Verklärung bedarf: - so wüsste ich nichts, was mich über
Plato's Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat träumen lassen als jenes glücklich
erhaltene petit falt: dass man unter dem Kopfkissen seines Sterbelagers keine
"Bibel" vorfand, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, -
sondern den Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten - ein
griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, - ohne einen Aristophanes! -
29.
Es
ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: - es ist ein Vorrecht der
Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte dazu, aber ohne es zu müssen,
beweist damit, dass er wahrscheinlich nicht nur stark, sondern bis zur
Ausgelassenheit verwegen ist. Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt
die Gefahren, welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht
die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt,
vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens
zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so geschieht es so ferne
vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht fühlen und mitfühlen: - und
er kann nicht mehr zurück! er kann auch zum Mitleiden der Menschen nicht mehr
zurück! - -
30.
Unsre
höchsten Einsichten müssen - und sollen! - wie Thorheiten, unter Umständen
wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche
nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische,
wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen,
Persern und Muselmännern, kurz überall, wo man eine Rangordnung und nicht an
Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, - das hebt sich nicht sowohl dadurch von
einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von
innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das Wesentlichere ist, dass er von
Unten hinauf die Dinge sieht, - der Esoteriker aber von Oben herab! Es giebt Höhen
der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken;
und, alles Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob
sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur Verdoppelung des
Wehs verführen und zwingen werde? ... Was der höheren Art von Menschen zur
Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr unterschiedlichen und geringeren
Art beinahe Gift sein. Die Tugenden des gemeinen Manns würden vielleicht an
einem Philosophen Laster und Schwächen bedeuten; es wäre möglich, dass ein
hochgearteter Mensch, gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst
dadurch in den Besitz von Eigenschaften käme, derentwegen man nöthig hätte,
ihn in der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen zu
verehren. Es giebt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen umgekehrten
Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere Lebenskraft oder aber
die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen: im ersten Falle sind es gefährliche,
anbröckelnde, auflösende Bücher, im anderen Heroldsrufe, welche die
Tapfersten zu ihrer Tapferkeit herausfordern. Allerwelts-Bücher sind immer übelriechende
Bücher: der Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt,
selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehn,
wenn man reine Luft athmen will. - -
31.
Man
verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche
den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es billigerweise hart büssen,
solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja und Nein überfallen zu haben. Es ist
Alles darauf eingerichtet, dass der schlechteste aller Geschmäcker, der
Geschmack für das Unbedingte grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der
Mensch lernt, etwas Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen
den Versuch zu wagen: wie es die rechten Artisten des Lebens thun. Das Zornige
und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine Ruhe zu geben,
bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gefälscht hat, dass es sich an
ihnen auslassen kann: - Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches.
Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich
endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und
wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nunmehr,
wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange
Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei! In
diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Gefühl;
man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, ja man fühlt schon das gute
Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als Selbst-Verschleierung und Ermüdung der
feineren Redlichkeit; und vor Allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei
gegen "die Jugend". - Ein Jahrzehend später: und man begreift, dass
auch dies Alles noch - Jugend war!
32.
Die
längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch - man nennt sie die prähistorische
Zeit - wurde der Werth oder der Unwerth einer Handlung aus ihren Folgen
abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei ebensowenig als ihre Herkunft in
Betracht, sondern ungefähr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder
Schande vom Kinde auf die Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende
Kraft des Erfolgs oder Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder
schlecht von einer Handlung zu denken. Nennen wir diese Periode die
vormoralische Periode der Menschheit: der Imperativ "erkenne dich
selbst!" war damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist
man hingegen auf einigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt so weit
gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der Handlung über ihren
Werth entscheiden zu lassen: ein grosses Ereigniss als Ganzes, eine erhebliche
Verfeinerung des Blicks und Maassstabs, die unbewusste Nachwirkung von der
Herrschaft aristokratischer Werthe und des Glaubens an "Herkunft", das
Abzeichen einer Periode, welche man im engeren Sinne als die moralische
bezeichnen darf: der erste Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht.
Statt der Folgen die Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! Und sicherlich
eine erst nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung! Freilich:
ein verhängnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenthümliche Engigkeit der
Interpretation kam eben damit zur Herrschaft: man interpretirte die Herkunft
einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft aus einer Absicht; man
wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth einer Handlung im Werthe ihrer
Absicht belegen sei. Die Absicht als die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer
Handlung: unter diesem Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden
moralisch gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. - Sollten wir
aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals über eine
Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schlüssig zu machen, Dank einer
nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen, - sollten wir nicht an
der Schwelle einer Periode stehen, welche, negativ, zunächst als die
aussermoralische zu, bezeichnen wäre: heute, wo wenigstens unter uns
Immoralisten der Verdacht sich regt, dass gerade in dem, was nicht-absichtlich
an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre
Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, "bewusst" werden
kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, - welche, wie jede Haut, Etwas
verräth, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, dass die Absicht nur ein
Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu
Vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet, - dass Moral, im
bisherigen Sinne, also Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine
Voreiligkeit, eine Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der
Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die
Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbstüberwindung
der Moral: mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den
feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als
lebendigen Probirsteinen der Seele, vorbehalten blieb. -
33.
Es
hilft nichts: man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung für den Nächsten,
die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos zur Rede stellen und vor
Gericht führen: ebenso wie die Aesthetik der "interesselosen
Anschauung", unter welcher sich die Entmännlichung der Kunst verführerisch
genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht. Es ist viel zu viel Zauber und
Zucker in jenen Gefühlen des "für Andere", des "nicht für
mich", als dass man nicht nöthig hätte, hier doppelt misstrauisch zu
werden und zu fragen: "sind es nicht vielleicht - Verführungen?" -
Dass sie gefallen - Dem, der sie hat, und Dem, der ihre Früchte geniesst, auch
dem blossen Zuschauer, - dies giebt noch kein Argument für sie ab, sondern
fordert gerade zur Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig!
34.
Auf
welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder
Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir zu leben
glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann:
- wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein
betrügerisches Princip im "Wesen der Dinge" verlocken möchten. Wer
aber unser Denken selbst, also "den Geist" für die Falschheit der
Welt verantwortlich macht - ein ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder
unbewusste advocatus dei geht -: wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt,
Bewegung, als falsch erschlossen nimmt: ein Solcher hätte mindestens guten
Anlass, gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen: hätte es uns
nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt? und welche Bürgschaft dafür
gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es immer gethan hat? In allem
Ernste: die Unschuld der Denker hat etwas Rührendes und Ehrfurcht Einflössendes,
welche ihnen erlaubt, sich auch heute noch vor das Bewusstsein hinzustellen, mit
der Bitte, dass es ihnen ehrliche Antworten gebe: zum Beispiel ob es
"real" sei, und warum es eigentlich die äussere Welt sich so
entschlossen vom Halse halte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Glaube
an "unmittelbare Gewissheiten" ist eine moralische Naivetät, welche
uns Philosophen Ehre macht: aber - wir sollen nun einmal nicht "nur
moralische" Menschen sein! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube eine
Dummheit, die uns wenig Ehre macht! Mag im bürgerlichen Leben das allzeit
bereite Misstrauen als Zeichen des "schlechten Charakters" gelten und
folglich unter die Unklugheiten gehören: hier unter uns, jenseits der bürgerlichen
Welt und ihres Ja's und Nein's, - was sollte uns hindern, unklug zu sein und zu
sagen: der Philosoph hat nachgerade ein Recht auf "schlechten
Charakter", als das Wesen, welches bisher auf Erden immer am besten genarrt
worden ist, - er hat heute die Pflicht zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen
aus jedem Abgrunde des Verdachts heraus. - Man vergebe mir den Scherz dieser düsteren
Fratze und Wendung: denn ich selbst gerade habe längst über Betrügen und
Betrogenwerden anders denken, anders schätzen gelernt und halte mindestens ein
paar Rippenstösse für die blinde Wuth bereit, mit der die Philosophen sich
dagegen sträuben, betrogen zu werden. Warum nicht? Es ist nicht mehr als ein
moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar
die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich
doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde
perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der
tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die
"scheinbare Welt" ganz abschlaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, -
so bliebe mindestens dabei auch von eurer "Wahrheit" nichts mehr übrig!
Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz
von "wahr" und "falsch" giebt? Genügt es nicht, Stufen der
Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und
Gesammttöne des Scheins, - verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu
reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -, nicht eine Fiktion sein?
Und wer da fragt: "aber zur Fiktion gehört ein Urheber?" - dürfte
dem nicht rund geantwortet werden: Warum? Gehört dieses "Gehört"
nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie
gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich
der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle
Achtung vor den Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die
Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte? -
35.
Oh
Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn! Mit der "Wahrheit", mit dem
Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es dabei gar zu
menschlich treibt - "il ne cherche le vrai que pour faire le bien" -
ich wette, er findet nichts!
36.
Gesetzt,
dass nichts Anderes als real "gegeben" ist als unsre Welt der
Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen "Realität"
hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe - denn Denken
ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander - : ist es nicht erlaubt, den
Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht ausreicht, um
aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder
"materielle") Welt zu verstehen? Ich meine nicht als eine Täuschung,
einen "Schein", eine "Vorstellung" (im Berkeley'schen und
Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom gleichen Realitäts-Range, welchen
unser Affekt selbst hat, - als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in
der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im
organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt
und abschwächt -), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche
organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung,
Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind, - als eine
Vorform des Lebens? - Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu
machen: es ist, vom Gewissen der Methode aus, geboten. Nicht mehrere Arten von
Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen
auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist (- bis zum Unsinn,
mit Verlaub zu sagen): das ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht
entziehen darf; - es folgt "aus ihrer Definition", wie ein
Mathematiker sagen würde. Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als
wirkend anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das
- und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Causalität selbst -,
so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die
einzige zu setzen. "Wille" kann natürlich nur auf "Wille"
wirken - und nicht auf "Stoffe" (nicht auf "Nerven" zum
Beispiel -): genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo
"Wirkungen" anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht
alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben
Willenskraft, Willens-Wirkung ist. - Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser
gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des
Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie es in ein Satz ist -;
gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen
könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es
ist Ein Problem - fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle
wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen
gesehen, die Welt auf ihren "intelligiblen Charakter" hin bestimmt und
bezeichnet - sie wäre eben "Wille zur Macht" und nichts ausserdem. -
37.
"Wie?
Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht
-?" Im Gegentheil! Im Gegentheil, meine Freunde! Und, zum Teufel auch, wer
zwingt euch, populär zu reden! -
38.
Wie
es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der französischen
Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und, aus der Nähe beurtheilt, überflüssigen
Posse, in welche aber die edlen und schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa
aus der Ferne her so lange und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und
Begeisterungen hinein interpretirt haben, bis der Text unter der Interpretation
verschwand: so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit
missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen. -
Oder vielmehr: ist dies nicht bereits geschehen? waren wir nicht selbst - diese
"edle Nachwelt"? Und ist es nicht gerade jetzt, insofern wir dies
begreifen, - damit vorbei?
39.
Niemand
wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht, oder tugendhaft
macht, deshalb für wahr halten: die lieblichen "Idealisten" etwa
ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne schwärmen und in ihrem Teiche
alle Arten von bunten plumpen und gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander
schwimmen lassen. Glück und Tugend sind keine Argumente. Man vergisst aber
gerne, auch auf Seiten besonnener Geister, dass Unglücklich-machen und Böse-machen
ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich im höchsten
Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst zur
Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen
Erkenntniss zu Grunde gienge, - so dass sich die Stärke eines Geistes darnach
bemässe, wie viel er von der "Wahrheit" gerade noch aushielte,
deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüsst,
verdumpft, verfälscht nöthig hätte. Aber keinem Zweifel unterliegt es, dass für
die Entdeckung gewisser Theile der Wahrheit die Bösen und Unglücklichen begünstigter
sind und eine grössere Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben; nicht zu reden
von den Bösen, die glücklich sind, - eine Species, welche von den Moralisten
verschwiegen wird. Vielleicht, dass Härte und List günstigere Bedingungen zur
Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und Philosophen abgeben, als jene
sanfte feine nachgebende Gutartigkeit und Kunst des Leicht-nehmens, welche man
an einem Gelehrten schätzt und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran
steht, dass man den Begriff "Philosoph" nicht auf den Philosophen
einengt, der Bücher schreibt - oder gar seine Philosophie in Bücher bringt! -
Einen letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt Stendhal
bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht unterlassen will zu
unterstreichen: - denn er geht wider den deutschen Geschmack.
"Pour
être bon philosophe", sagt dieser letzte grosse Psycholog, "il faut
être sec, clair, sans illusion. Un banquier, qui a fait fortune, a une partie
du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c'est-'á-dire
pour voir clair dans ce qui est."
40.
Alles,
was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass
auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung
sein, in der die Scham eines Gottes einhergienge? Eine fragwürdige Frage: es wäre
wunderlich, wenn nicht irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte.
Es giebt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu
verschütten und unkenntlich zu machen; es giebt Handlungen der Liebe und einer
ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher ist, als einen Stock
zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln: damit trübt man dessen Gedächtniss.
Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtniss zu trüben und zu
misshandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben: -
die Scham ist erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich
am schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, - es giebt
so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas
Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes
altes schwerbeschlagenes Weinfass durch's Leben rollte: die Feinheit seiner
Scham will es so. Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch
seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je
gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht
wissen dürfen: seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine
wieder eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das
Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der
Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an
seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt; und
gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn,
dass es trotzdem dort eine Maske von ihm giebt, - und dass es gut so ist. Jeder
tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend
eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes
Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt. -
41.
Man
muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur Unabhängigkeit und zum
Befehlen bestimmt ist; und dies zur rechten Zeit. Man soll seinen Proben nicht
aus dem Wege gehn, obgleich sie vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das
man spielen kann, und zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor
keinem anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben:
und sei sie die geliebteste, - jede Person ist ein Gefängniss, auch ein Winkel.
Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das leidendste und hülfbedürftigste,
- es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu
binden. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren
Menschen, in deren seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken
lassen. Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie Einen mit den
kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an seiner eignen
Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des Vogels,
der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr unter sich zu sehn: - die
Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als
Ganzes das Opfer irgend einer Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer
"Gastfreundschaft": wie es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten
und reichen Seelen ist, welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich
selbst umgehn und die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss
wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.
42.
Eine
neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht
ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe, so wie sie sich
errathen lassen - denn es gehört zu ihrer Art, irgend worin Räthsel bleiben zu
wollen -, möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein
Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist
zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.
43.
Sind
es neue Freunde der "Wahrheit", diese kommenden Philosophen?
Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten.
Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss ihnen wider den Stolz
gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für
Jedermann sein soll: was bisher der geheime Wunsch und Hintersinn aller
dogmatischen Bestrebungen war. "Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat
nicht leicht auch ein Anderer das Recht" - sagt vielleicht solch ein
Philosoph der Zukunft. Man muss den schlechten Geschmack von sich abthun, mit
Vielen übereinstimmen zu wollen. "Gut" ist nicht mehr gut, wenn der
Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein "Gemeingut"
geben! Das Wort widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur
wenig Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand: die grossen
Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die Tiefen, die
Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und Kurzen, alles
Seltene für die Seltenen. -
44.
Brauche ich nach alledem
noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, sehr freie Geister sein werden, diese
Philosophen der Zukunft, - so gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein
werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das
nicht verkannt und verwechselt werden will? Aber, indem ich dies sage, fühle
ich fast ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und
Vorläufer sind, wir freien Geister! - die Schuldigkeit, ein altes dummes
Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen, welches
allzulange wie ein Nebel den Begriff "freier Geist" undurchsichtig
gemacht hat. In allen Ländern Europa's und ebenso in Amerika giebt es jetzt
Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, eine sehr enge, eingefangne, an
Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen,
was in unsern Absichten und Instinkten liegt, - nicht zu reden davon, dass sie
in Hinsicht auf jene heraufkommenden neuen Philosophen erst recht zugemachte
Fenster und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm,
unter die Nivellirer, diese fälschlich genannten "freien Geister" -
als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner
"modernen Ideen": allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne
Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch achtbare Sitte
abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und zum Lachen oberflächlich
sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten
Gesellschaft ungefähr die Ursache für alles menschliche Elend und Missrathen
zu sehn: wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehn kommt! Was sie mit
allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der
Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für
Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und Lehren heissen
"Gleichheit der Rechte" und "Mitgefühl für alles
Leidende", - und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das
man abschaffen muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für
die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze "Mensch" am
kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter
den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner
Lage erst in's Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein
"Geist" -) unter langem Druck und Zwang sich in's Feine und Verwegene
entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden
musste: - wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der
Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei
jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und
Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species "Mensch"
dient, als sein Gegensatz: - wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so
viel sagen, und befinden uns jedenfalls, mit unserm Reden und Schweigen an
dieser Stelle, am andern Ende aller modernen Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit:
als deren Antipoden vielleicht? Was Wunder, dass wir "freien Geister"
nicht gerade die mittheilsamsten Geister sind? dass wir nicht in jedem Betrachte
zu verrathen wünschen, wovon ein Geist sich frei machen kann und wohin er dann
vielleicht getrieben wird? Und was es mit der gefährlichen Formel
"jenseits von Gut und Böse" auf sich hat, mit der wir uns zum
Mindesten vor Verwechslung behüten: wir sind etwas Anderes als
"libres-penseurs", "liberi pensatori",
"Freidenker" und wie alle diese braven Fürsprecher der "modernen
Ideen" sich zu benennen lieben. In vielen Ländern des Geistes zu Hause,
mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft,
in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern,
oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit
gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder Ämtern,
oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar gegen Noth und
wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem
"Vorurtheil" losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schlaf und Wurm in
uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen
Fingern für Unfassbares, mit Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste,
bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu
jedem Wagniss, Dank einem Überschusse von "freiem Willen", mit
Vorder- und Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht,
mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte,
Verborgene unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich Erben und
Verschwendern gleich sehn, Ordner und Sammler von früh bis Abend, Geizhälse
unsres Reichthums und unsrer vollgestopften Schubfächer, haushälterisch im
Lernen und Vergessen, erfinderisch in Schematen, mitunter stolz auf
Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten, mitunter Nachteulen der Arbeit auch am
hellen Tage; ja, wenn es noth thut, selbst Vogelscheuchen - und heute thut es
noth: nämlich insofern wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde
der Einsamkeit sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten
Einsamkeit: - eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister! und
vielleicht seid auch ihr etwas davon, ihr Kommenden? ihr neuen Philosophen? -
Drittes Hauptstück:
Das
religiöse Wesen.
45.
Die
menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte Umfang
menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen dieser
Erfahrungen, die ganze bisherige Geschichte der Seele und ihre noch
unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen geborenen Psychologen und
Freund der "grossen Jagd" das vorbestimmte Jagdbereich. Aber wie oft
muss er sich verzweifelt sagen: "ein Einzelner! ach, nur ein Einzelner! und
dieser grosse Wald und Urwald!" Und so wünscht er sich einige hundert
Jagdgehülfen und feine gelehrte Spürhunde, welche er in die Geschichte der
menschlichen Seele treiben könnte, um dort sein Wild zusammenzutreiben.
Umsonst: er erprobt es immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu
allen Dingen, die gerade seine Neugierde reizen, Gehülfen und Hunde zu finden
sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche
Jagdbereiche auszuschicken, wo Muth, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne noth
thun, liegt darin, dass sie gerade dort nicht mehr brauchbar sind, wo die
"grosse Jagd", aber auch die grosse Gefahr beginnt: - gerade dort
verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum Beispiel zu errathen und
festzustellen, was für eine Geschichte bisher das Problem von Wissen und
Gewissen in der Seele der homines religiosi gehabt hat, dazu müsste Einer
vielleicht selbst so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das
intellektuelle Gewissen Pascal's war: und dann bedürfte es immer noch jenes
ausgespannten Himmels von heller, boshafter Geistigkeit, welcher von Oben herab
dies Gewimmel von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu
ordnen, in Formeln zu zwingen vermöchte. - Aber wer thäte mir diesen Dienst!
Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten! - sie wachsen ersichtlich zu
selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich! Zuletzt muss man Alles
selber thun, um selber Einiges zu wissen: das heisst, man hat viel zu thun! -
Aber eine Neugierde meiner Art bleibt nun einmal das angenehmste aller Laster, -
Verzeihung! ich wollte sagen: die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel
und schon auf Erden. -
46.
Der
Glaube, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten erreicht hat,
inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen Welt, die einen
Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen hinter sich und in sich hatte,
hinzugerechnet die Erziehung zur Toleranz, welche das imperium Romanum gab, -
dieser Glaube ist nicht jener treuherzige und bärbeissige Unterthanen-Glaube,
mit dem etwa ein Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des
Geistes an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben; viel eher scholl jener
Glaube Pascal's, der auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der
Vernunft ähnlich sieht, - einer zähen langlebigen wurmhaften Vernunft, die
nicht mit Einem Male und Einem Streiche todtzumachen ist. Der christliche Glaube
ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller
Selbstgewissheit des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung,
Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönicismus in diesem
Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel verwöhnten, Gewissen zugemuthet
wird: seine Voraussetzung ist, dass die Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich
wehe thut, dass die ganze Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes
sich gegen das Absurdissimum wehrt, als welches ihm der "Glaube"
entgegentritt. Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle
christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr
nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel "Gott am
Kreuze" lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche Kühnheit
im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie
diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe. - Es ist der
Orient, der tiefe Orient, es ist der orientalische Sklave, der auf diese Weise
an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen
"Katholicismus" des Glaubens Rache nahm: - und immer war es nicht der
Glaube, sondern die Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde
Unbekümmertheit um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn,
gegen ihre Herrn empört hat. Die "Aufklärung" empört: der Sklave nämlich
will Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er liebt
wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz, bis zur Krankheit,
- sein vieles verborgenes Leiden empört sich gegen den vornehmen Geschmack, der
das Leiden zu leugnen scheint. Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine
Attitude der aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der
Entstehung des letzten grossen Sklaven-Aufstandes betheiligt, welcher mit der
französischen Revolution begonnen hat.
47.
Wo nur auf
Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden wir sie verknüpft
mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit, Fasten und
geschlechtlicher Enthaltsamkeit, - doch ohne dass hier mit Sicherheit zu
entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und ob hier überhaupt ein
Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege. Zum letzten Zweifel berechtigt,
dass gerade zu ihren regelmässigsten Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern,
auch die plötzlichste ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche dann,
ebenso plötzlich, in Busskrampf und Welt- und Willens-Verneinung umschlägt:
beides vielleicht als maskirte Epilepsie deutbar? Aber nirgendswo sollte man
sich der Deutungen mehr entschlagen: um keinen Typus herum ist bisher eine
solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner scheint bisher die
Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessirt zu haben, - es wäre an der
Zeit, hier gerade ein Wenig kalt zu werden, Vorsicht zu lernen, besser noch:
wegzusehn, wegzugehn. - Noch im Hintergrunde der letztgekommenen Philosophie,
der Schopenhauerischen, steht, beinahe als das Problem an sich, dieses
schauerliche Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist
Willensverneinung möglich? wie ist der Heilige möglich? - das scheint wirklich
die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer zum Philosophen wurde und
anfieng. Und so war es eine ächt Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester
Anhänger (vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betrifft -), nämlich
Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte und zuletzt
noch jenen furchtbaren und ewigen Typus als Kundry auf der Bühne vorführte,
type vécu, und wie er leibt und lebt; zu gleicher Zeit, wo die Irrenärzte fast
aller Länder Europa's einen Anlass hatten, ihn aus der Nähe zu studiren, überall,
wo die religiöse Neurose - oder, wie ich es nenne, "das religiöse
Wesen" - als "Heilsarmee" ihren letzten epidemischen Ausbruch und
Aufzug gemacht hat. - Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen
des Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so unbändig
interessant gewesen ist: so ist es ohne allen Zweifel der ihm, anhaftende
Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren Aufeinanderfolge von Gegensätzen,
von moralisch entgegengesetzt gewertheten Zuständen der Seele: man glaubte hier
mit Händen zu greifen, dass aus einem "schlechten Menschen" mit Einem
Male ein "Heiliger", ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie
litt an dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen
sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, weil sie an
die moralischen Werth-Gegensätze selbst glaubte, und diese Gegensätze in den
Text und Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein deutete? - Wie? Das
"Wunder" nur ein Fehler der Interpretation? Ein Mangel an Philologie?
-
48.
Es
scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel innerlicher zugehört,
als uns Nordländern das ganze Christentum überhaupt: und dass folglich der
Unglaube in katholischen Ländern etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in
protestantischen - nämlich eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während
er bei uns eher eine Rückkehr zum Geist (oder Ungeist -) der Rasse ist. Wir
Nordländer stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf
unsere Begabung zur Religion: wir sind schlecht für sie begabt. Man darf die
Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die Aufnahme der
christlichen Infektion im Norden abgegeben haben: - in Frankreich kam das
christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne des Nordens erlaubt hat, zum
Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind unserm Geschmack selbst diese letzten
französischen Skeptiker noch, sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft
ist! Wie katholisch, wie undeutsch riecht uns Auguste Comte's Sociologie mit
ihrer römischen Logik der Instinkte! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und
kluge Cicerone von Port-Royal, Sainte-Beuve, trotz all seiner
Jesuiten-Feindschaft! Und gar Ernest Renan: wie unzugänglich klingt uns Nordländern
die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke irgend ein Nichts von
religiöser Spannung seine in feinerem Sinne wollüstige und bequem sich
bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt! Man spreche ihm einmal diese schönen
Sätze nach, - und was für Bosheit und Übermuth regt sich sofort in unserer
wahrscheinlich weniger schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als
Antwort! -"disons donc hardiment que la religion est un produit de l'homme
normal, que l'homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et
le plus assuré d'une destinée infinie .... C'est
quand il est bon qu'il veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c'est
quand il contemple les choses d'une manière désintéressée qu'il trouve la
mort révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c'est dans ces
moments-là, que l'homme voit le mieux? . . . ." Diese Sätze sind
meinen Ohren und Gewohnheiten so sehr antipodisch, dass, als ich sie fand, mein
erster Ingrimm daneben schrieb "la niaiserie religieuse par
excellence!" - bis mein letzter Ingrimm sie gar noch lieb gewann, diese Sätze
mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit! Es ist so artig, so auszeichnend,
seine eignen Antipoden zu haben!
49.
Das, was
an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle
von Dankbarkeit, welche sie ausströmt: - es ist eine sehr vornehme Art Mensch,
welche so vor der Natur und vor dem Leben steht! - Später, als der Pöbel in
Griechenland zum Übergewicht kommt, überwuchert die Furcht auch in der
Religion; und das Christenthum bereitete sich vor.-
50.
Die
Leidenschaft für Gott: es giebt bäurische, treuherzige und zudringliche Arten,
wie die Luther's, - der ganze Protestantismus entbehrt der südlichen
delicatezza. Es giebt ein orientalisches Aussersichsein darin, wie bei einem
unverdient begnadeten oder erhobenen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf
eine beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden ermangelt.
Es giebt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin, welche schamhaft
und unwissend nach einer unio mystica et physica drängt: wie bei Madame de
Guyon. In vielen Fällen erscheint sie wunderlich genug als Verkleidung der
Pubertät eines Mädchens oder Jünglings; hier und da selbst als Hysterie einer
alten Jungfer, auch als deren letzter Ehrgeiz: - die Kirche hat das Weib schon
mehrfach in einem solchen Falle heilig gesprochen.
51.
Bisher
haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend vor dem Heiligen
gebeugt, als dem Räthsel der Selbstbezwingung und absichtlichen letzten
Entbehrung: warum beugten sie sich? Sie ahnten in ihm - und gleichsam hinter dem
Fragezeichen seines gebrechlichen und kläglichen Anscheins - die überlegene
Kraft, welche sich an einer solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des
Willens, in der sie die eigne Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten
und zu ehren wussten: sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten. Es
kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn eingab: ein solches
Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird nicht umsonst begehrt worden
sein, so sagten und fragten sie sich. Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine
ganz grosse Gefahr, über welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und
Besuchern, näher unterrichtet sein möchte? Genug, die Mächtigen der Welt
lernten vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden,
noch unbezwungenen Feind: - der "Wille zur Macht" war es, der sie nöthigte,
vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn fragen - -
52.
Im jüdischen
"alten Testament", dem Buche von der göttlichen Gerechtigkeit, giebt
es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen Stile, dass das griechische und
indische Schriftenthum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit
Schrecken und Ehrfurcht vor diesen ungeheuren Überbleibseln dessen, was der
Mensch einstmals war, und wird dabei über das alte Asien und sein
vorgeschobenes Halbinselchen Europa, das durchaus gegen Asien den
"Fortschritt des Menschen" bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken
haben. Freilich: wer selbst nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur
Hausthier-Bedürfnisse kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen
des "gebildeten" Christenthums hinzugenommen -), der hat unter jenen
Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben - der Geschmack am
alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf "Gross" und
"Klein" -: vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch von der
Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen findet (in ihm ist viel von dem
rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder- und Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue
Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten
Testament zu Einem Buche zusammengeleimt zu haben, als "Bibel", als
"das Buch an sich": das ist vielleicht die grösste Verwegenheit und
"Sünde wider den Geist", welche das litterarische Europa auf dem
Gewissen hat.
53.
Warum
heute Atheismus? - "Der Vater" in Gott ist gründlich widerlegt;
ebenso "der Richter", "der Belohner". Insgleichen sein
"freier Wille": er hört nicht, - und wenn er hörte, wüsste er
trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich
mitzutheilen: ist er unklar? - Dies ist es, was ich, als Ursachen für den
Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend,
hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass zwar der religiöse
Instinkt mächtig im Wachsen ist, - dass er aber gerade die theistische
Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt.
54.
Was thut
denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes - und zwar mehr aus
Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs - macht man seitens aller
Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer
Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriffs - das heisst: ein Attentat auf die
Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine
erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich:
obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich
glaubte man an "die Seele", wie man an die Grammatik und das
grammatische Subjekt glaubte: man sagte, "Ich" ist Bedingung,
"denke" ist Prädikat und bedingt - Denken ist eine Thätigkeit, zu
der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun versuchte man, mit einer
bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus
könne, - ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: "denke"
Bedingung, "Ich" bedingt; "Ich" also erst eine Synthese,
welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant wollte im Grunde beweisen,
dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, - das Objekt auch
nicht: die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, also "der
Seele", mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als
Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen
ist.
55.
Es giebt
eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen Sprossen; aber drei
davon sind die wichtigsten. Einst opferte man seinem Gotte Menschen, vielleicht
gerade solche, welche man am besten liebte, - dahin gehören die Erstlings-Opfer
aller Vorzeit-Religionen, dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der
Mithrasgrotte der Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen
Anachronismen. Dann, in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man
seinem Gotte die stärksten Instinkte, die man besass, seine "Natur";
diese Festfreude glänzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten
"Wider-Natürlichen". Endlich: was blieb noch übrig zu opfern? Musste
man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung,
allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und
Gerechtigkeiten opfern? musste man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit
gegen sich, den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts
anbeten? Für das Nichts Gott opfern - dieses paradoxe Mysterium der letzten
Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart:
wir Alle kennen schon etwas davon. -
56.
Wer,
gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht
hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halb christlichen, halb
deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert
zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerischen Philosophie;
wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die
weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat -
jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann
und Wahne der Moral -, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich
wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des
übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur
mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so
wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da
capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und
nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies
Schauspiel nöthig hat - und nöthig macht: weil er immer wieder sich nöthig
hat - und nöthig macht - - Wie? Und dies wäre nicht - circulus vitiosus deus?
57.
Mit der
Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der
Raum um den Menschen: seine Welt wird tiefer, immer neue Sterne, immer neue Räthsel
und Bilder kommen ihm in Sicht. Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes
seinen Scharfsinn und Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung,
eine Sache des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen
uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und gelitten
worden ist, die Begriffe "Gott" und "Sünde", nicht
wichtiger, als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz
erscheint, - und vielleicht hat dann "der alte Mensch" wieder ein
andres Spielzeug und einen andren Schmerz nöthig, - immer noch Kinds genug, ein
ewiges Kind!
58.
Hat man
wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen Leben (und sowohl zu
seiner mikroskopischen Lieblings-Arbeit der Selbstprüfung, als zu jener zarten
Gelassenheit, welche sich "Gebet" nennt und eine beständige
Bereitschaft für das "Kommen Gottes" ist) der äussere Müssiggang
oder Halb-Müssiggang noth thut, ich meine der Müssiggang mit gutem Gewissen,
von Alters her, von Geblüt, dem das Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist,
dass Arbeit schändet, - nämlich Seele und Leib gemein macht? Und dass folglich
die moderne, lärmende, Zeit-auskaufende, auf sich stolze, dumm-stolze
Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum "Unglauben" erzieht
und vorbereitet? Unter Denen, welche zum Beispiel jetzt in Deutschland abseits
von der Religion leben, finde ich Menschen von vielerlei Art und Abkunft der
"Freidenkerei", vor Allem aber eine Mehrzahl solcher, denen
Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösen Instinkte aufgelöst
hat: so dass sie gar nicht mehr wissen, wozu Religionen nütze sind, und nur mit
einer Art stumpfen Erstaunens ihr Vorhandensein in der Welt gleichsam
registriren. Sie fühlen sich schon reichlich in Anspruch genommen, diese braven
Leute, sei es von ihren Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht
zu reden vom "Vaterlande" und den Zeitungen und den "Pflichten
der Familie": es scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig
haben, zumal es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft
oder ein neues Vergnügen handelt, - denn unmöglich, sagen sie sich, geht man
in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie sind keine Feinde
der religiösen Gebräuche; verlangt man in gewissen Fällen, etwa von Seiten
des Staates, die Betheiligung an solchen Gebräuchen, so thun sie, was man
verlangt, wie man so Vieles thut -, mit einem geduldigen und bescheidenen Ernste
und ohne viel Neugierde und Unbehagen: - sie leben eben zu sehr abseits und
ausserhalb, um selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nöthig
zu finden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der deutschen
Protestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den arbeitsamen grossen
Handels- und Verkehrscentren; ebenfalls die Überzahl der arbeitsamen Gelehrten
und der ganze Universitäts-Zubehör (die Theologen ausgenommen, deren Dasein
und Möglichkeit daselbst dem Psychologen immer mehr und immer feinere Räthsel
zu rathen giebt). Man macht sich selten von Seiten frommer oder auch nur
kirchlicher Menschen eine Vorstellung davon, wieviel guter Wille, man könnte
sagen, willkürlicher Wille jetzt dazu gehört, dass ein deutscher Gelehrter das
Problem der Religion ernst nimmt; von seinem ganzen Handwerk her (und, wie
gesagt, von der handwerkerhaften Arbeitsamkeit her, zu welcher ihn sein modernes
Gewissen verpflichtet) neigt er zu einer überlegenen, beinahe gütigen
Heiterkeit gegen die Religion, zu der sich bisweilen eine leichte Geringschätzung
mischt, gerichtet gegen die "Unsauberkeit" des Geistes, welche er überall
dort voraussetzt, wo man sich, noch zur Kirche bekennt. Es gelingt dem Gelehrten
erst mit Hülfe der Geschichte (also nicht von seiner persönlichen Erfahrung
aus), es gegenüber den Religionen zu einem ehrfurchtsvollen Ernste und zu einer
gewissen scheuen Rücksicht zu bringen; aber wenn er sein Gefühl sogar bis zur
Dankbarkeit gegen sie gehoben hat, so ist er mit seiner Person auch noch keinen
Schritt weit dem, was noch als Kirche oder Frömmigkeit besteht, näher
gekommen: vielleicht umgekehrt. Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse
Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei ihm zur
Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die Berührung mit religiösen
Menschen und Dingen scheut; und es kann gerade die Tiefe seiner Toleranz und
Menschlichkeit sein, die ihn vor dem feinen Nothstande ausweichen heisst,
welchen das Toleriren selbst mit sich bringt. - Jede Zeit hat ihre eigene göttliche
Art von Naivetät, um deren Erfindung sie andre Zeitalter beneiden dürfen: -
und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt tölpelhafte
Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des Gelehrten, im guten
Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen schlichten Sicherheit, mit der
sein Instinkt den religiösen Menschen als einen minderwerthigen und niedrigeren
Typus behandelt, über den er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist, - er,
der kleine anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-flinke Kopf- und
Handarbeiter der "Ideen", der "modernen Ideen"!
59.
Wer tief
in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die
Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig,
leicht und falsch zu sein. Man findet hier und da eine leidenschaftliche und übertreibende
Anbetung der "reinen Formen", bei Philosophen wie bei Künstlern: möge
Niemand zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche nöthig hat,
irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter sie gethan hat. Vielleicht
giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder, der geborenen Künstler,
welche den Genuss des Lebens nur noch in der Absicht finden, sein Bild zu fälschen
(gleichsam in einer langwierigen Rache am Leben -), auch noch eine Ordnung des
Ranges: man könnte den Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus
abnehmen, bis wie weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht
zu sehn wünschen, - man könnte die homines religiosi mit unter die Künstler
rechnen, als ihren höchsten Rang. Es ist die tiefe argwöhnische Furcht vor
einem unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen
in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes
Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte,
ehe der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist.... Die Frömmigkeit,
das "Leben in Gott", mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als
die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung
und -Trunkenheit vor der consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur
Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis
jetzt kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als eben
Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche, Farbenspiel,
Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet. -
60.
Den
Menschen zu lieben um Gottes Willen - das war bis jetzt das vornehmste und
entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist. Dass die Liebe zum
Menschen ohne irgendeine heiligende Hinterabsicht eine Dummheit und Thierheit
mehr ist, dass der Hang zu dieser Menschenliebe erst von einem höheren Hange
sein Maass, seine Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen
hat: - welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und
"erlebt" hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie
versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle Zeiten
heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten bisher geflogen und
am schönsten sich verirrt hat!
61.
Der
Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister als der Mensch der umfänglichsten
Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen
hat: dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und
Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und
wirthschaftlichen Zustände bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das
heisst immer ebensowohl der zerstörende als der schöpferische und gestaltende
Einfluss, welcher mit Hülfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach
der Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein
vielfacher und verschiedener. Für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen,
Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft und Kunst einer
regierenden Rasse leibhaft wird, ist, Religion ein Mittelmehr, um Widerstände
zu überwinden, um herrschen zu können: als ein Band, das Herrscher und
Unterthanen gemeinsam bindet und die Gewissen der Letzteren, ihr Verborgenes und
Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verräth
und überantwortet; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen Herkunft,
durch hohe Geistigkeit, einem abgezogeneren und beschaulicheren Leben sich
zuneigen und nur die feinste Artung des Herrschens (über ausgesuchte Jünger
oder Ordensbrüder) sich vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt
werden, sich Ruhe vor dem Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und
Reinheit vor dem nothwendigen Schmutz alles Politik-Machens zu schaffen. So
verstanden es zum Beispiel die Brahmanen: mit Hülfe einer religiösen
Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu ernennen, während
sie sich selber abseits und ausserhalb hielten und fühlten, als die Menschen höherer
und überköniglicher Aufgaben. Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile
der Beherrschten Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und
Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und Ständen nämlich,
in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und Lust des Willens, der Wille
zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen ist: - ihnen bietet die Religion Anstösse
und Versuchungen genug, die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle
der grossen Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben: -
Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und
Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr
werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet. Den gewöhnlichen
Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen und zum allgemeinen Nutzen
da sind und nur insofern dasein dürfen, giebt die Religion eine unschätzbare
Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine
Veredelung des Gehorsams, ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas
von Verklärung und Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags,
der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Religion und
religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche immer geplagte
Menschen und macht ihnen selbst den eigenen Anblick erträglich, sie wirkt, wie
eine epikurische Philosophie auf Leidende höheren Ranges zu wirken pflegt,
erquickend, verfeinernd, das Leiden gleichsam ausnützend, zuletzt gar heiligend
und rechtfertigend. Vielleicht ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig
als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine
höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der
wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, - und gerade diese Härte
thut Noth! - bei sich festzuhalten.
62.
Zuletzt
freilich, um solchen Religionen auch die schlimme Gegenrechnung zu machen und
ihre unheimliche Gefährlichkeit an's Licht zu stellen: - es bezahlt sich immer
theuer und fürchterlich, wenn Religionen nicht als Züchtungs- und
Erziehungsmittel in der Hand des Philosophen, sondern von sich aus und souverän
walten, wenn sie selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln
sein wollen. Es giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss
von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden; die
gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in
Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht festgestellte Thier ist, die spärliche
Ausnahme. Aber noch schlimmer: je höher geartet der Typus eines Menschen ist,
der durch ihn dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit,
dass er geräth: das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten Haushalte
der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in seiner zerstörerischen
Wirkung auf die höheren Menschen, deren Lebensbedingungen fein, vielfach und
schwer auszurechnen sind. Wie verhalten sich nun die genannten beiden grössten
Religionen zu diesem Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu
erhalten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie
nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben
allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten
es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich
werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben
allen anderen auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des
Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesammt-Abrechnung gehören
die bisherigen, nämlich souveränen Religionen zu den Hauptursachen, welche den
Typus "Mensch" auf einer niedrigeren Stufe festhielten, - sie
erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte. Man hat ihnen Unschätzbares
zu danken; und wer ist reich genug an Dankbarkeit, um nicht vor alle dem arm zu
werden, was zum Beispiel die "geistlichen Menschen" des Christenthums
bisher für Europa gethan haben! Und doch, wenn sie den Leidenden Trost, den
Unterdrückten und Verzweifelnden Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt
gaben und die Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg
in Klöster und seelische Zuchthäuser lockten: was mussten sie ausserdem thun,
um mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken
und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an der Verschlechterung der europäischen
Rasse zu arbeiten? Alle Werthschätzungen auf den Kopf stellen - das mussten
sie! Und die Starken zerbrechen, die grossen Hoffnungen ankränkeln, das Glück
in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde,
Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgerathensten
Typus "Mensch" zu eigen sind, in Unsicherheit, Gewissens-Noth,
Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft
über die Erde in Hass gegen die Erde und das Irdische verkehren - das stellte
sich die Kirche zur Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung
endlich "Entweltlichung", "Entsinnlichung" und "höherer
Mensch" in Ein Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, dass man mit dem spöttischen
und unbetheiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich schmerzliche
und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen Christenthums zu überschauen
vermöchte, ich glaube, man fände kein Ende mehr zu staunen und zu lachen:
scheint es denn nicht, dass Ein Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte
geherrscht hat, aus dem Menschen eine sublime Missgeburt zu machen? Wer aber mit
umgekehrten Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgend einem göttlichen
Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung und Verkümmerung des
Menschen zuträte, wie sie der christliche Europäer ist (Pascal zum Beispiel),
müsste er da nicht mit Grimm, mit Mitleid, mit Entsetzen schreien: "Oh ihr
Tölpel, ihr anmaassenden mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht! War das
eine Arbeit für eure Hände! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen
und verhunzt! Was nahmt ihr euch heraus!" - Ich wollte sagen: das
Christenthum war bisher die verhängnissvollste Art von Selbst-Überhebung.
Menschen, nicht hoch und hart genug, um am Menschen als Künstler gestalten zu dürfen;
Menschen, nicht stark und fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen
Selbst-Bezwingung, das Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Missrathens und
Zugrundegehns walten zu lassen ; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich
verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen: -
solche Menschen haben, mit ihrem "Gleich vor Gott", bisher über dem
Schicksale Europa's gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche
Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges,
herangezüchtet ist, der heutige Europäer ...
Viertes Hauptstück:
Sprüche
und Zwischenspiele.
63.
64.
"Die
Erkenntniss um ihrer selbst willen" - das ist der letzte Fallstrick, den
die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie.
65.
Der Reiz
der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden
wäre.
65 a.
Man ist am
unehrlichsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!
66.
Die
Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten zu lassen, könnte
die Scham eines Gottes unter Menschen sein.
67.
Die Liebe
zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller Übrigen ausgeübt.
Auch die Liebe zu Gott.
68.
"Das
habe ich gethan" sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben -
sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das Gedächtniss nach.
69.
Man hat
schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand gesehn hat, die auf
eine schonende Weise - tödtet.
70.
Hat man
Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt.
71.
Der Weise
als Astronom. - So lange du noch die Sterne fühlst als ein "Über-dir",
fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.
72.
Nicht die
Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die hohen Menschen.
73.
Wer sein
Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus.
73a.
Mancher
Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif - und heisst es seinen Stolz.
74.
Ein Mensch
mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch zweierlei dazu
besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit.
75.
Grad und
Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel
seines Geistes hinauf.
76.
Unter
friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.
77.
Mit seinen
Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder rechtfertigen oder
ehren oder beschimpfen oder verbergen: - zwei Menschen mit gleichen Grundsätzen
wollen damit wahrscheinlich noch etwas Grund-Verschiedenes.
78.
Wer sich
selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.
79.
Eine
Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren
Bodensatz: - ihr Unterstes kommt herauf.
80.
Eine
Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. - Was meinte jener
Gott, welcher anrieth: "erkenne dich selbst"! Hiess es vielleicht:
"höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!" - Und Sokrates? -
Und der "wissenschaftliche Mensch"? -
81.
Es ist
furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich eure Wahrheit
so salzen, dass sie nicht einmal mehr - den Durst löscht?
82.
"Mitleiden
mit Allen" - wäre Härte und Tyrannei mit dir, mein Herr Nachbar! -
83.
Der
Instinkt. - Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das Mittagsessen. - Ja:
aber man holt es auf der Asche nach.
84.
Das Weib
lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern - verlernt.
85.
Die
gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden: deshalb hören
Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn.
86.
Die Weiber
selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit immer noch ihre
unpersönliche Verachtung - für das Weib".
87.
Gebunden
Herz, freier Geist. - Wenn man sein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man
seinem Geist viele Freiheiten geben: ich sagte das schon Ein Mal. Aber man
glaubt mir's nicht, gesetzt, dass man's nicht schon weiss .....
88.
Sehr
klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen werden.
89.
Fürchterliche
Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt, nicht etwas Fürchterliches
ist.
90.
Schwere,
Schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre schwer macht, durch
Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an ihre Oberfläche.
91.
So kalt,
so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt! Jede Hand erschrickt, die
ihn anfasst! - Und gerade darum halten Manche ihn für glühend.
92.
Wer hat
nicht für seinen guten Ruf schon einmal - sich selbst geopfert? -
93.
In der
Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum allzuviel von
Menschenverachtung.
94.
Reife des
Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim
Spiel.
95.
Sich
seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende
man sich auch seiner Moralität schämt.
96.
Man soll
vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, - mehr segnend als
verliebt.
97.
Wie? Ein
grosser Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines eignen Ideals.
98.
Wenn man
sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es beisst.
99.
Der Enttäuschte
spricht. - "Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte nur Lob -"
100.
Vor uns
selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind: wir ruhen uns so von
unsern Mitmenschen aus.
101.
Heute möchte
sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes fühlen.
102.
Gegenliebe
entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte Wesen ernüchtern.
"Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben? Oder dumm genug? Oder
- oder -"
103.
Die Gefahr
im Glücke. - "Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr liebe ich jedes
Schicksal: - wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?"
104.
Nicht ihre
Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von
heute, uns - zu verbrennen.
105.
Dem freien
Geiste, dem "Frommen der Erkenntniss" - geht die pia fraus noch mehr
wider den Geschmack (wider seine "Frömmigkeit") als die impia fraus.
Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum Typus "freier
Geist" gehört, - als seine Unfreiheit.
106.
Vermöge
der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst.
107.
Wenn der
Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten Gegengrund zu
schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur
Dummheit.
108.
Es giebt
gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen
.....
109.
Der
Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er verkleinert und
verleumdet sie.
110.
Die
Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne
Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.
111.
Unsre
Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben unser Stolz
verletzt wurde.
112.
Wer sich
zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem sind alle Gläubigen
zu lärmend und zudringlich: er erwehrt sich ihrer.
113.
"Du
willst ihn für dich einnehmen? So stelle dich vor ihm verlegen -"
114.
Die
ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe, und die Scham in dieser
Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle Perspektiven.
115.
Wo nicht
Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig.
116.
Die
grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth gewinnen, unser Böses
als unser Bestes umzutaufen.
117.
Der Wille,
einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder
mehrer anderer Affekte.
118.
Es giebt
eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch nicht in den Sinn
gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden.
119.
Der Ekel
vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns zu reinigen, - uns
zu "rechtfertigen".
120.
Die
Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die Wurzel schwach
bleibt und leicht auszureissen ist.
121.
Es ist
eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte
- und dass er es nicht besser lernte.
122.
Sich über
ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des Herzens - und gerade
das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes.
123.
Auch das
Concubinat ist corrumpirt worden: - durch die Ehe.
124.
Wer auf
dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über den Schmerz, sondern
darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn erwartete. Ein Gleichniss.
125.
Wenn wir
über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Unbequemlichkeit hart
an, die er uns damit macht.
126.
Ein Volk
ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen Männern zu kommen. -
Ja: und um dann um sie herum zu kommen.
127.
Allen
rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen dabei zu Muthe,
als ob man damit ihnen unter die Haut, - schlimmer noch! unter Kleid und Putz
gucken wolle.
128.
Je
abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die
Sinne zu ihr verführen.
129.
Der Teufel
hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er sich von ihm so fern:
- der Teufel nämlich als der älteste Freund der Erkenntniss.
130.
Was jemand
ist , fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent nachlässt, - wenn er aufhört,
zu zeigen, was er kann. Das Talent ist auch ein Putz; ein Putz ist auch ein
Versteck.
131.
Die
Geschlechter täuschen sich über einander: das macht, sie ehren und lieben im
Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes ideal, um es gefälliger auszudrücken
-). So will der Mann das Weib friedlich, - aber gerade das Weib ist wesentlich
unfriedlich, gleich der Katze, so gut es sich auch auf den Anschein des Friedens
eingeübt hat.
132.
Man wird
am besten für seine Tugenden bestraft.
133.
Wer den
Weg zu seinem Ideale nicht zu finden weiss, lebt leichtsinniger und frecher, als
der Mensch ohne Ideal.
134.
Von den
Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller
Augenschein der Wahrheit.
135.
Der Pharisäismus
ist nicht eine Entartung am guten Menschen: ein gutes Stück davon ist vielmehr
die Bedingung von allem Gut-sein.
136.
Der Eine
sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre Einen, dem er helfen
kann: so entsteht ein gutes Gespräch.
137.
Im
Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in umgekehrter
Richtung: man findet hinter einem merkwürdigen Gelehrten nicht selten einen
mittelmässigen Menschen, und hinter einem mittelmässigen Künstler sogar oft -
einen sehr merkwürdigen Menschen.
138.
Wir machen
es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und erdichten erst den Menschen,
mit dem wir verkehren - und vergessen es sofort.
139.
In der
Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann.
140.
Rath als Räthsel.
- "Soll das Band nicht reissen, - musst du erst drauf beissen."
141.
Der
Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen
Gott hält.
142.
Das
züchtigste Wort, das ich gehört habe: "Dans le véritable amour c'est l'âme,
qui enveloppe le corps."
143.
Was wir am
besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade als Das gelte, was
uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher Moral.
144.
Wenn ein
Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer
Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer
gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich, mit Verlaub,
"das unfruchtbare Thier".
145.
Mann und
Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen: das Weib hätte nicht das Genie des
Putzes, wenn es nicht den Instinkt der zweiten Rolle hätte.
146.
Wer mit
Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn
du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
147.
Aus alten
florentinischen Novellen, überdies - aus dem Leben: buona femmina e mala
femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.
148.
Den Nächsten
zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese Meinung des Nächsten
gläubig glauben: wer thut es in diesem Kunststück den Weibern gleich? -
149.
Was eine
Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer Nachschlag dessen,
was ehemals als gut empfunden wurde, - der Atavismus eines älteren Ideals.
150.
Um den
Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum Alles zum
Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles - wie? vielleicht zur "Welt"?
-
151.
Ein Talent
haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu haben, - wie? meine
Freunde?
152.
"Wo
der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies": so reden die ältesten
und die jüngsten Schlangen.
153.
Was aus
Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.
154.
Der
Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust sind
Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die Pathologie.
155.
Der Sinn für
das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.
156.
Der
Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, - aber bei Gruppen, Parteien, Völkern,
Zeiten die Regel.
157.
Der
Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über
manche böse Nacht hinweg.
158.
Unserm stärksten
Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsre Vernunft, sondern
auch unser Gewissen.
159.
Man muss
vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der Person, die uns Gutes
oder Schlimmes that?
160.
Man liebt
seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt.
161.
Die
Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus.
162.
"Unser
Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar" - so denkt jedes
Volk.
163.
Die Liebe
bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines Liebenden an's Licht, -
sein Seltenes, Ausnahmsweises: insofern täuscht sie leicht über Das, was Regel
an ihm ist.
164.
Jesus
sagte zu seinen Juden: "das Gesetz war für Knechte, - liebt Gott, wie ich
ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!" -
165.
Angesichts
jeder Partei. - Ein Hirt hat immer auch noch einen Leithammel nöthig, - oder er
muss selbst gelegentlich Hammel sein.
166.
Man lügt
wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch noch
die Wahrheit.
167.
Bei harten
Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham - und etwas Kostbares.
168.
Das
Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: - er starb zwar nicht daran, aber
entartete, zum Laster.
169.
Viel von
sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen.
170.
Im Lobe
ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel.
171.
Mitleiden
wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an
einem Cyklopen.
172.
Man umarmt
aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht Alle umarmen kann):
aber gerade Das darf man dem Beliebigen nicht verrathen .....
173.
Man hasst
nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn man gleich oder höher
schätzt.
174.
Ihr
Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk eurer Neigungen, -
auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?
175.
Man liebt
zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.
176.
Die
Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie wider unsre
Eitelkeit geht.
177.
Ober Das,
was "Wahrhaftigkeit" ist, war vielleicht noch Niemand wahrhaftig
genug.
178.
Klugen
Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse an Menschenrechten!
179.
Die Folgen
unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir
uns inzwischen "gebessert" haben.
180.
Es giebt
eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache
ist.
181.
Es ist
unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird.
182.
Die
Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden
darf. -
183.
"Nicht
dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert."
-
184.
Es giebt
einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt.
185.
Fünftes Hauptstück:
Zur
Naturgeschichte der Moral.
186.
Die
moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar,
raffinirt, als die dazu gehörige "Wissenschaft der Moral" noch jung,
anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: - ein anziehender Gegensatz, der
bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird.
Schon das Wort "Wissenschaft der Moral" ist in Hinsicht auf Das, was
damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den guten Geschmack:
welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man
sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth
thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials,
begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle
und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, - und,
vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser
lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, - als Vorbereitung zu einer
Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden. Die
Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von
sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich
mit der Moral als Wissenschaft befassten: sie wollten die Begründung der Moral,
- und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die
Moral selbst aber galt als "gegeben". Wie ferne lag ihrem plumpen
Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer
Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein
könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur
gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung
kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres
Zeitgeistes, ihres Klima's und Erdstriches, - gerade dadurch, dass sie in
Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst
wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar
nicht zu Gesichte: - als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen
auftauchen. In aller bisherigen "Wissenschaft der Moral" fehlte, so
wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der
Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen
"Begründung der Moral" nannten und von sich forderten, war, im
rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die
herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst
innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art
Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: - und jedenfalls
das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses
Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen
Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine
Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer "Wissenschaft", deren
letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden: - "das
Princip, sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über
dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes,
quantum potes, juva - das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle
Sittenlehrer sich abmühen .... das eigentliche Fundament der Ethik, welches man
wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht." - Die Schwierigkeit,
den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein - bekanntlich ist
es auch Schopenhauern damit nicht geglückt -; und wer einmal gründlich nachgefühlt
hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt,
deren Essenz Wille zur Macht ist -, der mag sich daran erinnern lassen, dass
Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich - die Flöte blies.... Täglich,
nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt: ein
Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, der vor der Moral Haltmacht, - der zur
Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das
eigentlich - ein Pessimist?
187.
Abgesehn
noch vom Werthe solcher Behauptungen wie "es giebt in uns einen
kategorischen Imperativ", kann man immer noch fragen: was sagt eine solche
Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber
vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit
sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an's Kreuz schlagen und
demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit
andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral
dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich
vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische
Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner
Moral zu verstehn: "was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen
kann, - und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!" - kurz, die
Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.
188.
Jede Moral
ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die
"Natur", auch gegen die "Vernunft": das ist aber noch kein
Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral
aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das
Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist:
um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man
sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und
Freiheit gebracht, - des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus.
Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! -
einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein
unerbittliches Gewissen wohnt - "um einer Thorheit willen", wie
utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, - "aus Unterwürfigkeit
gegen Willkür-Gesetze", wie die Anarchisten sagen, die sich damit
"frei", selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist
aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und
meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem
Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und überreden, in den Künsten
ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der "Tyrannei solcher
Willkür-Gesetze" entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit
dafür ist nicht gering, dass gerade dies "Natur" und "natürlich"
sei - und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl
des Sichgehen-lassens sein "natürlichster" Zustand ist, das freie
Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der
"Inspiration", - und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen
Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte
und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas
Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges -). Das Wesentliche, "im Himmel und
auf Erden", wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer
Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus,
dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst,
Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, - irgend etwas Verklärendes, Raffinirtes,
Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische
Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker
auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter
aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was
geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott
noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen, - all dies
Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als
das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke,
seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde:
zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt,
erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich
"die Natur", wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und
gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass
Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen
-heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der "Etwas beweisen
will" -, dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres
strengsten Nachdenkens herauskommen sollte , etwa wie ehemals bei der
asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen
christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse "zu
Ehren Gottes" und "zum Heil der Seele": - diese Tyrannei, diese
Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen; die
Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das
unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral
darauf hin ansehn: die "Natur" in ihr ist es, welche das laisser
aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten
Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, - welche die Verengerung der
Perspektive, und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und
Wachsthums-Bedingung lehrt. "Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf
lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir
selbst" - dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein,
welcher freilich weder "kategorisch" ist, wie es der alte Kant von ihm
verlangte (daher das "sonst" -), noch an den Einzelnen sich wendet
(was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände,
vor Allem aber an das ganze Thier "Mensch", an den Menschen.
189.
Die
arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu
ertragen: es war ein Meisterstück des englischen Instinktes, den Sonntag in dem
Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder
unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird: - als eine Art klug
erfundenen, klug eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken
Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern,
nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit -). Es muss Fasten von vielerlei Art geben;
und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die
Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb
in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte
aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend
einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs-
und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber
auch sich reinigen und schärfen lernt; auch einzelne philosophische Sekten (zum
Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit
aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine
derartige Auslegung. - Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons
gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst
unter dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur
Liebe (amour-passion) sublimirt hat.
190.
Es giebt
Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich
nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte sagen, trotz Plato: nämlich
der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war. "Keiner will sich
selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. Denn der
Schlechte fügt sich selbst Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste,
dass das Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem
Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn notwendig -
gut." - Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel, der am
Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und eigentlich urtheilt
"es ist dumm, schlecht zu handeln"; während er "gut" mit
"nützlich und angenehm" ohne Weiteres als identisch nimmt. Man darf
bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen gleichen Ursprung
rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre gehn. - Plato hat Alles
gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu
interpretiren, vor Allem sich selbst -, er, der verwegenste aller Interpreten,
der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse
nahm, um es in's Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine
eignen Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu
homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht
191.
Das alte
theologische Problem von "Glauben" und "Wissen" - oder,
deutlicher, von Instinkt und Vernunft - also die Frage, ob in Hinsicht auf
Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als die Vernünftigkeit,
welche nach Gründen, nach einem "Warum?", als nach Zweckmässigkeit
und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will, - es ist immer noch
jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat
und lange vor dem Christenthum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst
hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes - dem eines überlegenen
Dialektikers - zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was
hat er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner
vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen
vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns
Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und Geheimen, lachte er auch über
sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör,
die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich
deshalb von den Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum
Recht verhelfen, - man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden,
ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Falschheit
jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er brachte sein Gewissen dahin, sich
mit einer Art Selbstüberlistung zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das
Irrationale im moralischen Urtheile durchschaut. - Plato, in solchen Dingen
unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand
aller Kraft - der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! -
sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen, auf
das Gute, auf "Gott"; und seit Plato sind alle Theologen und
Philosophen auf der gleichen Bahn, - das heisst, in Dingen der Moral hat bisher
der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, "der Glaube", oder wie
ich es nenne, "die Heerde" gesiegt. Man müsse denn Descartes
ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution),
welcher der Vernunft allein Autorität zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein
Werkzeug, und Descartes war oberflächlich.
192.
Wer der
Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist, der findet in ihrer
Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der ältesten und gemeinsten Vorgänge
alles "Wissens und Erkennens": dort wie hier sind die voreiligen
Hypothesen, die Erdichtungen, der gute dumme Wille zum "Glauben", der
Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst entwickelt, - unsre Sinne lernen es spät,
und lernen es nie ganz, feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein.
Unserm Auge fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter
erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines Eindrucks
bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft, mehr "Moralität".
Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig; fremde Musik hören wir
schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim Hören einer andren Sprache, die
gehörten Laute in Worte einzuformen, welche uns vertrauter und heimischer
klingen: so machte sich zum Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten
arcubalista das Wort Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne
feindlich und widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den
"einfachsten" Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht,
Liebe, Hass, eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. - So wenig ein
Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich abliest
- er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und
"erräth" den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn
-, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter,
Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von
Baum hin zu phantasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir
es noch ebenso: wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind
kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgend einem Vorgange
zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her -
an's Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz
angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss. - In einem
lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede,
je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder den ich bei ihr hervorgerufen
glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit
weit über die Kraft meines Sehvermögens hinausgeht: - die Feinheit des
Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein.
Wahrscheinlich machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins.
193.
Quidquid
luce fuit, tenebris agit: aber auch umgekehrt. Was wir im Traume erleben,
vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum
Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas "wirklich" Erlebtes:
wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer, haben ein Bedürfniss mehr oder
weniger und werden schliesslich am hellen lichten Tage, und selbst in den
heitersten Augenblicken unsres wachen Geistes, ein Wenig von den Gewöhnungen
unsrer Träume gegängelt. Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals
geflogen ist und endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des
Fliegens wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten
beneidenswerthen Glücks: ein Solcher, der jede Art von Bogen und Winkeln mit
dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt, der das Gefühl einer
gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt, ein "nach, Oben" ohne
Spannung und Zwang, ein "nach Unten" ohne Herablassung und
Erniedrigung - ohne Schwere! - wie sollte der Mensch solcher Traum-Erfahrungen
und Traum-Gewohnheiten nicht endlich auch für seinen wachen Tag das Wort
"Glück" anders gefärbt und bestimmt finden! wie sollte er nicht
anders nach Glück - verlangen" "Aufschwung", so wie dies von
Dichtern beschrieben wird, muss ihm, gegen jenes "Fliegen" gehalten,
schon zu erdenhaft, muskelhaft, gewaltsam, schon zu "schwer" sein.
194.
Die
Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Verschiedenheit ihrer Gütertafeln,
also darin, dass sie verschiedene Güter für erstrebenswerth halten und auch über
das Mehr und Weniger des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam
anerkannten Güter mit einander uneins sind: - sie zeigt sich noch mehr in dem,
was ihnen als wirkliches Haben und Besitzen eines Gutes gilt. In Betreff eines
Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über den Leib
und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes Anzeichen des
Habens, des Besitzens; ein Anderer, mit seinem argwöhnischeren und
anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das "Fragezeichen", das
nur Scheinbare eines solchen Habens, und will feinere Proben, vor Allem, um zu
wissen, ob das Weib nicht nur ihm sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was
sie hat oder gerne hätte -: so erst gilt es ihm als "besessen". Ein
Dritter aber ist auch hier noch nicht am Ende seines Misstrauens und
Habenwollens, er fragt sich, ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies
nicht etwa für ein Phantom von ihm thut: er will erst gründlich, ja abgründlich
gut gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich
errathen zu lassen -. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem
Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um seiner
Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr liebt, als um
seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte ein Volk besitzen:
und alle höheren Cagliostro- und Catilina-Künste sind ihm zu diesem Zwecke
recht. Ein Anderer, mit einem feineren Besitzdurste, sagt sich "man darf
nicht betrügen, wo man besitzen will" -, er ist gereizt und ungeduldig bei
der Vorstellung, dass eine Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet:
"also muss ich mich kennen lassen und, vorerst, mich selbst kennen!"
Unter hülfreichen und wohlthätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist
fast regelmässig vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht
macht: als ob er zum Beispiel Hülfe "verdiene", gerade nach ihrer Hülfe
verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, unterwürfig
beweisen werde, - mit diesen Einbildungen verfügen sie über den Bedürftigen
wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem Verlangen nach Eigenthum überhaupt
wohlthätige und hülfreiche Menschen sind. Man findet sie eifersüchtig, wenn
man sie beim Helfen kreuzt oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich
aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches - sie nennen das "Erziehung" -,
keine Mutter zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum
geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen Begriffen und
Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals schien es den Vätern
billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie unter den alten Deutschen) nach
Gutdünken zu verfügen. Und wie der Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer,
der Stand, der Priester, der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche
Gelegenheit zu neuem Besitze. Woraus folgt .....
195.
Die Juden
- ein Volk "geboren zur Sklaverei", wie Tacitus und die ganze antike
Welt sagt, "das auserwählte Volk unter den Völkern", wie sie selbst
sagen und glauben - die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe
zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf der Erde für ein Paar
Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat: - ihre Propheten
haben "reich" "gottlos" "böse" "gewaltthätig"
"sinnlich" in Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort
"Welt", zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe (zu
der es gehört, das Wort für "Arm" als synonym mit "Heilig"
und "Freund" zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks:
mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral.
196.
Es giebt
unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschliessen, - solche die wir nie
sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein Gleichniss; und ein Moral-Psycholog
liest die gesammte Sternenschrift nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache,
mit der sich Vieles verschweigen lässt.
197.
Man
missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele Cesare Borgia) gründlich,
man missversteht die "Natur", so lange man noch nach einer
"Krankhaftigkeit" im Grunde dieser gesündesten aller tropischen
Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen eingeborenen "Hölle"
-: wie es bisher fast alle Moralisten gethan haben. Es scheint, dass es bei den
Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen giebt? Und dass der
"tropische Mensch" um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als
Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und
Selbst-Marterung? Warum doch? Zu Gunsten der "gemässigten Zonen"? Zu
Gunsten der gemässigten Menschen? Der "Moralischen"? Der Mittelmässigen?
- Dies zum Kapitel "Moral als Furchtsamkeit". -
198.
Alle diese
Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres "Glückes",
wie es heisst, - was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss
zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die einzelne Person mit sich selbst
lebt; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so
fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und
grosse Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter
Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und unvernünftig
- weil sie sich an "Alle" wenden, weil sie generalisiren, wo nicht
generalisirt werden darf -, allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend,
allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich,
und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu
riechen lernen, vor Allem "nach der anderen Welt": Das ist Alles,
intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht
"Wissenschaft", geschweige denn "Weisheit", sondern,
nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit
Dummheit, Dummheit, Dummheit, - sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte
gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und
ankurirten; oder auch jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza,
seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und
Vivisektion derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches
Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der
Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung
und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe
zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen - denn in der Religion haben die
Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass ; zuletzt selbst jene
entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und
Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-
leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und
Trunkenbolde, bei denen es "wenig Gefahr mehr hat". Auch Dies zum
Kapitel "Moral als Furchtsamkeit".
199.
Insofern
es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch Menschenheerden gegeben hat
(Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer
sehr viel Gehorchende im Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender, - in
Anbetracht also, dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt
und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass durchschnittlich
jetzt einem jeden das Bedürfniss darnach angeboren ist, als eine Art formalen
Gewissens, welches gebietet: "du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend
Etwas unbedingt lassen", kurz "du sollst". Dies Bedürfniss sucht
sich zu sättigen und seine Form mit einem Inhalte zu füllen; es greift dabei,
gemäss seiner Stärke, Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober
Appetit, zu und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden - Eltern,
Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen - in's Ohr
gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen Entwicklung, das Zögernde,
Langwierige, oft Zurücklaufende und Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass
der Heerden-Instinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des
Befehlens vererbt wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen
letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die Befehlshaber
und Unabhängigen; oder sie leiden innerlich am schlechten Gewissen und haben nöthig,
sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich
als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in
Europa: ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich
nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, dass sie
sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der
Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der
Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen, zum Beispiel als "erste
Diener ihres Volks" oder als "Werkzeuge des gemeinen Wohls". Auf
der anderen Seite giebt sich heute der Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als
sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften,
vermöge deren er zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die
eigentlich menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht,
Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber,
wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, macht man
heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger Heerdenmenschen die
Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen
Verfassungen. Welche Wohlthat, welche Erlösung von einem unerträglich
werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für
diese Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen
Napoleon's machte, das letzte grosse Zeugniss: - die Geschichte der Wirkung
Napoleon's ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses
ganze Jahrhundert in seinen werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht
hat.
200.
Der Mensch
aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch einander wirft, der
als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat, das heisst
gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse,
welche mit einander kämpfen und sich selten Ruhe geben, - ein solcher Mensch
der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer
Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er
ist , einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in Übereinstimmung mit
einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und
Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der
Sattheit, der endlichen Einheit, als "Sabbat der Sabbate", um mit dem
heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war. - Wirkt
aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und
-Kitzel mehr -, und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen
Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit
sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet:
so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege
und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck
Alciblades und Caesar (- denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem
Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern
vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo
jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund
tritt.- beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen.
201.
So lange
die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurtheilen herrscht, allein die
Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde
zugewendet ist, und das Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht
wird, was dem Gemeinde-Bestand gefährlich scheint: so lange kann es noch keine
"Moral der Nächstenliebe" geben. Gesetzt, es findet sich auch da
bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden, Billigkeit,
Milde, Gegenseitigkeit der Hülfeleistung, gesetzt, es sind auch auf diesem
Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe thätig, welche später mit
Ehrennamen, als "Tugenden" bezeichnet werden und schliesslich fast mit
dem Begriff "Moralität" in Eins zusammenfallen: in jener Zeit gehören
sie noch gar nicht in das Reich der moralischen Werthschätzungen - sie sind
noch aussermoralisch. Eine mitleidige Handlung zum Beispiel heisst in der besten
Römerzeit weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie
selbst gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine Art
unwilliger Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer Handlung
zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der res publica, dient.
Zuletzt ist die "Liebe zum Nächsten" immer etwas Nebensächliches,
zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältniss zur
Furcht vor dem Nächsten. Nachdem das Gefüge der Gesellschaft im Ganzen
festgestellt und gegen äussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese
Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen
Werthschätzung schafft. Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie
Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier,
Herrschsucht, die bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt unter
anderen Namen, wie billig, als den eben gewählten sondern gross-gezogen und
-gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen gegen die
Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr in ihrer Gefährlichkeit
doppelt stark empfunden - jetzt, wo die Abzugskanäle für sie fehlen - und
schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben.
Jetzt kommen die gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der
Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel oder wie
wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in einer Meinung, in
einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist
jetzt die moralische Perspektive: die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der
Moral. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich
ausbrechend, den Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des
Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde
zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam, zerbricht: folglich wird
man gerade diese Triebe am besten brandmarken und verleumden. Die hohe unabhängige
Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als
Gefahr empfunden; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten
Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene, sich
einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der Begierden kommt zu
moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr friedfertigen Zuständen, fehlt
die Gelegenheit und Nöthigung immer mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte
zu erziehn; und jetzt beginnt jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die
Gewissen zu stören; eine hohe und harte Vornehmheit und
Selbst-Verantwortlichkeit beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, "das
Lamm", noch mehr "das Schlaf" gewinnt an Achtung. Es giebt einen
Punkt von krankhafter Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der
Gesellschaft, wo sie selbst für ihren Schädiger, den Verbrecher Partei nimmt,
und zwar ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint ihr irgendworin unbillig, -
gewiss ist, dass die Vorstellung "Strafe" und
"Strafen-Sollen" ihr wehe thut, ihr Furcht macht. "Genügt es
nicht, ihn ungefährlich machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!"
- mit dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre
letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund zum Fürchten
abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschafft: sie wäre nicht mehr nöthig,
sie hielte sich selbst nicht mehr für nöthig! - Wer das Gewissen des heutigen
Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den
gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der
Heerden-Furchtsamkeit: wir wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten
giebt! " Irgendwann einmal - der Wille und Weg dorthin heisst heute in
Europa überall der "Fortschritt".
202.
Sagen wir
es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt haben: denn die Ohren
sind für solche Wahrheiten - für unsere Wahrheiten - heute nicht gutwillig.
Wir wissen es schon genug, wie beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den
Menschen ungeschminkt und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet; aber es wird
beinahe als Schuld uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die
Menschen der "modernen Ideen" beständig die Ausdrücke
"Heerde", "Heerden-Instinkte" und dergleichen gebrauchen.
Was hilft es! Wir können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue
Einsicht. Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig
geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa's Einfluss herrscht:
man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was
jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhiess, - man "weiss"
heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart klingen und schlecht zu Ohren
gehn, wenn wir immer von Neuem darauf bestehn: was hier zu wissen glaubt, was
hier mit seinem Loben und Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut
heisst, ist der Instinkt des Heerdenthiers Mensch: als welcher zum Durchbruch,
zum Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und
immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung und Anähnlichung,
deren Symptom er ist. Moral ist heute in Europa Heerdenthier-Moral: - also nur,
wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der,
nach der viele andere, vor Allem höhere Moralen möglich sind oder sein
sollten. Gegen eine solche "Möglichkeit", gegen ein solches
"Sollte" wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt
hartnäckig und unerbittlich "ich bin die Moral selbst, und Nichts
ausserdem ist Moral!" - ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten
Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen,
dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen
immer
sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung macht die
Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für
die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und
schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer
unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die
Gassen der europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den
friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften
Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen
und die "freie Gesellschaft" wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen
Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre
Gesellschafts-Form als die der autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst
der Begriffe "Herr" und "Knecht" - ni dieu ni maître heisst
eine socialistische Formel -); Eins im zähen Widerstande gegen jeden
Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde
gegen jedes Recht: denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr
Rechte" -); Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als
ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der nothwendigen
Folge aller früheren Gesellschaft wäre -); aber ebenso Eins in der Religion
des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, gelebt, gelitten wird (bis
hinab zum Thier, bis hinauf zu "Gott": - die Ausschweifung eines
Mitleidens mit Gott" gehört in ein demokratisches Zeitalter -); Eins
allesammt im Schrei und der Ungeduld des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden
überhaupt, in der fast weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können,
leiden lassen zu können; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und Verzärtlichung,
unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus bedroht scheint; Eins im
Glauben an die Moral des gemeinsamen Mitleidens, wie als ob sie die Moral an
sich sei, als die Höhe, die erreichte Höhe des Menschen, die alleinige
Hoffnung der Zukunft, das Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung
aller Schuld von Ehedem: - Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die
Erlöserin, an die Heerde also, an sich ......
203.
Wir,
die wir eines andren Glaubens sind -, wir, denen die demokratische Bewegung
nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als
Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung
und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen? - Nach
neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich
genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und
"ewige Werthe" umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach
Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen,
der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen die
Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen
zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung
vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls,
die bisher "Geschichte" hiess, ein Ende zu machen - der Unsinn der
"grössten Zahl" ist nur seine letzte Form -: dazu wird irgendwann
einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein, an deren
Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden
Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher
Führer ist es, das vor unsern Augen schwebt: - darf ich es laut sagen, ihr
freien Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen,
theils ausnützen müsste; die muthmaasslichen Wege und Proben, vermöge deren
eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den Zwang zu diesen
Aufgaben zu empfinden; eine Umwerthung der Werthe, unter deren neuem Druck und
Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das
Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge; andererseits die
Nothwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben
oder missrathen und entarten könnten - das sind unsre eigentlichen Sorgen und
Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister? das sind die schweren fernen
Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unseres Lebens hingehn. Es giebt
wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal gesehn, errathen, mitgefühlt zu
haben, wie ein ausserordentlicher Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete:
wer aber das seltene Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass "der
Mensch" selbst entartet, wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit
erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel
spielte - ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein "Finger
Gottes" mitspielte! - wer das Verhängniss, erräth, das in der blödsinnigen
Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der "modernen Ideen", noch mehr
in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der leidet an
einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen lässt, - er fasst es
ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und
Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er
weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft
für die grössten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an
geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat: - er weiss es
noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an was für erbärmlichen
Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach,
absank, erbärmlich ward. Die Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem,
was heute den socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr "Mensch der
Zukunft" erscheint, - als ihr Ideal! - diese Entartung und Verkleinerung
des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen
der "freien Gesellschaft"), diese Verthierung des Menschen zum
Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist kein
Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel
mehr, als die übrigen Menschen, - und vielleicht auch eine neue Aufgabe! ...
Sechstes Hauptstück:
Wir
Gelehrten.
204.
Auf die
Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das herausstellt, was es immer
war - nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach Balzac -, möchte
ich wagen, einer ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung
entgegenzutreten, welche sich heute, ganz unvermerkt und wie mit dem besten
Gewissen, zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht. Ich meine,
man muss von seiner Erfahrung aus - Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer
schlimme Erfahrung? - ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs
mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen und Künstler
gegen die Wissenschaft zu reden ("ach, diese schlimme Wissenschaft! seufzt
deren Instinkt und Scham, sie kommt immer dahinter!" -). Die Unabhängigkeits-Erklärung
des wissenschaftlichen Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist
eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die
Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute überall in
voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, - womit noch nicht gesagt sein
soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. Los von allen Herren!"
- so will es auch hier der pöbelmännische Instinkt; und nachdem sich die
Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren
"Magd" sie zu lange war, ist sie nun in vollem Übermuthe und
Unverstande darauf hin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits
einmal den "Herrn" - was sage ich! den Philosophen zu spielen. Mein
Gedächtniss - das Gedächtniss eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub!
- strotzt von Naivetäten des Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher
und alter Ärzte über Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden
von den gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und
Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind -). Bald war es der
Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle
synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte; bald der fleissige
Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen Üppigkeit im
Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und sich dabei beeinträchtigt
und verkleinert fühlte. Bald war es jene Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen,
der in der Philosophie Nichts sieht, als eine Reihe widerlegter Systeme und
einen verschwenderischen Aufwand, der Niemandem "zu Gute kommt". Bald
sprang die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens
hervor; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich unwillkürlich
zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. Am häufigsten endlich
fand ich bei jungen Gelehrten hinter der hochmüthigen Geringschätzung der
Philosophie die schlimme Nachwirkung eines Philosophen selbst, dem man zwar im
Ganzen den Gehorsam gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner
wegwerfenden Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein: - mit
dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie. (Dergestalt
scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer's auf das neueste
Deutschland zu sein: - er hat es mit seiner unintelligenten Wuth auf Hegel dahin
gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der
deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe
und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber
Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich,
undeutsch.) Überhaupt in's Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche,
Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen
sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und
dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich
doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite,
Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen
Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem Rechte
Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso
oben-auf als unten-durch sind - in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen
von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann
- ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf.
Es ist in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich
Wirklichkeits-Philosophen" oder "Positivisten" nennen, welcher
ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen Gelehrten zu
werfen im Stande ist: das sind ja besten Falls selbst Gelehrte und Spezialisten,
man greift es mit Händen! - das sind ja allesammt überwundene und unter die
Botmässigkeit der Wissenschaft Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr
von sich gewollt haben, ohne ein Recht zu diesem "mehr" und seiner
Verantwortlichkeit zu haben - und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig,
den Unglauben an die Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit
Wort und That repräsentiren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die
Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im Gesichte, während
Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest
Philosophie von heute, Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden
gegen sich rege macht. Philosophie auf "Erkenntnisstheorie" reduzirt,
thatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und
Enthaltsamkeitslehre: eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg
kommt und sich peinlich das Recht zum Eintritt verweigert - das ist Philosophie
in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht. Wie könnte
eine solche Philosophie - herrschen!
205.
Die
Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in Wahrheit so
vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht überhaupt noch reif werden
kann. Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in's Ungeheure
gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als
Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und "spezialisiren"
lässt: so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick,
Umblick, Niederblick kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine
beste Zeit und Kraft schon vorüber ist; oder beschädigt, vergröbert,
entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr bedeutet.
Gerade die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt ihn vielleicht
unterwegs zögern und sich verzögern; er fürchtet die Verführung zum
Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn, er weiss es zu gut, dass
Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht verloren hat, auch als Erkennender
nicht mehr befiehlt, nicht mehr führt : er müsste denn schon zum grossen
Schauspieler werden wollen, zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der
Geister, kurz zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks: wenn
es selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die
Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von sich ein
Urtheil, ein ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, sondern über das
Leben und den Werth des Lebens verlangt, - dass er ungern daran glauben lernt,
ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem Urtheile zu haben, und sich nur aus
den umfänglichsten - vielleicht störendsten, zerstörendsten - Erlebnissen
heraus und oft zögernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und
jenem Glauben suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange Zeit
verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen Menschen und idealen
Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen entsinnlichten
"entweltlichten" Schwärmer und Trunkenbold Gottes; und hört man gar
heute jemanden loben, dafür, dass er "weise" lebe oder "als ein
Philosoph", so bedeutet es beinahe nicht mehr, als "klug und
abseits". Weisheit: das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein, ein
Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn; aber
der rechte Philosoph - so scheint es uns, meine Freunde? - lebt
"unphilosophisch" und "unweise", vor Allem unklug, und fühlt
die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens: - er
risquirt sich beständig, er spielt das schlimme Spiel .....
206.
Im Verhältnisse
zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches entweder zeugt oder gebiert,
beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen -, hat der Gelehrte, der
wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er
versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten Verrichtungen des
Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden, den Gelehrten und den alten
Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die Achtbarkeit zu - man unterstreicht in
diesen Fällen die Achtbarkeit - und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses
den gleichen Beisatz von Verdruss. Sehen wir genauer zu: was ist der
wissenschaftliche Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden
einer unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch
nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in
Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass im Können und Bedürfen, er hat den
Instinkt für Seines gleichen und für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum
Beispiel jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine
Ruhe der Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und
zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt -), jenen Sonnenschein des guten
Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und seiner Nützlichkeit,
mit der das innerliche Misstrauen, der Grund im Herzen aller abhängigen
Menschen und Heerdenthiere, immer wieder überwunden werden muss. Der Gelehrte
hat, wie billig, auch die Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist
reich am kleinen Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen,
zu deren Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer, der
sich gehen, aber nicht strömen lässt; und gerade vor dem Menschen des grossen
Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, - sein Auge ist dann wie
ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr
kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist,
kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus
der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen
instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder - noch lieber! -
abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand natürlich
-, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche Kunst des
Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens
einzuführen. -
207.
Wie
dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen mag - und wer wäre
nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis
zum Sterben satt gewesen! - zuletzt muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit
Vorsicht lernen und der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und
Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und
Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb der
Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat, dem
"interesselosen Erkennen" ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. Der
objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich dem Pessimisten,
der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche Instinkt nach tausendfachem
Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf- und Ausblühen kommt, ist sicherlich
eins der kostbarsten Werkzeuge, die es giebt: aber er gehört in die Hand eines
Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel, - er ist
kein "Selbstzweck". Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel:
vor Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine andre
Lust, als wie sie das Erkennen, das "Abspiegeln" giebt, - er wartet,
bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch leichte Fusstapfen
und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut
verloren gehen. Was von "Person" an ihm noch übrig ist, dünkt ihm
zufällig, oft willkürlich, noch öfter störend: so sehr ist er sich selbst
zum Durchgang und Wiederschein fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er
besinnt sich auf "Sich" zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch;
er verwechselt sich leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte
und ist hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit
oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der Mangel an
Gesellen und Gesellschaft, - ja, er zwingt sich, über seine Qual nachzudenken:
umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum allgemeineren Falle, und morgen
weiss er so wenig als er es gestern wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den
Ernst für sich verloren, auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an
Noth, sondern aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Noth. Das gewohnte
Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und unbefangene
Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stösst, seine Art von rücksichtslosem
Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt
genug Fälle, wo er diese seine Tugenden büssen muss! - und als Mensch überhaupt
wird er gar zu leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass
von ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn -: er
wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll sich nicht
wundern, wenn es nicht viel ist, - wenn er da gerade sich unächt, zerbrechlich,
fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist gewollt, sein Hass künstlich und
mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur
ächt, so weit er objektiv sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er
noch "Natur" und natürlich". Seine spiegelnde und ewig sich glättende
Seele weiss nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht;
er zerstört auch nicht. "Je ne méprise presque rien" - sagt er mit
Leibnitz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch kein
Mustermensch; er geht Niemandem voran, noch nach; er stellt sich überhaupt zu
ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse Partei zu ergreifen.
Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen verwechselt hat, mit dem cäsarischen
Züchter und Gewaltmenschen der Cultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren
gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen, - er ist ein Werkzeug, ein Stück
Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber Nichts, -
presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein kostbares, leicht
verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man
schonen und ehren soll; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein
complementärer Mensch, in dem das übrige Dasein sich rechtfertigt, kein
Schluss - und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts
Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein
zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen Inhalt
und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm "zu gestalten", - für
gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein "selbstloser"
Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. -
208.
Wenn heute
ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker, - ich hoffe, man hat
Das aus der eben gegebenen Abschilderung des objektiven Geistes herausgehört? -
so hört alle Welt das ungern; man sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte
so Vieles fragen, fragen ... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt
in Menge giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, bei
seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses bedrohliches Geräusch
hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des
Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae
voluntatis, der nicht bloss Nein sagt, Nein will, sondern - schrecklich zu
denken! Nein thut. Gegen diese Art von "gutem Willen" - einem Willen
zur wirklichen thätlichen Verneinung des Lebens - giebt es anerkanntermaassen
heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften
holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den Ärzten
der Zeit gegen den "Geist" und sein Rumoren unter dem Boden verordnet.
"Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen? sagt
der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von
Sicherheits-Polizei: dies unterirdische Nein ist fürchterlich! Stille endlich,
ihr pessimistischen Maulwürfe!" Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche
Geschöpf, erschrickt allzuleicht; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei
jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie
einen Biss zu spüren. Ja! und Nein! - das geht ihm wider die Moral; umgekehrt
liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa
indem er mit Montaigne spricht: "was weiss ich?" Oder mit Sokrates:
"ich weiss, dass ich Nichts weiss". Oder: "hier traue ich mir
nicht, hier steht mir keine Thür offen." Oder: "gesetzt, sie stünde
offen, wozu gleich eintreten!" Oder: "wozu nützen alle vorschnellen
Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören.
Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade biegen? Durchaus jedes Loch
mit irgend welchem Werge ausstopfen? Hat das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht
Zeit? Oh ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse
hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine
Philosophin." - Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, dass er
einigen Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer
gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner
Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht jedes Mal, wenn
sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte
Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam
verschiedene Maasse und Werthe in's Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung,
Zweifel, Versuch; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen
einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht,
Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen Mischlingen am
tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille: sie kennen das Unabhängige
im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im Wollen gar nicht mehr, - sie zweifeln
an der "Freiheit des Willens" auch noch in ihren Träumen. Unser
Europa von heute, der Schauplatz eines unsinnig plötzlichen Versuchs von
radikaler Stände- und folglich Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen
und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern
von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene
Wolke, - und seines Willens oft bis zum Sterben satt! Willenslähmung: wo findet
man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und oft noch wie geputzt! Wie verführerisch
herausgeputzt! Es giebt die schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese
Krankheit; und dass zum Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als
"Objektivität", "Wissenschaftlichkeit", "l'art pour
l'art", "reines willensfreies Erkennen" in die Schauläden
stellt, nur aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung ist, - für diese Diagnose
der europäischen Krankheit will ich einstehn. - Die Krankheit des Willens ist
ungleichmässig über Europa verbreitet: sie zeigt sich dort am grössten und
vielfältigsten, wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet
im dem Maasse, als "der Barbar" noch - oder wieder - unter dem
schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend macht. Im
jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht erschliessen als mit Händen
greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt; und Frankreich, welches immer
eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnisvollen
Wendungen seines Geistes in's Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt
heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der Skepsis
sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen, und zwar einen
Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in Deutschland, und im deutschen
Norden wiederum stärker als in der deutschen Mitte; erheblich stärker in
England, Spanien und Corsika, dort an das Phlegma, hier an harte Schädel
gebunden, - um nicht von Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es
schon wüsste, was es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann -,
aber am allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche,
wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst, in Russland. Da ist die Kraft zu
wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet der Wille -
ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung - in bedrohlicher Weise
darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern von heute ihr Leibwort
abzuborgen. Es dürften nicht nur indische Kriege und Verwicklungen in Asien
dazu nöthig sein, damit Europa von seiner grössten Gefahr entlastet werde,
sondern innere Umstürze, die Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor
Allem die Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die
Verpflichtung für Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen. Ich sage
dies nicht als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem
Herzen sein, - ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, dass
Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich
Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden
Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin
Ziele setzen könnte: - damit endlich die langgesponnene Komödie seiner
Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu
einem Abschluss käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste
Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, - den Zwang zur grossen
Politik.
209.
Inwiefern
das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich
eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer anderen und stärkeren
Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte ich mich vorläufig nur
durch ein Gleichniss ausdrücken, welches die Freunde der deutschen Geschichte
schon verstehen werden. Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne
grossgewachsene Grenadiere, welcher, als König von Preussen, einem militärischen
und skeptischen Genie - und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich
heraufgekommenen Typus des Deutschen - das Dasein gab, der fragwürdige tolle
Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle
des Genies: er wusste, woran es damals in Deutschland fehlte, und welcher Mangel
hundert Mal ängstlicher und dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und
gesellschaftlicher Form, - sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus
der Angst eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem
bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin betrog
er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen? Er sah seinen
Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher
Franzosen verfallen: - er sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die
Spinne Skepsis, er argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen
wie zum Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht
mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne
jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor - wer weiss, wie
sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die eisige Melancholie eines
einsam gemachten Willens begünstigt? - die Skepsis der verwegenen Männlichkeit,
welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der
Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese
Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in
Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie giebt dem
Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die
deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in's Geistigste
gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit
des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens
gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der
grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn,
allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte sich allmählich
und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein neuer Begriff vom
deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend
hervortrat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit
und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen
Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen
Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche
Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen: cet esprit
fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder,
Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem
"Mann" im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem
"dogmatischen Schlummer" geweckt wurde, so möge man sich des
ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, - und wie
es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser
Anmaassung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache
und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. Man verstehe doch
endlich das Erstaunen Napoleon's tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es
verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem "deutschen Geiste"
gedacht hatte. Voilà un homme!" - das wollte sagen: Das ist ja ein Mann!
Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet!- -
210.
Gesetzt
also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug zu rathen giebt,
ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten Sinne, Skeptiker sein müssen,
so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet - und nicht sie selbst.
Mit dem gleichen Rechte dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich
werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu
taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich
unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele,
sich des Experiments in einem neuen, vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren
Sinne zu bedienen lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss,
mit verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der weichmüthige
und verzärtelte Geschmack eines demokratischen Jahrhunderts gut heissen kann? -
Es ist kein Zweifel: diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht
unbedenklichen Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom
Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste
Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und
Sich-verantworten-können; ja, sie gestehen bei sich eine Lust am Neinsagen und
Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher
und fein zu führen weiss, auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter
sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen
mögen, sie werden sich nicht mit der "Wahrheit" einlassen, damit sie
ihnen "gefalle" oder sie "erhebe" und
"begeistere": - ihr Glaube wird vielmehr gering sein, dass gerade die
Wahrheit solche Lustbarkeiten für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln,
diese strengen Geister, wenn Einer vor ihnen sagte "jener Gedanke erhebt
mich: wie sollte er nicht wahr sein?" Oder: "jenes Werk entzückt
mich: wie sollte es nicht schön sein?" Oder: "jener Künstler vergrössert
mich: wie sollte er nicht gross sein?" - sie haben vielleicht nicht nur ein
Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen,
Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer ihnen bis in
ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde schwerlich dort die
Absicht vorfinden, "christliche Gefühle" mit dem "antiken
Geschmacke" und etwa gar noch mit dem "modernen Parlamentarismus"
zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in unserm sehr unsicheren,
folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar bei Philosophen vorkommen soll).
Kritische Zucht und jede Gewöhnung, welche zur Reinlichkeit und Strenge in
Dingen des Geistes führt, werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von
sich verlangen: sie dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, -
trotzdem wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine
kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt, wie es
heute so gern geschieht: "Philosophie selbst ist Kritik und kritische
Wissenschaft - und gar nichts ausserdem!" Mag diese Werthschätzung der
Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten Frankreichs und Deutschlands
erfreuen (- und es wäre möglich, dass sie sogar dem Herzen und Geschmacke
Kant's geschmeichelt hätte: man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke -):
unsre neuen Philosophen werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des
Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen!
Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. -
211.
Ich
bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt
die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln, - dass man
gerade hier mit Strenge "Jedem das Seine" und Jenen nicht zu Viel,
Diesen nicht viel zu Wenig gebe. Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen
nöthig sein, dass er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat,
auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie,
stehen bleiben, - stehen bleiben müssen; er muss selbst vielleicht Kritiker und
Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und
Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und "freier Geist"
und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle
zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede
Ferne, von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können.
Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst
will etwas Anderes, - sie verlangt, dass er Werthe schaffe. Jene philosophischen
Arbeiter nach dem edlen Muster Kant's und Hegel's haben irgend einen grossen
Thatbestand von Werthschätzungen - das heisst ehemaliger Werthsetzungen,
Werthschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeit lang
"Wahrheiten" genannt werden - festzustellen und in Formeln zu drängen,
sei es im Reiche des Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen.
Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich,
überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, ja "die Zeit"
selbst, abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu überwältigen: eine
ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst sich sicherlich jeder feine
Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann. Die eigentlichen Philosophen aber
sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen "so soll es sein!", sie
bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die
Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der
Vergangenheit, - sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und
Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer.
Ihr "Erkennen" ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr
Wille zur Wahrheit ist - Wille zur Macht. - Giebt es heute solche Philosophen?
Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben? ....
212.
Es will
mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein nothwendiger Mensch des
Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden
hat und befinden musste: sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher
haben alle diese ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man
Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern
eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten -, ihre
Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse
ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie
gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten,
verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen
zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal
deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und
Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen
Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei; jedes Mal sagten sie:
"wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am wenigsten zu Hause
seid." Angesichts einer Welt der "modernen Ideen", welche
Jedermann in eine Ecke und "Spezialität" bannen möchte, würde ein
Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Grösse
des Menschen, den Begriff "Grösse" gerade in seine Umfänglichkeit
und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen: er würde sogar den
Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel und vielerlei Einer tragen und auf
sich nehmen, wie weit Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt
und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so
sehr zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im Ideale des Philosophen,
gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in
den Begriff "Grösse" hineingehören; mit so gutem Rechte als die
umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden demüthigen selbstlosen
Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter angemessen war, einem solchen, das
gleich dem sechszehnten Jahrhundert an seiner aufgestauten Energie des Willens
und den wildesten Wässern und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des
Sokrates, unter lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen
Altathenern, welche sich gehen liessen - "zum Glück", wie sie sagten,
zum Vergnügen, wie sie thaten - und die dabei immer noch die alten prunkvollen
Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst kein Recht mehr gab,
war vielleicht Ironie zur Grösse der Seele nöthig, jene sokratische boshafte
Sicherheit des alten Arztes und Pöbelmanns, welcher schonungslos in's eigne
Fleisch schnitt, wie in's Fleisch und Herz des "Vornehmen", mit einem
Blick, welcher verständlich genug sprach: "verstellt euch vor mir nicht!
Hier - sind wir gleich!" Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier
allein zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die "Gleichheit der
Rechte" allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte:
ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden,
Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren
Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle und
Herrschaftlichkeit - heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen,
das Anders-sein-können, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum
Begriff "Grösse"; und der Philosoph wird Etwas von seinem eignen
Ideal verrathen, wenn er aufstellt: "der soll der Grösste sein, der der
Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits
von Gut und Böse, er Herr seiner Tugenden, der überreiche des Willens; dies
eben soll Grösse heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können."
Und nochmals gefragt: ist heute - Grösse möglich?
213.
Was
ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren
ist: man muss es "wissen", aus Erfahrung, - oder man soll den Stolz
haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in
Bezug auf welche sie keine Erfahrung haben kann, gilt am meisten und schlimmsten
vom Philosophen und den philosophischen Zuständen: - die Wenigsten kennen sie,
dürfen sie kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist
zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen
Geistigkeit, welche presto läuft, und einer dialektischen Strenge und
Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut, den meisten Denkern und Gelehrten von
ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls jemand davon vor ihnen reden
wollte, un glaubwürdig. Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als
peinliches Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt
ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und oft genug
als "des Schweisses der Edlen werth" - aber ganz und gar nicht als
etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, Nächst-Verwandtes!
"Denken" und eine Sache "ernst nehmen", "schwer
nehmen" - das gehört bei ihnen zu einander: so allein haben sie es
"erlebt" -. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung
haben.- sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr
"willkürlich" und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit,
Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine
Höhe kommt, - kurz, dass Nothwendigkeit und "Freiheit des Willens"
dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände,
welcher die Rangordnung der Probleme gemäss ist; und die höchsten Probleme
stossen ohne Gnade Jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und
Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es,
wenn gelenkige Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker
sich, wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in ihre Nähe
und gleichsam an diesen "Hof der Höfe" drängen! Aber auf solche
Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten: dafür ist im Urgesetz der
Dinge schon gesorgt; die Thüren bleiben diesen Zudringlichen geschlossen, mögen
sie sich auch die Köpfe daran stossen und zerstossen! Für jede hohe Welt muss
man geboren sein; deutlicher gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein
Recht auf Philosophie - das Wort im grossen Sinne genommen - hat man nur Dank
seiner Abkunft, die Vorfahren, das "Geblüt" entscheidet auch hier.
Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben;
jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt
worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf seiner
Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen Verantwortungen, die
Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt-Fühlen von der
Menge und ihren Pflichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und
Vertheidigen dessen, was missverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei es
Teufel, die Lust und Übung in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des
Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert,
selten hinauf blickt, selten liebt ...
Siebentes Hauptstück:
Unsere
Tugenden.
214.
Unsere
Tugenden? - Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob
es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein
werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns
vom Leibe halten. Wir Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten
Jahrhunderts, - mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit
und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit
in Geist und Sinnen, - wir werden vermuthlich, wenn wir Tugenden haben sollten,
nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit
unsern heissesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir
einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen! - woselbst sich, wie man weiss, so
mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es etwas Schöneres,
als nach seinen eigenen Tugenden suchen? Heisst dies nicht beinahe schon: an
seine eigne Tugend glauben? Dies aber "an seine Tugend glauben" - ist
dies nicht im Grunde dasselbe, was man ehedem sein "gutes Gewissen"
nannte, jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter
hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint
demnach, wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken
mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir
letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. - Ach!
Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon - anders kommt! ...
215.
Wie es im
Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn Eines Planeten
bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener Farbe um einen einzigen
Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit grünen Lichte, und dann
wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend: so sind wir modernen
Menschen, Dank der complicirten Mechanik unsres "Sternenhimmels" -
durch verschiedene Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in
verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, - und es giebt genug Fälle, wo
wir bunte Handlungen thun.
216.
Seine
Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es geschieht heute
tausendfältig, im Kleinen und im Grossen; ja es geschieht bisweilen schon das Höhere
und Sublimere - wir lernen verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am
besten lieben: - aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener
Scham und Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche, Wort und die
Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde - geht uns heute wider den
Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt unsrer Väter
war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider den Geschmack gieng,
eingerechnet die Feindschaft und Voltairische Bitterkeit gegen die Religion (und
was Alles ehemals zur Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in
unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei, alle
Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will.
217.
Sich vor
Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, dass man ihnen
moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue! Sie
vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar an uns) vergriffen
haben, - sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern,
selbst wenn sie noch unsre "Freunde" bleiben. - Selig sind die
Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten "fertig".
218.
Die
Psychologen Frankreichs - und wo giebt es heute sonst noch Psychologen? - haben
immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise
nicht ausgekostet, gleichsam als wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert
zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt
nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer
Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung - denn es wird langweilig -, ein
anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste Verschlagenheit, mit der
sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaasses zu höheren Geistern und
deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit,
welche tausend Mal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses
Mittelstandes in seinen besten Augenblicken - sogar auch als der Verstand seiner
Opfer -: zum abermaligen Beweise dafür, dass der "Instinkt" unter
allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die intelligenteste
ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie der "Regel" im
Kampfe mit der "Ausnahme": da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für
Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch heutlicher: treibt Vivisektion
am "guten Menschen", am "homo bonae voluntatis an euch!
219.
Das
moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten
an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von
der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen
und fein zu werden: - Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens
wohl, dass es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten
des Geistes überhäuften ihnen gleich stehn: - sie kämpfen für die
"Gleichheit Aller vor Gott" und brauchen beinahe dazu schon den
Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des Atheismus. Wer
ihnen sagte "eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich mit irgend welcher
Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen Menschen", würde sie
rasend machen: - ich werde mich hüten, es zu thun. Vielmehr möchte ich ihnen
mit meinem Satze schmeicheln, dass eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte
Ausgeburt moralischer Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener
Zustände ist, welche den "nur moralischen" Menschen nachgesagt
werden, nachdem sie, einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen
Ketten von Geschlechtern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die
Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich
beauftragt weiss, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrecht zu erhalten, unter
den Dingen selbst - und nicht nur unter Menschen.
220.
Bei dem
jetzt so volksthümlichen Lobe des "Uninteressirten" muss man sich,
vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen, woran eigentlich
das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind, um die sich der
gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die Gebildeten eingerechnet, sogar
die Gelehrten, und wenn nicht Alles trügt, beinahe auch die Philosophen. Die
Thatsache kommt dabei heraus, dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere
Geschmäcker, was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem
durchschnittlichen Menschen gänzlich "uninteressant" scheint: -
bemerkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie "désintéressé"
und wundert sich, wie es möglich ist, "uninteressirt" zu handeln. Es
hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen
und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (- vielleicht weil sie
die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) - statt die nackte und herzlich
billige Wahrheit hinzustellen, dass die "uninteressirte" Handlung eine
sehr interessante und interessirte Handlung ist, vorausgesetzt ..... "Und
die Liebe?" - Wie! Sogar eine Handlung aus Liebe soll
"unegoistisch" sein? Aber ihr Tölpel -! Und das Lob des
Aufopfernden?" - Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, weiss, dass er etwas
dafür wollte und bekam, - vielleicht etwas von sich für etwas von sich - dass
er hier hingab, um dort mehr zu haben, vielleicht um überhaupt mehr zu sein
oder sich doch als "mehr" zu fühlen. Aber dies ist ein Reich von
Fragen und Antworten, in dem ein verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so
sehr hat hier bereits die Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn
sie antworten muss. Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt anthun.
221.
Es kommt
vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, dass ich einen
uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht aber, weil er uneigennützig
ist, sondern weil er mir ein Recht darauf zu haben scheint, einem anderen
Menschen auf seine eignen Unkosten zu nützen. Genug, es fragt sich immer, wer
er ist und wer Jener ist. An Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und
gemacht wäre, würde Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht
eine Tugend, sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede
unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet, sündigt
nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung zu Unterlassungs-Sünden,
eine Verführung mehr unter der Maske der Menschenfreundlichkeit - und gerade
eine Verführung und Schädigung der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man
muss die Moralen zwingen, sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man
muss ihnen ihre Anmaassung in's Gewissen schieben, - bis sie endlich mit
einander darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: "was
dem Einen recht ist, ist dem Andern billig". - Also mein moralistischer
Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als er die
Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht zu viel Recht
haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will; ein Körnchen Unrecht
gehört sogar zum guten Geschmack.
222.
Wo heute
Mitleiden gepredigt wird - und, recht gehört, wird jetzt keine andre Religion
mehr gepredigt - möge der Psycholog seine Ohren aufmachen: durch alle
Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen Predigern (wie allen
Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, stöhnenden, ächten Laut von
Selbst-Verachtung hören. Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhässlichung
Europa's, welche jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste
Symptome schon in einem nachdenklichen Briefe Galiani's an Madame d'Epinay
urkundlich verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der Mensch der
"modernen Ideen", dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst
unzufrieden: dies steht fest. Er leidet:. und seine Eitelkeit will, dass er nur
"mit leidet" ......
223.
Der europäische
Mischmensch - ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles in Allem - braucht
schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer
der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht auf den Leib
passt, - er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf
diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die
Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns "nichts steht" -. Unnütz,
sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko
oder "national" vorzuführen, in moribus et artibus: es kleidet
nicht"! Aber der "Geist", insbesondere der "historische
Geist", ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil:
immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt,
abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: - wir sind das erste studirte Zeitalter
in puncto der "Kostüme", ich meine der Moralen, Glaubensartikel,
Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum
Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur
transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen
Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung
noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als
Pazodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht dass, wenn
auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft
hat!
224.
Der
historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen
schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt
hat, der "divinatorische Instinkt" für die Beziehungen dieser
Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität
der wirkenden Kräfte): dieser historische Sinn, auf welchen wir Europäer als
auf unsre Besonderheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und
tollen Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische
Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, - erst das neunzehnte
Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. Die Vergangenheit von
jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die früher hart neben einander, über
einander lagen, strömt Dank jener Mischung in uns "moderne Seelen"
aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine
Art Chaos -: schliesslich ersieht sich "der Geist", wie gesagt, seinen
Vortheil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime
Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor
Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder
Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste
Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet
"historischer Sinn" beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den
Geschmack und die Zunge für Alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer
Sinn ausweist. Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser
glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die
Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten
Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch
ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, -
welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein
ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug
auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften
Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen
Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine
Bewunderung des Fremden einzugestehen: alles dies stellt und stimmt sie ungünstig
selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigenthum sind oder
ihre Beute werden könnten, - und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher,
als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde.
Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen
Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der Freundschaft des
Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde: aber wir - nehmen gerade
diese wilde Buntheit, dies Durcheinander des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten,
mit einer geheimen Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als
das gerade uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den
widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeare's
Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa auf der Chiaja Neapels: wo
wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr
auch die Cloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des
"historischen Sinns": wir haben als solche unsre Tugenden, es ist
nicht zu bestreiten, - wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer,
voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr
entgegenkommend: - wir sind mit Alledem vielleicht nicht sehr
"geschmackvoll". Gestehen wir es uns schliesslich zu: was uns Menschen
des "historischen Sinns" am schwersten zu fassen, zu fühlen,
nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde voreingenommen und fast
feindlich findet, das ist gerade das Vollkommene und Letzthin - Reife in jeder
Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick
glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte,
welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht unsre
grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen Gegensatz zum guten
Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermögen gerade die
kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle und Verklärungen des menschlichen
Lebens, wie sie hier und da einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur
mit Zwang in uns nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft
freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb -, wo ein Überfluss
von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und Versteinerung, im Feststehen
und Sich-Fest-Stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das Maass
ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des
Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse
lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir
Halbbarbaren - und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am meisten -
in Gefahr sind.
225.
Ob
Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus: alle diese
Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach Begleitzuständen und
Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten,
auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens
bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird.
Mitleiden mit euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das
ist nicht Mitleiden mit der socialen "Noth", mit der
"Gesellschaft" und ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften
und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch
weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten,
welche nach Herrschaft - sie nennen's "Freiheit" - trachten. Unser
Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: - wir sehen, wie der
Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! - und es giebt Augenblicke, wo
wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo
wir uns gegen dies Mitleiden wehren -, wo wir euren Ernst gefährlicher als
irgend welche Leichtfertigkeit finden. Ihr wollt womöglich - und es giebt kein
tolleres "womöglich" - das Leiden abschaffen; und wir? - es scheint
gerade, wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war!
Wohlbefinden, wie ihr es versteht - das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein
Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich
macht, - der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, des
grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des
Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr
die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre
Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des
Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse
geschenkt worden ist: - ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des
grossen Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer
vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn,
Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit
und siebenter Tag: - versteht ihr diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem
"Geschöpf im Menschen" gilt, dem, was geformt, gebrochen,
geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, - dem, was
nothwendig leiden muss und leiden soll? Und unser Mitleid - begreift ihr's
nicht, wem unser umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid
wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? - Mitleid
also gegen Mitleid! - Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle
Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie, die nur auf diese
hinausläuft, ist eine Naivetät. -
226.
Wir
Immoralisten! - Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten und zu
lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen
Gehorchens, eine Welt des "Beinahe" in jedem Betrachte, häklich, verfänglich,
spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und
vertrauliche Neugierde! Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten
eingesponnen und können da nicht heraus -, darin eben sind wir "Menschen
der Pflicht", auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern
"Ketten" und zwischen unsern "Schwertern"; öfter, es ist
nicht minder wahr, knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die
heimliche Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen: die Tölpel
und der Augenschein sagen gegen uns "das sind Menschen ohne Pflicht" -
wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!
227.
Redlichkeit,
gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien
Geister - nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht
müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu
"vervollkommnen": mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches
Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste
liegen bleiben! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und
seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter, zärtlicher
haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir hart, wir letzten
Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur an Teufelei in uns haben -
unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser "nitimur in vetitum",
unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern
feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der
begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, - kommen wir
unserm "Gotte" mit allen unsern "Teufeln" zu Hülfe! Es ist
wahrscheinlich, dass man uns darob verkennt und verwechselt: was liegt daran!
Man wird sagen: "ihre "Redlichkeit" - das ist ihre Teufelei, und
gar nichts mehr!" was liegt daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren
nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was
wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist heissen will, der uns führt? (es
ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre Redlichkeit,
wir freien Geister, - sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser
Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur
Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; "dumm bis zur Heiligkeit" sagt man
in Russland, - sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu
Heiligen und Langweiligen werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich
in ihm - zu langweilen? Man müsste schon an's ewige Leben glauben, um ....
228.
Man
vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher langweilig war
und zu den Schlafmitteln gehörte - und dass "die Tugend" durch nichts
mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist, als durch diese Langweiligkeit
ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt
haben möchte. Es liegt viel daran, dass so wenig Menschen als möglich über
Moral nachdenken, - es liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa
eines Tages interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch
so, wie es immer stand: ich sehe Niemanden in Europa, der einen Begriff davon hätte
(oder gäbe) , dass das Nachdenken über Moral gefährlich, verfänglich, verführerisch
getrieben werden könnte, - dass Verhängniss darin liegen könnte! Man sehe
sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an,
wie sie plump und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham's, daher wandeln, dahin
wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er selbst schon
in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte (nein, das war kein gefährlicher
Mensch, dieser Helvétius!). Kein neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und
Faltung eines alten Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher
Gedachten: eine unmögliche Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht
mit einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch in
diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen muss, falls man
sie lesen muss-), jenes alte englische Laster eingeschlichen, das cant heisst
und moralische Tartüfferie ist, dies Mal unter die neue Form der
Wissenschaftlichkeit versteckt; es fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von
Gewissensbissen, an denen billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei
aller wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist
nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der die Moral
als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt? Sollte Moralisiren
nicht - unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie Alle, dass die englische Moralität
Recht bekomme: insofern gerade damit der Menschheit, oder dem "allgemeinen
Nutzen" oder "dem Glück der Meisten", nein! dem Glücke Englands
am besten gedient wird; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das
Streben nach englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster
Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei,
ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem
solchen Streben bestanden habe. Keins von allen diesen schwerfälligen, im
Gewissen beunruhigten Heerdenthieren (die die Sache des Egoismus als Sache der
allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternehmen -) will etwas davon wissen und
riechen, dass die "allgemeine Wohlfahrt" kein Ideal, kein Ziel, kein
irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, - dass, was dem
Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die
Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren
Menschen ist, kurz, dass es eine Rangordnung zwischen Mensch und Mensch,
folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist eine bescheidene und gründlich
mittelmässige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer, und, wie gesagt:
insofern sie langweilig sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität
denken. Man sollte sie noch ermuthigen: wie es, zum Theil, mit nachfolgenden
Reimen versucht worden ist.
Heil euch,
brave Karrenschieber,
229.
Es bleibt
in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz sein dürfen, so viel
Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem "wilden grausamen
Thiere" zurück, über welches Herr geworden zu sein eben den Stolz jener
menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst handgreifliche Wahrheiten wie auf
Verabredung Jahrhunderte lang unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein
haben, jenem wilden, endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen.
Ich wage vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen
lasse: mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel "Milch der frommen
Denkungsart" zu trinken geben, bis sie still und vergessen in ihrer alten
Ecke liegt. - Man soll über die Grausamkeit umlernen und die Augen aufmachen;
man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht länger solche unbescheidne dicke
Irrthümer tugendhaft und dreist herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff
der Tragödie von alten und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast
Alles, was wir "höhere Cultur" nennen, beruht auf der Vergeistigung
und Vertiefung der Grausamkeit - dies ist mein Satz; jenes "wilde
Thier" ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich
nur - vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist
Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem
Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik,
angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten
Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen
des Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der
Japanese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser
Vorstadt-Arbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die
Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich
"ergehen lässt", - was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller
Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen
Circe "Grausamkeit". Dabei muss man freilich die tölpelhafte
Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur zu lehren
wusste, dass sie beim Anblicke fremden Leides entstünde: es giebt einen
reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen
Sich-leiden-machen, - und wo nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im religiösen
Sinne oder zur Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt
zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe,
zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell'intelletto sich
überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts
gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der gegen sich selbst gewendeten
Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass selbst der Erkennende, indem er seinen
Geist zwingt, wider den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche
seines Herzens zu erkennen - nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben,
anbeten möchte -, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon
jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein Wehe-thun-wollen
am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig zum Scheine und zu den Oberflächen
hin will, - schon in jedem Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit.
230.
Vielleicht
versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von einem "Grundwillen des
Geistes" gesagt habe: man gestatte mir eine Erläuterung. - Das
befehlerische Etwas, das vom Volke "der Geist" genannt wird, will in
sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen: es hat den Willen
aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden,
herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und
Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt,
wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich
anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen,
das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen
oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem
Stück "Aussenwelt" willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt,
sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer
"Erfahrungen auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, - auf Wachsthum
also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl der
vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter
Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit,
zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres
Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art
Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel,
mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heissen der
Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden
Kraft, seiner "Verdauungskraft", im Bilde geredet - und wirklich
gleicht "der Geist" am meisten noch einem Magen. Insgleichen gehört
hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen,
vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so und so nicht steht,
dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine Lust an aller Unsicherheit
und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuss an der willkürlichen Enge
und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten,
Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit
aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht unbedenkliche
Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu
verstellen, jener beständige Druck und Drang einer schaffenden, bildenden,
wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst darin seine Masken-Vielfältigkeit und
Verschlagenheit, er geniesst auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, - gerade
durch seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! -
Diesem Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur
Oberfläche - denn jede Oberfläche ist ein Mantel - wirkt jener sublime Hang
des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und
nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und
Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt dass
er, wie sich gebührt, sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und
gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird
sagen "es ist etwas Grausames im Hange meines Geistes": - mögen die
Tugendhaften und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der That, es klänge
artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine "ausschweifende
Redlichkeit" nachsagte, nachraunte, nachrühmte, - uns freien, sehr freien
Geistern: - und so klingt vielleicht wirklich einmal unser - Nachruhm?
Einstweilen - denn es hat Zeit bis dahin - möchten wir selbst wohl am wenigsten
geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und -Franzen
aufzuputzen: unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack
und seine muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche
Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die
Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, - es ist Etwas daran, das Einem den
Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst
in aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige
Wort-Prunk zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten
menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen
Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus
erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über
die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden,
welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt
wurden; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute
schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht,
mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die
Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet
haben: "du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!" - das
mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe - wer wollte
das leugnen! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt:
"warum überhaupt Erkenntniss?" - Jedermann wird uns darnach fragen.
Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon
ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere Antwort ....
231.
Das Lernen
verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss
"erhält" -: wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde von uns, ganz
"da unten", giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von
geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf
vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein
unwandelbares "das bin ich"; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein
Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, - nur zu Ende entdecken, was darüber
bei ihm "feststeht". Man findet bei Zeiten gewisse Lösungen von
Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin
seine "Überzeugungen". Später - sieht man in ihnen nur Fusstapfen
zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir sind, - richtiger, zur
grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren
ganz "da unten". - Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie
eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon
gestattet sein, über das "Weib an sich" einige Wahrheiten
herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie sehr es
eben nur - meine Wahrheiten sind. -
232.
Das Weib
will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer über das
"Weib an sich" aufzuklären - das gehört zu den schlimmsten
Fortschritten der allgemeinen Verhässlichung Europa's. Denn was müssen diese
plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und Selbst-Entblössung
Alles an's Licht bringen! Das Weib hat so viel Grund zur Scham; im Weibe ist so
viel Pedantisches, Oberflächliches, Schulmeisterliches,
Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses und -Unbescheidenes versteckt -
man studire nur seinen Verkehr mit Kindern! -, das im Grunde bisher durch die
Furcht vor dem Manne am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn
erst das "Ewig-Langweilige am Weibe" - es ist reich daran! - sich
hervorwagen darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des
Spielens, Sorgen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es seine
feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und grundsätzlich zu
verlernen beginnt! Es werden schon jetzt weibliche Stimmen laut, welche, beim
heiligen Aristophanes! Schrecken machen, es wird mit medizinischer Deutlichkeit
gedroht, was zuerst und zuletzt das Weib vom Manne will. Ist es nicht vom
schlechtesten Geschmacke, wenn das Weib sich dergestalt anschickt,
wissenschaftlich zu werden? Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache,
Männer-Gabe - man blieb damit "unter sich"; und man darf sich
zuletzt, bei Allem, was Weiber über "das Weib" schreiben, ein gutes
Misstrauen vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Aufklärung
will - und wollen kann Wenn ein Weib damit nicht einen neuen Putz für sich
sucht - ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? - nun, so
will es vor sich Furcht erregen: - es will damit vielleicht Herrschaft. Aber es
will nicht Wahrheit: was liegt dem Weibe an Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an
dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, - seine grosse Kunst ist
die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit.
Gestehen wir es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen
Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unsrer
Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken und zarten
Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit
erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage: hat jemals ein Weib selber schon einem
Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen Gerechtigkeit zugestanden? Und ist es nicht
wahr, dass, im Grossen gerechnet, "das Weib" bisher vom Weibe selbst
am meisten missachtet wurde - und ganz und gar nicht von uns? - Wir Männer wünschen,
dass das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren: wie es
Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche dekretirte: mulier
taceat in ecclesia! Es geschah zum Nutzen des Weibes, als Napoleon der
allzuberedten Madame de Staël zu verstehen gab: mulier taceat in politicis! -
und ich denke, dass es ein rechter Weiberfreund ist, der den Frauen heute
zuruft: mulier taceat de muliere!
233.
Es verräth
Corruption der Instinkte - noch abgesehn davon, dass es schlechten Geschmack
verräth -. wenn ein Weib sich gerade auf Madame Roland oder Madame de Staël
oder Monsieur George Sand beruft, wie als ob damit etwas zu Gunsten des
"Weibes an sich" bewiesen wäre. Unter Männern sind die Genannten die
drei komischen Weiber an sich - nichts mehr! - und gerade die besten
unfreiwilligen Gegen-Argumente gegen Emancipation und weibliche
Selbstherrlichkeit.
234.
Die
Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche
Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn besorgt
wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und will Köchin sein!
Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte es ja, als Köchin seit
Jahrtausenden, die grössten physiologischen Thatsachen finden, insgleichen die
Heilkunst in seinen Besitz bringen müssen! Durch schlechte Köchinnen - durch
den vollkommenen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des
Menschen am längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es
steht heute selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter.
235.
Es giebt
Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine kleine Handvoll
Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze Gesellschaft sich plötzlich
krystallisirt. Dahin gehört jenes gelegentliche Wort der Madame de Lambert an
ihren Sohn: mon ami, ne vous permettez jamais que de folies, qui vous feront
grand plaisir": - beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je
an einen Sohn gerichtet worden ist.
236.
Das, was
Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben - jener, indem er sang "ella
guardava suso, ed io in lei", dieser, indem er es übersetzte "das
Ewig-Weibliche zieht uns hinan" -: ich zweifle nicht, dass jedes edlere
Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es glaubt eben das vom Ewig-Männlichen
...
237.
Sieben
Weibs-Sprüchlein.
Wie die längste
Weile fleucht, kommt ein Mann zu uns gekreucht!
Alter,
ach! und Wissenschaft giebt auch schwacher Tugend Kraft.
Schwarz
Gewand und Schweigsamkeit kleidet jeglich Weib - gescheidt.
Wem im Glück
ich dankbar bin? Gott! - und meiner Schneiderin.
Jung: beblümtes
Höhlenhaus. Alt: ein Drache fährt heraus.
Edler
Name, hübsches Bein, Mann dazu: oh wär' er mein!
Kurze
Rede, langer Sinn - Glatteis für die Eselin!
237.
Die Frauen
sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die von irgend welcher
Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben: als etwas Feineres, Verletzlicheres,
Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres, Seelenvolleres, - aber als Etwas, das man
einsperren muss, damit es nicht davonfliegt.
238.
Sich im
Grundprobleme "Mann und Weib" zu vergreifen, hier den abgründlichsten
Antagonismus und die Nothwendigkeit einer ewig-feindseligen Spannung zu leugnen,
hier vielleicht von gleichen Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen
und Verpflichtungen zu träumen: das ist ein typisches Zeichen von Flachköpfigkeit,
und ein Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat -
flach im Instinkte! -, darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als
verrathen, als aufgedeckt gelten: wahrscheinlich wird er für alle Grundfragen
des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu "kurz" sein und in keine
Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe hat, in seinem Geiste, wie
in seinen Begierden, auch jene Tiefe des Wohlwollens, welche der Strenge und Härte
fähig ist, und leicht mit ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur
orientalisch denken: er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares
Eigenthum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich
Vollendendes fassen, - er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens,
auf Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen: wie dies ehemals die Griechen gethan
haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie bekannt, von Homer
bis zu den Zeiten des Perikles, mit zunehmen - der Cultur und Umfänglichkeit an
Kraft, Schritt für Schritt auch strenger gegen das Weib, kurz orientalischer
geworden sind. Wie nothwendig, wie logisch, wie selbst menschlich-wünschbar
dies war: möge man darüber bei sich nachdenken!
239.
Das
schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung von Seiten der Männer
behandelt worden als in unserm Zeitalter - das gehört zum demokratischen Hang
und Grundgeschmack, ebenso wie die Unehrerbietigkeit vor dem Alter -: was
Wunder, dass sofort wieder mit dieser Achtung Missbrauch getrieben wird? Man
will mehr, man lernt fordern, man findet zuletzt jenen Achtungszoll beinahe
schon kränkend, man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den
Kampf vorziehn: genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu, dass
es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu fürchten: aber das Weib,
das "das Fürchten verlernt", giebt seine weiblichsten Instinkte
preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das Furcht-Einflössende am Manne,
sagen wir bestimmter, wenn der Mann im Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet
wird, ist billig genug, auch begreiflich genug; was sich schwerer begreift, ist,
dass ebendamit - das Weib entartet. Dies geschieht heute: täuschen wir uns
nicht darüber! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen und
aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der
wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis: "das Weib
als Commis" steht an der Pforte der sich bildenden modernen Gesellschaft.
Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, "Herr" zu werden
trachtet und den "Fortschritt" des Weibes auf seine Fahnen und Fähnchen
schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit das Umgekehrte: das Weib
geht zurück. Seit der französischen Revolution ist in Europa der Einfluss des
Weibes in dem Maasse geringer geworden, als es an Rechten und Ansprüchen
zugenommen hat; und die "Emancipation des Weibes", insofern sie von
den Frauen selbst (und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert
wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von der zunehmenden
Schwächung und Abstumpfung der allerweiblichsten Instinkte. Es ist Dummheit in
dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich ein
wohlgerathenes Weib - das immer ein kluges Weib ist - von Grund aus zu schämen
hätte. Die Witterung dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum
Siege kommt; die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen;
sich vor dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar "bis zum Buche", wo
man sich früher in Zucht und feine listige Demuth nahm; dem Glauben des Mannes
an ein im Weibe verhülltes grundverschiedenes Ideal, an irgend ein Ewig- und
Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit entgegenarbeiten; dem Manne
es nachdrücklich und geschwätzig ausreden, dass das Weib gleich einem
zarteren, wunderlich wilden und oft angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt,
geschützt, geschont werden müsse; das täppische und entrüstete
Zusammensuchen all des Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des
Weibes in der bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch
hat (als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung jeder
höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei): - was bedeutet dies Alles,
wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte, eine Entweiblichung?
Freilich, es giebt genug blödsinnige Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter
den gelehrten Eseln männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich
dergestalt zu entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der
"Mann" in Europa, die europäische "Mannhaftigkeit" krankt,
- welche das Weib bis zur "allgemeinen Bildung", wohl gar zum
Zeitungslesen und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da
selbst Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen: als ob ein Weib ohne Frömmigkeit
für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen Widriges oder Lächerliches
wäre -; man verdirbt fast überall ihre Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten
aller Arten Musik (unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich
hysterischer und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären,
unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr "cultiviren" und, wie
man sagt, das "schwache Geschlecht" durch Cultur stark machen: als ob
nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass
"Cultivirung" des Menschen und Schwächung - nämlich Schwächung,
Zersplitterung, Ankränkelung der Willenskraft, immer mit einander Schritt
gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten Frauen der Welt
(zuletzt noch die Mutter Napoleon's) gerade ihrer Willenskraft - und nicht den
Schulmeistern! - ihre Macht und ihr Übergewicht über die Männer verdankten.
Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur , die
"natürlicher" ist als die des Mannes, seine ächte raubthierhafte
listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät
im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche,
Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden ..... Was, bei aller Furcht, für
diese gefährliche und schöne Katze "Weib" Mitleiden macht, ist, dass
es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung
verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden: mit diesen
Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit einem Fusse schon in
der Tragödie, welche zerreisst, indem sie entzückt -. Wie? Und damit soll es
nun zu Ende sein? Und die Entzauberung des Weibes ist im Werke? Die
Verlangweiligung des Weibes kommt langsam herauf? Oh Europa! Europa! Man kennt
das Thier mit Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem
dir immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur
"Geschichte" werden, - noch einmal- könnte eine ungeheure Dummheit über
dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott versteckt, nein!
nur eine "Idee", eine "moderne Idee"! ....
Achtes Hauptstück:
Völker
und Vaterländer.
240.
Ich hörte,
wieder einmal zum ersten Male - Richard Wagner's Ouverture zu den
Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladene, schwere und späte Kunst,
welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch
lebendig vorauszusetzen: - es ehrt die Deutschen, dass sich ein solcher Stolz
nicht verrechnete! Was für Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und
Himmelsstriche sind hier nicht gemischt! Das muthet uns bald alterthümlich,
bald fremd, herb und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich,
das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, - das hat Feuer und
Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, welche zu spät reif
werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen
Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt,
ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck -, aber schon breitet
und weitet sich wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem
Behagen, von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers
an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes glückliches
Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten Mittel, neuer
neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu verrathen scheint. Alles
in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts von südlicher feiner Helligkeit
des Himmels, Nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine
gewisse Plumpheit sogar, die noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler
uns sagen wollte: "sie gehört zu meiner Absicht"; eine schwerfällige
Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von
gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen; etwas Deutsches, im besten
und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches
und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der
Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die Raffinements des Verfalls zu
verstecken, - die sich dort vielleicht erst am wohlsten fühlt; ein rechtes ächtes
Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und
überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich
von den Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, - sie
haben noch kein Heute.
241.
Wir
"guten Europäer": auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte
Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten -
ich gab eben eine Probe davon -, Stunden nationaler Wallungen, patriotischer
Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen.
Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf
Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen
fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen,
je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre "Stoffe
wechseln". Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch
in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche
atavistische Anfälle von Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und
wieder zur Vernunft, will sagen zum "guten Europäerthum" zurückzukehren.
Und indem ich über diese Möglichkeit ausschweife, begegnet mir's, dass ich
Ohrenzeuge eines Gesprächs von zwei alten "Patrioten" werde, - sie hörten
beide offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. "Der hält und
weiss von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent - sagte der Eine
-: der ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran! Es ist das Zeitalter der
Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem Bauche. Und so auch in
politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen neuen Thurm von Babel, irgend ein
Ungeheuer von Reich und Macht aufthürmt, heisst ihnen "gross": - was
liegt daran, dass wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch
nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That
und Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die Lage,
fürderhin "grosse Politik" treiben zu müssen, für welche es von
Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so dass es nöthig hätte, einer
neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und sicheren Tugenden
zu opfern, - gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte sein Volk zum
"Politisiren" überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu thun
und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichtigen Ekel vor der
Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei der eigentlich politisirenden Völker
nicht los wurde: - gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen
Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner
bisherigen Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner
Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerthe ihm seine
herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen
Geschmack "national", - wie! ein Staatsmann, der dies Alles thäte,
den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüssen müsste,
ein solcher Staatsmann wäre gross?" "Unzweifelhaft! antwortete ihm
der andere alte Patriot heftig: sonst hätte er es nicht gekonnt! Es war toll
vielleicht, so etwas zu wollen? Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur
toll!" - "Missbrauch der Worte! schrie sein Unterredner dagegen: -
stark! stark! stark und toll! Nicht gross!" - Die alten Männer hatten sich
ersichtlich erhitzt, als sie sich dergestalt ihre "Wahrheiten" in's
Gesicht schrieen; ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald über
den Starken ein Stärkerer Herr werden wird; auch dass es für die geistige
Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich durch die Vertiefung
eines anderen. -
242.
Nenne man
es nun "Civilisation" oder "Vermenschlichung" oder
"Fortschritt", worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht
wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen
Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter all den moralischen und
politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird,
vollzieht sich ein ungeheurer physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss
geräth, - der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung
von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen
entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das
Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte,
- also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen
Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und
-kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des werdenden
Europäers, welcher durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann,
aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst - der
jetzt noch wüthende Sturm und Drang des "National-Gefühls" gehört
hierher, insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus -: dieser Prozess läuft
wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und
Lobredner, die Apostel der "modernen Ideen", am wenigsten rechnen möchten.
Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und
Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird - ein nützliches
arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im
höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und
anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene
Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem
Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit beginnt, die Mächtigkeit
des Typus gar nicht möglich macht; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger
Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst
anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie
des täglichen Brodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die
Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft:
wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher
gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist, - Dank der
Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung,
Kunst und Maske. Ich wollte sagen: die Demokratisirung Europa's ist zugleich
eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,- das Wort in jedem
Sinne verstanden, auch im geistigsten.
243.
Ich höre
mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen das Sternbild des
Herkules hin begriffen ist: und ich hoffe, dass der Mensch auf dieser Erde es
darin der Sonne gleich thut. Und wir voran, wir guten Europäer! -
244.
Es gab
eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung "tief"
zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz
andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die
"Schneidigkeit" vermisst, ist der Zweifel beinahe zeitgemäss und
patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen hat: genug, ob
die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist - und
Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen
wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig,
als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. - Die deutsche Seele ist vor
Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt,
als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft. Ein Deutscher, der sich
erdreisten wollte, zu behaupten "zwei Seelen wohnen, ach! in meiner
Brust" würde sich an der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der
Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten
Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht
des vor-arischen Elementes, als "Volk der Mitte" in jedem Verstande,
sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter,
unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker
sich selber sind: - sie entschlüpfen der Definition und sind damit schon die
Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die
Frage "was ist deutsch?" niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine
Deutschen gewiss gut genug: "Wir sind erkannt" jubelten sie ihm zu, -
aber auch Sand glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich
ergrimmt gegen Fichte's verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen
erklärte, - aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe anders über die Deutschen
dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was
Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat? - Aber er hat über viele
Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das
feine Schweigen: - wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass
es nicht "die Freiheitskriege" waren, die ihn freudiger aufblicken
liessen, so wenig als die französische Revolution, - das Ereigniss, um
dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem "Mensch" umgedacht
hat, war das Erscheinen Napoleon's. Es giebt Worte Goethe's, in denen er, wie
vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das abspricht, was die
Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das berühmte deutsche Gemüth definirt
er einmal als "Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen". Hat er
damit Unrecht? - es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig
Unrecht hat. Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt
in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des
Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos. Und
wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und
Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das Ungewisse,
Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als
"tief". Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er "entwickelt
sich". "Entwicklung" ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und
Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln: - ein regierender Begriff, der,
im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu
verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln,
die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche
Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat).
"Gutmüthig und tückisch" - ein solches Nebeneinander, widersinnig in
Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: man
lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die Schwerfälligkeit des deutschen
Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum
Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor
der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die
"deutsche Seele" ad oculos demonstrirt, so sehe man nur in den
deutschen Geschmack, in deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische
Gleichgültigkeit gegen "Geschmack"! Wie steht da das Edelste und
Gemeinste neben einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze
Seelen-Haushalt! Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem,
was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit
"fertig"; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde
"Verdauung". Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den
Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die "Offenheit" und
"Biederkeit": wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! - Es ist
heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf die sich
der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende,
die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine eigentliche
Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es "noch weit bringen"! Der
Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen
- und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrocke! - Ich wollte
sagen: mag die "deutsche Tiefe" sein, was sie will, - ganz unter uns
erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen? - wir thun gut, ihren Anschein
und guten Namen auch fürderhin in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als
Volk der Tiefe, nicht zu billig gegen preussische "Schneidigkeit" und
Berliner Witz und Sand zu veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für
tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu
machen, gelten zu lassen: es könnte sogar - tief sein! Zuletzt: man soll seinem
Namen Ehre machen, - man heisst nicht umsonst das "tiusche" Volk, das
Täusche-Volk ...
245.
Die
"gute alte" Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen: - wie
glücklich wir, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine "gute
Gesellschaft", sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am
Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen
nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaube an den Süden
noch an irgend einen Rest in uns appelliren darf! Ach, irgend wann wird es
einmal damit vorbei sein! - aber wer darf zweifeln, dass es noch früher mit dem
Verstehen und Schmecken Beethoven's vorbei sein wird! - der ja nur der Ausklang
eines Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang
eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven ist das
Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und
einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig kommt; auf seiner Musik
liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, -
das selbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt,
als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon
beinahe angebetet hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade dies Gefühl,
wie schwer ist heute schon das Wissen um dies Gefühl, - wie fremd klingt die
Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in denen zusammen
das selbe Schicksal Europa's den Weg zum Wort gefunden hat, das in Beethoven zu
singen wusste! - Was von deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die
Romantik, das heisst in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere,
noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang
Europa's von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war. Weber:
aber was ist uns heute Freischütz und Oberon! Oder Marschner's Hans Heiling und
Vampyr! Oder selbst noch Wagner's Tannhäuser! Das ist verklungene, wenn auch
noch nicht vergessene Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht
vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als im
Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die
unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam. Anders stand es mit Felix
Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren reineren beglückteren
Seele willen schnell verehrt und ebenso schnell vergessen wurde: als der schöne
Zwischenfall der deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer
nahm und von Anfang an auch schwer genommen worden ist - es ist der Letzte, der
eine Schule gegründet hat -: gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als
ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese Schumann'sche Romantik überwunden
ist? Schumann, in die "sächsische Schweiz" seiner Seele flüchtend,
halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss
nicht Byronisch! - seine Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss
bis zum Unrechte -, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner
Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher
Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig bei Seite
gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in
lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere
von Anbeginn: dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereigniss in
der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem
Maasse, Mozart es gewesen ist, - mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste
Gefahr, die Stimme für die Seele Europa's zu verlieren und zu einer blossen
Vaterländerei herabzusinken. -
246.
- Welche
Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das dritte Ohr hat! Wie
unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne
Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein "Buch"
genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie
widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele Deutsche wissen es und fordern es
von sich zu wissen, dass Kunst in jedem guten Satze steckt, - Kunst, die
errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss
über sein Tempo zum Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man
über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man
die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass
man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man
den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen räth, und wie zart und reich
sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können: wer unter bücherlesenden
Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen
anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man
hat zuletzt eben "das Ohr nicht dafür": und so werden die stärksten
Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor
Tauben verschwendet. - Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man plump
und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander verwechselte,
Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer
feuchten Höhle - er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Wiederklang - und einen
Anderen, der seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis
zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt,
welche beissen, zischen, schneiden will. -
247.
Wie wenig
der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat, zeigt die
Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche
liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern bloss mit den Augen: er hat seine
Ohren dabei in's Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las - es
geschah selten genug - sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man
wunderte sich, wenn jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen.
Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen
des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike öffentliche Welt ihre
Freude hatte. Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils die selben, wie die des
Rede-Stils; und dessen Gesetze hiengen zum Theil von der erstaunlichen
Ausbildung, den raffinirten Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern
Theil von der Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im
Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von Einem
Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero
vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal absinkend und Alles innerhalb Eines
Athemzugs: das sind Genüsse für antike Menschen, welche die Tugend daran, das
Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen
Schulung zu schätzen wussten: - wir haben eigentlich kein Recht auf die grosse
Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne! Diese Alten waren ja
insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, folglich Kritiker, -
damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten; in gleicher Weise, wie im vorigen
Jahrhundert, als alle Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei
ihnen das Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik -) auf die
Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art
Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen regt)
eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr kunstmässiger Rede: das
ist die von der Kanzel herab. Der Prediger allein wusste in Deutschland, was
eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft,
ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses
Gewissen: denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem
Deutschen Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird.
Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück
ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen
Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur "Litteratur" - ein
Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche
Herzen hinein wuchs und wächst: wie es die Bibel gethan hat.
248.
Es giebt
zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein
andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. Und ebenso giebt es
unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft
und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist -
die Griechen zum Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen
-; und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des
Lebens werden, - gleich den Juden, den Römern und, in aller Bescheidenheit
gefragt, den Deutschen? - Völker gequält und entzückt von unbekannten Fiebern
und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, verliebt und lüstern nach fremden
Rassen (nach solchen, welche sich "befruchten lassen" -) und dabei
herrschsüchtig wie Alles, was sich voller Zeugekräfte und folglich "von
Gottes Gnaden" weiss. Diese zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann
und Weib; aber sie missverstehen auch einander, - wie Mann und Weib.
249.
Jedes Volk
hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden. - Das Beste, was
man ist, kennt man nicht, - kann man nicht kennen.
250.
Was Europa
den Juden verdankt? - Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das
vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen Stil in der Moral, die
Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen,
die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten - und
folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil
jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der
Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, - vielleicht verglüht.
Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden -
dankbar.
251.
Man muss
es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und
politischen Ehrgeize leidet, leiden will -, mancherlei Wolken und Störungen über
den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den
Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische,
bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die
Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch
diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre dick verbundenen Köpfe
an -), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen
Geistes und Gewissens. Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen
gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit
verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen
anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum
Beispiel über die Juden: man höre. - Ich bin noch keinem Deutschen begegnet,
der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt auch die Ablehnung der
eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein
mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die
Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit,
insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen
Gefühls, - darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich
genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat (und noch
auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum "Jude"
fertig zu werden - so wie der Italiäner, der Franzose, der Engländer fertig
geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung -: das ist die deutliche
Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach
welchem man handeln muss. "Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und
namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!"
also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt
ist, so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht
werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste
und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter
den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen),
vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte,
- Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den "modernen
Ideen" nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich verändern,
immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, - als ein Reich,
das Zeit hat und nicht von Gestern ist -: nämlich nach dem Grundsatze "so
langsam als möglich!" Ein Denker, der die Zukunft Europa's auf seinem
Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft
macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten
und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. Das, was
heute in Europa "Nation" genannt wird und eigentlich mehr eine res
facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich
sieht -), ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares,
noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die
Juden-Art ist: diese "Nationen" sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen
Concurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in Acht nehmen! Dass die Juden, wenn
sie wollten - oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen
scheinen -, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über
Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten und Pläne
machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit
einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden,
sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem
Nomadenleben, dem "ewigen Juden" ein Ziel zu setzen -; und man sollte
diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen
Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich
und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen. Mit
aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr so wie der englische Adel
es thut. Es liegt auf der Hand, dass am unbedenklichsten noch sich die stärkeren
und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten,
zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem
Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und
Gehorchens - in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch - das Genie des
Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es
reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt -) hinzuthun, hinzuzüchten liesse.
Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschthümelei und Festrede
abzubrechen: denn ich rühre bereits an meinen Ernst, an das "europäische
Problem", wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa,
regierenden Kaste. -
252.
Das ist
keine philosophische Rasse - diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf
den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung
und Werth-Minderung des Begriffs "Philosoph" für mehr als ein
Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob sich Kant; Locke war es, von dem Schelling
sagen durfte: je méprise Locke"; im Kampfe mit der
englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit
Goethe) einmüthig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie,
welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander
strebten und sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun.
- Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener
Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle,
welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich
selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle fehlte - an eigentlicher Macht der
Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. -
Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum
Christenthume hält: sie braucht seine Zucht zur "Moralisirung" und
Veranmenschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und
brutaler als der Deutsche - ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch
frömmer als der Deutsche: er hat das Christenthum eben noch nöthiger. Für
feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch einen ächt
englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche
es aus guten Gründen als Heilmittel gebraucht wird, - das feinere Gift nämlich
gegen das gröbere: eine feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern
schon ein Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit und
Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache und durch
Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet, richtiger: ausgelegt
und umgedeutet; und für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden,
welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als
"Heilsarmee" moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die
verhältnissmässig höchste Leistung von "Humanität" sein, zu der es
gesteigert werden kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am
humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im Gleichniss (und
ohne Gleichniss -) zu reden: er hat in den Bewegungen seiner Seele und seines
Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht einmal die Begierde nach Takt und
Tanz, nach "Musik". Man höre ihn sprechen; man sehe die schönsten
Engländerinnen gehn - es giebt in keinem Lande der Erde schönere Tauben und
Schwäne, - endlich: man höre sie singen! Aber ich verlange zu viel .....
253.
Es giebt
Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie
ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige
Geister Reize und Verführungskräfte besitzen- - auf diesen vielleicht
unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist
achtbarer, aber mittelmässiger Engländer - ich nenne Darwin, John Stuart Mill
und Herbert Spencer - in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum
Übergewicht zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit
davon anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein
Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders
geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln
und in Schlüsse zu drängen: - sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein
in keiner günstigen Stellung zu den "Regeln". Zuletzt haben sie mehr
zu thun, als nur zu erkennen - nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu
bedeuten, neue Werthe darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist
vielleicht grösser, auch unheimlicher als man denkt: der Könnende im grossen
Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen, - während
andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwin's eine
gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz, etwas Englisches nicht übel
disponiren mag. - Vergesse man es zuletzt den Engländern nicht, dass sie schon
Ein Mal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen
Geistes verursacht haben: Das, was man "die modernen Ideen" oder
"die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts" oder auch "die französischen
Ideen" nennt - Das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel
erhoben hat -, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. Die
Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen gewesen, auch ihre
besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten und gründlichsten Opfer: denn
an der verdammlichen Anglomanie der "modernen Ideen" ist zuletzt die
âme française so dünn geworden und abgemagert, dass man sich ihres
sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen
Kraft, ihrer erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man
muss aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und
gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen: die europäische noblesse -
des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in jedem hohen Sinne
genommen - ist Frankreich's Werk und Erfindung, die europäische Gemeinheit, der
Plebejismus der modernen Ideen -Englands.-
254.
Auch jetzt
noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa's
und die' hohe Schule des Geschmacks: aber man muss dies "Frankreich des
Geschmacks" zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen:
- es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht
Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten,
Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche
den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen gemein: sie halten sich
die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des
demokratischen bourgeois. In der That wälzt sich heut im Vordergrunde ein
verdummtes und vergröbertes Frankreich, - es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss
Victor Hugo's, eine wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der
Selbstbewunderung gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter
Wille, sich der geistigen Germanisirung zu erwehren - und ein noch besseres
Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich
des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und
heimischer geworden, als er es je in Deutschland war; nicht zu reden von
Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange
schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in
Gestalt Taine's - das heisst des ersten lebenden Historikers - einen beinahe
tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je mehr sich
die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne
gestalten lernt, um so mehr wird sie "wagnerisiren", das darf man
vorhersagen, - sie thut es jetzt schon genug! Es ist dennoch dreierlei, was auch
heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes
Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz
aller freiwilligen oder unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des
Geschmacks: einmal die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen
an die "Form", für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend
anderen, erfunden ist: - dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten
nicht gefehlt und immer wieder, Dank der Ehrfurcht vor der "kleinen
Zahl", eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im übrigen
Europa sich suchen lässt -. Das Zweite, worauf die Franzosen eine Überlegenheit
über Europa begründen können, ist ihre alte vielfache moralistische Cultur,
welche macht, dass man im Durchschnitt selbst bei kleinen romanciers der
Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit
und Neugierde findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff
(geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar
Jahrhunderte moralistischer Art, welche, wie gesagt, Frankreich sich nicht
erspart hat; wer die Deutschen darum "naiv" nennt, macht ihnen aus
einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen Unerfahrenheit und
Unschuld in voluptate psychologica, die mit der Langweiligkeit des deutschen
Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist, - und als gelungenster Ausdruck einer
ächt französischen Neugierde und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter
Schauder mag Henri Beyle gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und
vorauslaufende Mensch, der mit einem Napoleonischen Tempo durch sein Europa,
durch mehrere Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und
Entdecker dieser Seele: - es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie
einzuholen, um einige der Räthsel nachzurathen, die ihn quälten und entzückten,
diesen wunderlichen Epicureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter
grosser Psycholog war -). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit:
im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens
gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge thun heisst, die
ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden periodisch zugewandtes und
abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und
ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau
in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, - unsrer
deutschen Krankheit des Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich
augenblicklich mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die
"grosse Politik" verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst,
welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt -). Auch
jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für
jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich sind, um
in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im Norden den Süden,
im Süden den Norden zu lieben wissen, - für die geborenen Mittelländler, die
"guten Europäer". - Für sie hat Bizet Musik gemacht, dieses letzte
Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn, - der ein Stück Süden
der Musik entdeckt hat.
255.
Gegen die
deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass Einer
den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im
Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung,
welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun,
ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil
sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück
verdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach,
muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der
Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren,
vielleicht böseren und geheimnissvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen
Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen
Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle deutsche Musik
thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen
der Wüste Recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
grossen schönen einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen
versteht. . . . . Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
darin bestünde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass
vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche
Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von grosser
Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen
moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug
zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. -
256.
Dank der
krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker
Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen
Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar
nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben,
nothwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann, - Dank Alledem und manchem heute
ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder
willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Europa
Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses
Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen
Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und
versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen,
oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den "Vaterländern",
- sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie "Patrioten"
wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal,
Heinrich Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard
Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen Missverständnisse
verführen lassen darf, - Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst
zu verstehen. Noch weniger freilich durch den ungesitteten Lärm, mit dem man
sich jetzt in Frankreich gegen Richard Wagner sperrt und wehrt: - die Thatsache
bleibt nichtsdestoweniger bestehen, dass die französische Spät-Romantik der
Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander, gehören.
Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt,
grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre
vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt - wohin? in
ein neues Licht? nach einer neuen Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was
alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten?
Gewiss ist, dass der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche
Weise suchten , diese letzten grossen Suchenden! Allesammt beherrscht von der
Litteratur bis in ihre Augen und Ohren - die ersten Künstler von
weltlitterarischer Bildung - meistens sogar selber Schreibende, Dichtende,
Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner gehört als Musiker
unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter
die Schauspieler); allesammt Fanatiker des Ausdrucks "um jeden Preis"
- ich hebe Delacroix hervor, den Nächstverwandten Wagner's -, allesammt grosse
Entdecker im Reiche des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch
grössere Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden,
allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus -, Virtuosen durch und durch, mit
unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborene
Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem
Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden; als Menschen
Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und
Schaffen eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten, - man denke zum
Beispiel an Balzac - zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch
Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche
ohne Gleichgewicht und Genuss; allesammt zuletzt an dem christlichen Kreuze
zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug und Recht: denn wer von ihnen wäre
tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des Antichrist gewesen? -) im
Ganzen eine verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch
emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert - und es ist das
Jahrhundert der Menge! - den Begriff "höherer Mensch" erst zu lehren
hatte Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner's darüber mit sich zu Rathe
gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin Deutsches giebt, oder ob
nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu
kommen: wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus
gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die
Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines Auftretens,
seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen Socialisten-Vorbilds
sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei einer feineren Vergleichung, zu
Ehren der deutschen Natur Richard Wagner's finden, dass er es in Allem stärker,
verwegener, härter, höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten
Jahrhunderts treiben könnte, - Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der
Barbarei noch näher stehen als die Franzosen -; vielleicht ist sogar das Merkwürdigste,
was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse für
immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar: die
Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der That bei weitem zu
frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch für den Geschmack
alter und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine Sünde wider die
Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner hat diese Sünde
reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben Tagen, als er - einen Geschmack
vorwegnehmend, der inzwischen Politik geworden ist - mit der ihm eignen religiösen
Vehemenz den Weg nach Rom , wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. -
Damit man mich, mit diesen letzten Worten, nicht missverstehe, will ich einige
kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es verrathen
werden, was ich will, - was ich gegen den "letzten Wagner" und seine
Parsifal-Musik will.
- Ist das
noch deutsch? -
Aus
deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen?
Und
deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen?
Deutsch
ist dies Priester-Händespreitzen,
Dies
weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen?
Und
deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln,
Dies
ungewisse Bimbambaumeln?
Dies
Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln,
Dies ganze
falsch verzückte Himmel-Überhimmeln?
- Ist Das
noch deutsch? -
Erwägt!
Noch steht ihr an der Pforte: -
Denn,
was ihr hört, ist Rom, - Rom's Glaube ohne Worte!
Neuntes Hauptstück:
Was
ist vornehm?
257.
Jede Erhöhung
des Typus "Mensch" war bisher das Werk einer aristokratischen
Gesellschaft - und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche
an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und
Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos
der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem
beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige
und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und
Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre
geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer
Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer,
seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die
Erhöhung des Typus "Mensch", die fortgesetzte "Selbst-Überwindung
des Menschen", um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu
nehmen. Freilich: man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer
aristokratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus
"Mensch" -) keinen humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit
ist hart. Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf
Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in
jedem furcht baren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz
ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere,
gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende
Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in
glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme
Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht vorerst
in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, - es waren die ganzeren
Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als "die ganzeren
Bestien"
258.
Corruption,
als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte Anarchie droht, und dass
der Grundbau der Affekte, der "Leben" heisst, erschüttert ist:
Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas
Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine Aristokratie, wie die Frankreichs am
Anfange der Revolution, mit einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und
sich selbst einer Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so
ist dies Corruption: - es war eigentlich nur der Abschlussakt jener Jahrhunderte
dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für Schritt ihre
herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur Funktion des Königthums
(zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück) herabgesetzt hatte. Das Wesentliche
an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als
Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen
Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, - dass sie deshalb mit gutem Gewissen
das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu unvollständigen
Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen.
Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft
willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine
ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren
Sein emporzuheben vermag: vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen
auf Java - man nennt sie Sipo Matador -, welche mit ihren Armen einen Eichbaum
so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf ihn gestützt,
in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur Schau tragen können. -
259.
Sich
gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen
dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen
Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich
deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre
Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies Princip
weiter nehmen wollte und womöglich gar als Grundprincip der Gesellschaft , so würde
es sich sofort erweisen als Das, was es ist: als Wille zur Verneinung des
Lebens, als Auflösungs- und Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den
Grund denken und sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst
ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren,
Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und
mindestens, mildestens, Ausbeutung, - aber wozu sollte man immer gerade solche
Worte gebrauchen, denen von Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt
ist? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die
Einzelnen sich als gleich behandeln - es geschieht in jeder gesunden
Aristokratie -, muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender
Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in
ihm gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen,
er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, -
nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil erlebt,
und weil Leben eben Wille zur Macht ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine
Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt
jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen
der Gesellschaft, denen "der ausbeuterische Charakter" abgehn soll: -
das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche,
welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die "Ausbeutung"
gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft
an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist
eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens
ist. - Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, - als Realität ist es das
Ur-Faktum aller Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! -
260.
Bei einer
Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf
Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig
mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft: bis sich mir endlich zwei
Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt
Herren-Moral und Sklaven-Moral; - ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren
und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum
Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige
Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander - sogar im selben Menschen,
innerhalb Einer Seele. Die moralischen Werthunterscheidungen sind entweder unter
einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die
beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde, - oder unter den Beherrschten, den
Sklaven und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es
sind, die den Begriff gut- bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände
der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende
empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von sich ab, an denen das
Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt: er verachtet
sie. Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz
"gut" und "schlecht" so viel bedeutet wie
"vornehm" und "verächtlich": - der Gegensatz
"gut" und "böse" ist anderer Herkunft. Verachtet wird der
Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende;
ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die
Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler,
vor Allem der Lügner: - es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das
gemeine Volk lügnerisch ist. "Wir Wahrhaftigen" - so nannten sich im
alten Griechenland die Adeligen. Es liegt auf der Hand, dass die moralischen
Werthbezeichnungen überall zuerst auf Menschen und erst abgeleitet und spät
auf Handlungen gelegt worden sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn
Moral-Historiker von Fragen den Ausgang nehmen wie "warum ist die
mitleidige Handlung gelobt worden?" Die vornehme Art Mensch fühlt sich als
werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt
"was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich", sie weiss sich
als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist wertheschaffend.
Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist
Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht,
die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines
Reichthums, der schenken und abgeben möchte: - auch der vornehme Mensch hilft
dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus
einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in
sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden
und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und
Ehrerbietung vor allem Strengen und Härten hat. "Ein hartes Herz legte
Wotan mir in die Brust" heisst es in einer alten skandinavischen Saga: so
ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht gedichtet. Eine
solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum Mitleiden gemacht zu sein:
weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt "wer jung schon kein hartes
Herz hat, dem wird es niemals hart". Vornehme und Tapfere, welche so
denken, sind am entferntesten von jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder
im Handeln für Andere oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen
sieht; der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine
Grundfeindschaft und Ironie gegen "Selbstlosigkeit" gehört eben so
bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und Vorsicht vor
den Mitgefühlen und dem "warmen Herzen". - Die Mächtigen sind es,
welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfindung. Die tiefe
Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen - das ganze Recht steht auf dieser
doppelten Ehrfurcht -, der Glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren
und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn
umgekehrt die Menschen der "modernen Ideen" beinahe instinktiv an den
"Fortschritt" und die "Zukunft" glauben und der Achtung vor
dem Alter immer mehr ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die
unvornehme Herkunft dieser "Ideen". Am meisten ist aber eine Moral der
Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der Strenge
ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten habe; dass man
gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder
"wie es das Herz will" handeln dürfe und jedenfalls "jenseits
von Gut und Böse" -: hierhin mag Mitleiden und dergleichen gehören. Die Fähigkeit
und Pflicht zu langer Dankbarkeit und langer Rache - beides nur innerhalb seines
Gleichen -, die Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in
der Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als
Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, - im Grunde, um gut
freund sein zu können): Alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral,
welche, wie angedeutet, nicht die Moral der "modernen Ideen" ist und
deshalb heute schwer nachzufühlen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist.
- Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt,
dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien,
Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das Gleichartige ihrer
moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich wird ein pessimistischer
Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine
Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig
für die Tugenden des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit
des Misstrauens gegen alles "Gute", was dort geehrt wird -, er möchte
sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden
die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen,
Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülfbereite
Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu
Ehren -, denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die
einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist
wesentlich Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten
Gegensatzes "gut" und " böse" : - in's Böse wird die Macht
und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und
Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der Sklaven-Moral
erregt also der "Böse" Furcht; nach der Herren Moral ist es gerade
der "Gute", der Furcht erregt und erregen will, während der
"schlechte" Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz
kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, zuletzt
nun auch an den "Guten" dieser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt
- sie mag leicht und wohlwollend sein -, weil der Gute innerhalb der
Sklaven-Denkweise jedenfalls der ungefährliche Mensch sein muss: er ist gutmüthig,
leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bonhomme. überall, wo die
Sklaven-Moral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte
"gut" und "dumm" einander anzunähern. - Ein letzter
Grundunterschied: das Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und
die Feinheiten des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwendig zur
Sklaven-Moral und -Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht,
in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und
Werthungsweise ist. - Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die
Liebe als Passion - es ist unsre europäische Spezialität - schlechterdings
vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre Erfindung den provençalischen
Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des "gai
saber", denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt. -
261.
Zu den
Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen
sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo
eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für
ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken
suchen, welche sie selbst von sich nicht haben - und also auch nicht
"verdienen" -, und die doch hinterdrein an diese gute Meinung selber
glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor
sich selbst, zur andren Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit
gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr
redet, anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen: "ich kann mich über meinen
Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade so, wie ich
ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, - aber das ist keine Eitelkeit
(sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, Das, was "Demuth",
auch Bescheidenheit" genannt wird)." Oder auch: "ich kann mich
aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer freuen, vielleicht weil ich
sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer Freuden erfreue, vielleicht auch weil
ihre gute Meinung den Glauben an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt
und kräftigt, vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo
ich sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, - aber das ist
Alles nicht Eitelkeit." Der vornehme Mensch muss es sich erst mit Zwang,
namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit
unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der
gemeine Mensch nur Das war, was er galt: - gar nicht daran gewöhnt, Werthe
selbst anzusetzen, mass er auch sich keinen andern Werth bei, als seine Herren
ihm beimassen (es ist das eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man
es als die Folge eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche
Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich
dann derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer
"guten" Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man
denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und
Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern ablernen,
und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). Thatsächlich wird
nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der demokratischen Ordnung der Dinge
(und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich
vornehme und seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben
und von sich "gut zu denken", mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet
werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und gründlicher
einverleibten Hang gegen sich, - und im Phänomene der "Eitelkeit"
wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle freut sich über
jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits von allen
Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch),
ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet: denn er unterwirft sich
beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus jenem ältesten Instinkte der
Unterwerfung, der an ihm ausbricht. - Es ist "der Sklave" im Blute des
Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven - und wie viel
"Sklave" ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig! welcher
zu guten Meinungen über sich zu verführen sucht; es ist ebenfalls der Sklave,
der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie
nicht hervorgerufen hätte. - Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.
262.
Eine Art
entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich
gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt weiss man aus den Erfahrungen der Züchter,
dass Arten, denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von
Schutz und Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation
des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an monströsen
Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine
alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es
unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: es sind da Menschen bei
einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens,
weil sie sich durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen,
ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz,
unter denen die Variation begünstigt ist; die Art hat sich als Art nöthig, als
Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit
der Form überhaupt durchsetzen und dauerhaft machen kann, im beständigen
Kampfe mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden
Unterdrückten. Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften
vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz,
noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat: diese Eigenschaften nennt sie
Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie gross. Sie thut es mit Härte, ja
sie will die Härte; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung
der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse
von Alt und jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden in's Auge
fassen): - sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die Tugenden, unter dem
Namen "Gerechtigkeit". Ein Typus mit wenigen, aber sehr starken Zügen,
eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, geschlossener und
verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten Gefühle für die Zauber
und nuances der Societät) wird auf diese Weise über den Wechsel der
Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige Kampf mit immer gleichen ungünstigen
Bedingungen ist, wie gesagt, die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart
wird. Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt
nach; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel
zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit Einem
Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt sich nicht
mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, - wollte sie fortbestehn, so könnte
sie es nur als eine Form des Luxus, als archaisirender Geschmack. Die Variation,
sei es als Abartung (in's Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und
Monstrosität, ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem
Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen
Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander und oft in einander
verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen
und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo im Wetteifer des Wachsthums und ein
ungeheures Zugrundegehen und Sich-zu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander
gewendeten, gleichsam explodirenden Egoismen, welche "um Sonne und
Licht" mit einander ringen und keine Grenze, keine Zügelung, keine
Schonung mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst
war es, welche die Kraft in's Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf so
bedrohliche Weise gespannt hat- - jetzt ist, jetzt wird sie "überlebt".
Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere,
vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das
"Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu
eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung.
Lauter neue Wozu's, lauter neue Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr,
Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb
und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen
Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles
Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die, der
jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbniss zu eigen sind.
Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's
Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Kind,
in's eigne Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: was
werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit
heraufkommen? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und Eckensteher, dass es
schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt und verderben macht, dass
Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch ausgenommen, die unheilbar Mittelmässigen.
Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich
fortzupflanzen, - sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden;
"seid wie sie! werdet mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige
Moral, die noch Sinn hat, die noch Ohren findet. - Aber sie ist schwer zu
predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit! - sie darf es ja niemals
eingestehn, was sie ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und
Pflicht und Nächstenliebe reden, - sie wird noth haben, die Ironie zu
verbergen! -
263.
Es giebt
einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines
hohen Ranges ist; es giebt eine Lust an den Nuancen der Ehrfurcht, die auf
vornehme Abkunft und Gewohnheiten rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe
einer Seele wird gefährlich auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber
geht, das ersten Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität
vor zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird: Etwas, das,
unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich verhüllt und
verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges geht. Zu wessen Aufgabe
und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der wird sich in mancherlei Formen
gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Werth einer Seele, die unverrückbare
eingeborne Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren
Instinkt der Ehrfurcht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine:
die Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser hervor,
wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen
Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen Schicksals vorübergetragen
wird; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des
Auges, ein Stillewerden aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele
die Nähe des Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher
die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das
beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume
verdankt: solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu
ihrem Schutz eine von Aussen kommende Tyrannei von Autorität, um jene
Jahrtausende von Dauer zu gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und
auszurathen. Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und
Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass sie
nicht an Alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor denen sie
die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten hat, - es ist
beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit. Umgekehrt wirkt an den
sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der "modernen Ideen",
vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme
Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an Alles gerührt, geleckt,
getastet wird; und es ist möglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke,
namentlich unter Bauern, immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und
Takt der Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes,
den Gebildeten.
264.
Es ist aus
der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und
beständigsten gethan haben: ob sie etwa emsige Sparer waren und Zubehör eines
Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden,
bescheiden auch in ihren Tugenden; oder ob sie an's Befehlen von früh bis spät
gewöhnt lebten, rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren
Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburt und
des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben - ihrem
"Gotte" - zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten
Gewissens, welches vor jeder Vermittlung erröthet. Es ist gar nicht möglich,
dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und
Altvordern im Leibe habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist
das Problem der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein
Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein
Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei - wie diese Drei zusammen zu allen
Zeiten den eigentlichen Pöbel-Typus ausgemacht haben - dergleichen muss auf das
Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut; und mit Hülfe der besten
Erziehung und Bildung wird man eben nur erreichen, über eine solche Vererbung
zu täuschen. - Und was will heute Erziehung und Bildung Anderes! In unsrem sehr
volksthümlichen, will sagen pöbelhaften Zeitalter muss "Erziehung"
und "Bildung" wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, - über die
Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein
Erzieher, der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen
beständig zuriefe "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr
seid!" - selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde nach
einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam expellere: mit
welchem Erfolge? "Pöbel"
usque recurret. -
265.
Auf die
Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle ich hin: der
Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren
Glauben, dass einem Wesen, wie "wir sind", andre Wesen von Natur
unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. Die vornehme Seele nimmt
diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl
von Härte Zwang, Willkür darin, vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge
begründet sein mag: - suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen
"es ist die Gerechtigkeit selbst". Sie gesteht sich, unter Umständen,
die sie anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt;
sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie sich unter
diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen Sicherheit in Scham und
zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit sich selbst hat, - gemäss einer
eingebornen himmlischen Mechanik, auf welche sich alle Sterne verstehn. Es ist
ein Stück ihres Egoismus mehr, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im
Verkehre mit ihres Gleichen - jeder Stern ist ein solcher Egoist -: sie ehrt
sich in ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie zweifelt
nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als Wesen alles Verkehrs
ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört. Die vornehme Seele
giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen und reizbaren Instinkte der
Vergeltung heraus, welcher auf ihrem Grunde liegt. Der Begriff "Gnade"
hat inter pares keinen Sinn und Wohlgeruch; es mag eine sublime Art geben,
Geschenke von Oben her gleichsam über sich ergehen zu lassen und wie Tropfen
durstig aufzutrinken: aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele
kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier: sie blickt ungern überhaupt nach
"Oben", - sondern entweder vor sich, horizontal und langsam, oder
hinab: - sie weiss sich in der Höhe.-
266.
"Wahrhaft
hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst sucht". - Goethe an
Rath Schlosser.
267.
Es giebt
ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon ihre Kinder lehren:
siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der eigentliche Grundhang
in späten Civilisationen: ich zweifle nicht, dass ein antiker Grieche auch an
uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserkennen würde, -
damit allein schon giengen wir ihm "wider den Geschmack". -
268.
Was ist
zuletzt die Gemeinheit? - Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber
sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und
zusammen kommende Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht,
um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die
selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss
zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb verstehen sich die
Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige verschiedener Völker,
selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn Menschen
lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse,
der Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht daraus Etwas, das "sich
versteht", ein Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft
wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner kommende: auf sie
hin versteht man sich, schnell und immer schneller - die Geschichte der Sprache
ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses -; auf dies schnelle Verstehen
hin verbindet man sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit,
um so grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth thut,
übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die
Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren können. Noch bei jeder
Freundschaft oder Liebschaft macht man diese Probe: Nichts derart hat Dauer,
sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt,
meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem
"ewigen Missverständniss": das ist jener wohlwollende Genius, der
Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen abhält,
zu denen Sinne und Herz rathen - und nicht irgend ein Schopenhauerischer
"Genius der Gattung" -!) Welche Gruppen von Empfindungen innerhalb
einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben,
das entscheidet über die gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt
zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas
vom Aufbau seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche
Noth sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander
angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche
Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte
Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im letzten Grunde das Erleben von nur
durchschnittlichen und gemeinen Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über
den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren,
die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die
Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht
allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich
selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen,
allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in's Ähnliche,
Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte - in's Gemeine! - zu kreuzen.
269.
Je mehr
ein Psycholog - ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather
- sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so grösser wird
seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken: er hat Härte und Heiterkeit nöthig,
mehr als ein andrer Mensch. Die Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren
Menschen, der fremder gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist
schrecklich, eine solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter
des Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte
innere "Heillosigkeit" des höheren Menschen, dieses ewige "Zu spät!"
in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch die ganze
Geschichte hindurch, - kann vielleicht eines Tages zur Ursache davon werden,
dass er mit Erbitterung sich gegen sein eignes Loos wendet und einen Versuch der
Selbst-Zerstörung macht, - dass er selbst "verdirbt". Man wird fast
bei jedem Psychologen eine verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit
alltäglichen und wohlgeordneten Menschen wahrnehmen: daran verräth sich, dass
er immer einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht,
weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm sein
"Handwerk" auf's Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem Gedächtniss
ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht zum Verstummen: er hört
mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort verehrt, bewundert, geliebt, verklärt
wird, wo er gesehen hat, - oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er
irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die
Paradoxie seiner Lage so weit in's Schauerliche, dass die Menge, die Gebildeten,
die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden neben der grossen
Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse Verehrung lernen, - die Verehrung
für "grosse Männer" und Wunderthiere, um derentwillen man das
Vaterland, die Erde, die Würde der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren
hält, auf welche man die Jugend hinweist, hinerzieht .... Und wer weiss, ob
sich nicht bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die
Menge einen Gott anbetete, - und dass der "Gott" nur ein armes
Opferthier war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, und das
"Werk" selbst ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der
Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das
"Werk", das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den,
welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die "grossen Männer",
wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der
Welt der geschichtlichen Werthe herrscht die Falschmünzerei. Diese grossen
Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol, - so
wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen: Menschen der Augenblicke,
begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im Misstrauen und Vertrauen leichtfertig
und plötzlich; mit Seelen, an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt
werden soll; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft
mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss,
oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern um die
Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen - das Volk nennt sie
dann wohl Idealisten -, oft mit einem langen Ekel kämpfend, mit einem
wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt macht und sie zwingt, nach
gloria zu schmachten und den "Glauben an sich" aus den Händen
berauschter Schmeichler zu fressen: - welche Marter sind diese grossen Künstler
und überhaupt die höheren Menschen für Den, der sie einmal errathen hat! Es
ist so begreiflich, dass sie gerade vom Weibe - welches hellseherisch ist in der
Welt des Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und
rettungssüchtig - so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten Mitleids
erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge, nicht versteht und
mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht
sich regelmässig über seine Kraft; das Weib möchte glauben, dass Liebe Alles
vermag, - es ist sein eigentlicher Glaube. Ach, der Wissende des Herzens erräth,
wie arm, dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als
rettend auch die beste tiefste Liebe ist! - Es ist möglich, dass unter der
heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle
vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen liegt: das Martyrium des
unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das an keiner Menschen-Liebe je genug
hatte, das Liebe, Geliebt-werden und Nichts ausserdem verlangte, mit Härte, mit
Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten;
die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der
die Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben
wollten, - und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott
erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- können ist, - der sich der
Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist! Wer so fühlt,
wer dergestalt um die Liebe weiß -, sucht den Tod. - Aber warum solchen
schmerzlichen Dingen nachhängen? Gesetzt, dass man es nicht muss. -
270.
Der
geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat - es bestimmt
beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können -, seine schaudernde
Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und gefärbt ist, vermöge seines
Leidens mehr zu wissen, als die Klügsten und Weisesten wissen können, in
vielen fernen entsetzlichen Welten bekannt und einmal "zu Hause"
gewesen zu sein, von denen "ihr nichts wisst!"....... dieser geistige
schweigende Hochmuth des Leidenden, dieser Stolz des Auserwählten der
Erkenntniss, des "Eingeweihten", des beinahe Geopferten findet alle
Formen von Verkleidung nöthig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und
mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im
Schmerz ist, zu schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der
feinsten Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin
zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig
nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre setzt. Es giebt
"heitere Menschen", welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um
ihretwillen missverstanden werden: - sie wollen missverstanden sein. Es giebt
"wissenschaftliche Menschen", welche sich der Wissenschaft bedienen,
weil dieselbe einen heiteren Anschein giebt, und weil Wissenschaftlichkeit
darauf schliessen lässt, dass der Mensch oberflächlich ist: - sie wollen zu
einem falschen Schlusse verführen. Es giebt freie freche Geister, welche
verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen
sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges
allzugewisses Wissen. - Woraus sich ergiebt, dass es zur feineren Menschlichkeit
gehört, Ehrfurcht "vor der Maske" zu haben und nicht an falscher
Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.
271.
Was am
tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der
Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft
aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt es dabei - sie "können
sich nicht riechen!" Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit
ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen
Heiligen: denn eben das ist Heiligkeit - die höchste Vergeistigung des
genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück
des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus
der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der "Trübsal", in's
Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt -: eben so sehr als ein solcher Hang
auszeichnet - es ist ein vornehmer Hang -, trennt er auch. - Das Mitleiden des
Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des Menschlichen, Allzumenschlichen.
Und es giebt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als
Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird .....
272.
Zeichen
der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflichten für Jedermann
herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen
wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.
273.
Ein
Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn
begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmniss - oder als
zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche hochgeartete Güte gegen
Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die
Ungeduld und sein Bewusstsein, bis dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein
- denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den
Zweck verbirgt -, verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die
Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat.
274.
Das
Problem der Wartenden. - Es sind Glücksfälle dazu nöthig und vielerlei
Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems
schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt - "zum Ausbruch",
wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht, und in allen Winkeln
der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wiefern sie warten, noch
weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät,
jener Zufall, der die "Erlaubniss" zum Handeln giebt, - dann, wenn
bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist;
und wie Mancher fand, eben als er "aufsprang", mit Schrecken seine
Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! "Es ist zu spät"
- sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz.
- Sollte, im Reiche des Genie's, der "Raffael ohne Hände", das Wort
im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel
sein? - Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände,
die es nöthig hat, um den
, "die rechte
Zeit" - zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!
275.
Wer das
Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer nach dem, was
niedrig und Vordergrund an ihm ist - und verräth sich selbst damit.
276.
Bei aller
Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran,
als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen grösser sein, ihre
Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der
Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. - Bei einer Eidechse wächst
ein Finger nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. -
277.
- Schlimm
genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat,
merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte
wissen müssen, bevor man zu bauen - anfieng. Das ewige leidige "Zu spät!"
- Die Melancholie alles Fertigen!.....
278.
-
Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe,
mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt
aus jeder Tiefe wieder an's Licht gekommen - was suchte es da unten? -, mit
einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit
einer Hand, die nur noch langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich
hier aus: diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, - erhole dich! Und wer
du auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung? Nenne es
nur: was ich habe, biete ich dir an! - "Zur Erholung? Zur Erholung? Oh du
Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich bitte - -" Was? Was?
sprich es aus! - "Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!" .....
279.
Die
Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind: sie
haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken
möchten, aus Eifersucht, - ach, sie wissen zu gut, dass es ihnen davonläuft!
280.
"Schlimm!
Schlimm! Wie? geht er nicht - zurück?" - Ja! Aber ihr versteht ihn
schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie jeder, der einen grossen
Sprung thun will. - -
281.
-
"Wird man es mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt: ich
habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz seltnen Fällen,
nur gezwungen, immer ohne Lust "zur Sache", bereit, von
"Mir" abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss, Dank einem
unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der Selbst-Erkenntniss, das
mich so weit geführt hat, selbst am Begriff "unmittelbare
Erkenntniss", welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in
adjecto zu empfinden: - diese ganze Thatsache ist beinahe das Sicherste, was ich
über mich weiss. Es muss eine Art Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über
mich zu glauben. - Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber glücklicherweise
keins für meine eigenen Zähne. - Vielleicht verräth es die species, zu der
ich gehöre? - Aber nicht mir: wie es mir selbst erwünscht genug ist."
282.
"Aber
was ist dir begegnet?" - "Ich weiss es nicht, sagte er zögernd;
vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen." - Es kommt
heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch plötzlich
rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, schreit, tobt, alle Welt
beleidigt - und endlich bei Seite geht, beschämt, wüthend über sich, - wohin?
wozu? Um abseits zu verhungern? Um an seiner Erinnerung zu ersticken? - Wer die
Begierden einer hohen wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch
gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross
sein: heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes
Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann
er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch
"zugreift" - vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. - Wir haben
wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten; und
gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene
gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung
über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht, - den Nachtisch-Ekel.
283.
Es ist
eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, dass man überhaupt
loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht übereinstimmt: - im andern
Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht -
freilich eine Selbstbeherrschung, die einen artigen Anlass und Anstoss bietet,
um beständig missverstanden zu werden. Man muss, um sich diesen wirklichen
Luxus von Geschmack und Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln
des Geistes leben, vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und
Fehlgriffe noch durch ihre Feinheit belustigen, - oder man wird es theuer büssen
müssen! - "Er lobt mich: also giebt er mir Recht" - diese Eselei von
Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es bringt die
Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft.
284.
Mit einer
ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits -. Seine Affekte, sein
Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für
Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel: - man muss nämlich
ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe
sich bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in
die Augen, noch weniger in unsre "Gründe" sehn darf. Und jenes spitzbübische
und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr
seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der
Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang
und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch
und Mensch - "in Gesellschaft" - unvermeidlich-unreinlich zugehn muss.
Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann - "gemein".
285.
Die grössten
Ereignisse und Gedanken - aber die grössten Gedanken sind die grössten
Ereignisse - werden am spätesten begriffen: die Geschlechter, welche mit ihnen
gleichzeitig sind, erleben solche Ereignisse nicht, - sie leben daran vorbei. Es
geschieht da Etwas, wie im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt
am spätesten zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der
Mensch, dass es dort - Sterne giebt. "Wie viel Jahrhunderte braucht ein
Geist, um begriffen zu werden?" - das ist auch ein Maassstab, damit schafft
man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut: für Geist und
Stern. -
286.
"Hier
ist die Aussicht frei, der Geist erhoben". - Es giebt aber eine umgekehrte
Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat -
aber hinab blickt.
287.
- Was ist
vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort "vornehm"? Woran verräth
sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der
beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles undurchsichtig und bleiern wird,
den vornehmen Menschen? - Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen, -
Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich -; es sind auch die
"Werke" nicht. Man findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug
von Solchen, welche durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem
Vornehmen hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfniss nach dem Vornehmen ist
von Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und
geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es sind nicht die
Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung
feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande
wieder aufzunehmen: irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über
sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch
nicht verlieren lässt.- Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.-
288.
Es giebt
Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich
drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor die verrätherischen Augen
halten (- als ob die Hand kein Verräther wäre! -): schliesslich kommt es immer
heraus, dass sie Etwas haben, das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der
feinsten Mittel, um wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit
Erfolg dümmer zu stellen als man ist - was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth
ist wie ein Regenschirm -, heisst Begeisterung: hinzugerechnet, was hinzu gehört,
zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es wissen musste -: vertu est
enthousiasme.
289.
Man hört
den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede,
Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus
seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere
Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und
Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche
zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle - sie kann ein Labyrinth, aber auch
ein Goldschacht sein - zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter
und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne
Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas
Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der
Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph - gesetzt, dass ein
Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war - seine eigentlichen und letzten
Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um
zu verbergen, was man bei sich birgt? - ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph
"letzte und eigentliche" Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm
nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse - eine
umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund
hinter jedem Grunde, unter jeder "Begründung". Jede Philosophie ist
eine Vordergrunds-Philosophie - das ist ein Einsiedler-Urtheil: "es ist
etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte, sich
umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte, - es ist
auch etwas Misstrauisches daran." Jede Philosophie verbirgt auch eine
Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.
290.
Jeder
tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das
Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit; am
Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht: "ach,
warum wollt ihres auch so schwer haben, wie ich?"
291.
Der
Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, den
andern Thieren weniger durch Kraft als durch List und Klugheit unheimlich, hat
das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als einfach zu geniessen; und
die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt
ein Genuss im Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört
vielleicht viel Mehr in den Begriff "Kunst" hinein, als man gemeinhin
glaubt.
292.
Ein
Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt,
sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eignen Gedanken wie von
Aussen her, wie von Oben und Unten her, als von seiner Art Ereignissen und
Blitzschlägen getroffen wird; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches
mit neuen Blitzen schwanger geht; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es
immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph: ach,
ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, - aber zu
neugierig ist, um nicht immer wieder zu sich zu kommen ......
293.
Ein Mann,
der sagt: "das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen
und gegen Jedermann vertheidigen"; ein Mann, der eine Sache führen, einen
Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen
Verwegenen strafen und niederwerfen kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein
Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern
zufallen und von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist, - wenn
ein solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! Aber was liegt am
Mitleiden Derer, welche leiden! Oder Derer, welche gar Mitleiden predigen! Es
giebt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfindlichkeit und
Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der
Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem
Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte, - es giebt einen förmlichen
Cultus des Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen
"Mitleid" getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die
Augen. - Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig und gründlich
in den Bann thun; und ich wünsche endlich, dass man das gute Amulet "gai
saber" sich dagegen um Herz und Hals lege, - "fröhliche
Wissenschaft", um es den Deutschen zu verdeutlichen.
294.
Das
olympische Laster. - Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter Engländer dem
Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu schaffen suchte -
"das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder
denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird" (Hobbes) -, würde ich mir
sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens
- bis hinauf zu denen, die des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt,
dass auch Götter philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat
-, so zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue
Weise zu lachen wissen - und auf Unkosten aller ernsten Dinge! Götter sind
spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen
nicht lassen.
295.
Das Genie
des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene
Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele
hinabzusteigen weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in
dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft
es gehört, dass er zu scheinen versteht - und nicht Das, was er ist, sondern
was Denen, die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu drängen,
um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: - das Genie des Herzens,
das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht und horchen lehrt, das die
rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, - still zu
liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele -; das
Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und
zierlicher greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den
Tropfen Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine
Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen
Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen Berührung
jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem
Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als
zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer
vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die
noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens
und Zurückströmens ...... aber was thue ich, meine Freunde? Von wem rede ich
zu euch? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen
nannte? es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst erriethet, wer dieser fragwürdige
Geist und Gott ist, der in solcher Weise gelobt sein will. Wie es nämlich einem
jeden ergeht, der von Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so
sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg
gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser immer wieder,
kein Geringerer nämlich, als der Gott Dionysos, jener grosse Zweideutige und
Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlichkeit und
Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe - als der Letzte, wie mir scheint,
der ihm ein Opfer dargebracht hat: denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte,
was ich damals that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die
Philosophie dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund, - ich, der
letzte jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos: und ich dürfte wohl endlich
einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so weit es mir erlaubt
ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben? Mit halber Stimme, wie billig:
denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes,
Wunderliches, Unheimliches. Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also
auch Götter philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich
ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen möchte, -
unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, es sei denn, dass
sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt: denn ihr glaubt heute ungern,
wie man mir verrathen hat, an Gott und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der
Freimüthigkeit meiner Erzählung weiter gehn muss, als den strengen
Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist? Gewisslich gieng der genannte Gott
bei dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele
Schritt mir voraus .... ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach
Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, viel Rühmens
von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner gewagten Redlichkeit,
Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen
Plunder und Prunk weiss ein solcher Gott nichts anzufangen. "Behalte dies,
würde er sagen, für dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat! Ich
- habe keinen Grund, meine Blösse zu decken!" - Man erräth: es fehlt
dieser Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham? - So sagte er
einmal: "unter Umständen liebe ich den Menschen - und dabei spielte er auf
Ariadne an, die zugegen war -: der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes
erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es findet sich in
allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach,
wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als
er ist." - "Stärker, böser und tiefer?" fragte ich erschreckt.
"Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer; auch schöner"
- und dazu lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie
als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich:
es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham -; und es giebt überhaupt gute Gründe
dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stücken die Götter insgesammt bei uns
Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen sind - menschlicher ...
296.
Ach, was
seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange
her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen,
dass ihr mich niesen und lachen machtet - und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit
ausgezogen, und einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu
werden: so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so
langweilig! Und war es jemals anders? Welche Sachen schreiben und malen wir denn
ab, wir Mandarinen mit chnesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich
schreiben lassen, was vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das,
was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur
abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel,
die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen, -
mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde
und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag ist es, ihr meine geschriebenen
und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht,
viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths: -
aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen
Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten - - schlimmen
Gedanken!
Aus hohen
Bergen.
Nachgesang.
Oh Lebens
Mittag! Feierliche Zeit!
War's
nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau
Im Höchsten
ward für euch mein Tisch gedeckt -
- Da seid
ihr, Freunde! - Weh, doch ich bins' nicht,
Ein Andrer
ward ich? Und mir selber fremd?
Ich
suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
- Ihr
alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,
Ein schlimmer
Jäger ward ich! - Seht, wie steil
Ihr wendet
euch? - Oh Herz, du trugst genung,
Was je uns
knüpfte, Einer Hoffnung Band, -
Nicht
Freunde mehr, das sind - wie nenn' ich's doch? -
Oh
Jugend-Sehnen, das sich missverstand!
Dies
Lied ist aus, - der Sehnsucht süsser Schrei
Nun feiern
wir, vereinten Siegs gewiss, |
Friedrich Nietzsche
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|
Glanz@Elend
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