Adolph
Franz Friedrich Freiherr von Knigge,
geb, 14. Februar 1752 in Bredenbeck am Deister.
1769 bis 1772 Jurastudium in Göttingen.
1772
Anstellung als Hofjunker und Assessor der Kriegs- und Domänenkasse in Kassel.
1773 wurde Knigge in die Kasseler Loge "Zum gekrönten Löwen"
aufgenommen.
Auf
Empfehlung von Johann Wolfgang von Goethes wurde Knigge 1776 weimarischer
Kammerherr in Hanau.
1779 wurde Knigge als "a Cygno" Mitglied der Strikten Observanz und im
November des darauffolgenden Jahres gründete er den Freimaurer-Club in
Frankfurt a. M.
Juli 1780 bis Juli 1784 war Knigge einer der zentralen Köpfe des
Illuminatenordens. Durch sein Eintreten für die Menschenrechte geriet er bei
seinen aristokratischen Gönnern in Mißkredit und verlor sein Vermögen.
Knigge studierte die Philosophie von Thomas Hobbes, übersetzte Jean-Jacques
Rousseaus' "Bekenntnisse" und entwickelte eine praktische
Moralphilosophie.
1788 erschien seine Gesellschaftslehre "Über den Umgang mit Menschen“.
1790 erhielt eine Stelle als Oberhauptmann der braunschweigisch-lüneburgischen
Regierung und Scholarch in Bremen.
Adolph Franz Friedrich Freiherr von Knigge starb am 6. Mai 1796 in Bremen.
Über
den Umgang mit Menschen
Erstes Kapitel
Allgemeine Bemerkungen und Vorschriften über den Umgang mit Menschen
1.
Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er sich selbst macht. Das
ist ein goldener Spruch, ein reiches Thema zu einem Folianten über den esprit
de conduite und über die Mittel, in der Welt seinen Zweck zu erlangen; ein
Satz, dessen Wahrheit auf die Erfahrung aller Zeitalter gestützt ist. Diese
Erfahrung lehrt den Abenteurer und Großsprecher, sich bei dem Haufen für einen
Mann von Wichtigkeit auszugeben, von seinen Verbindungen mit Fürsten und
Staatsmännern, mit Männern, welche nicht einmal von seiner Existenz wissen, in
einem Tone zu reden, der ihm, wo nichts mehr, doch wenigstens manche freie
Mahlzeit und den Zutritt in den ersten Häusern erwirbt. Ich habe einen Menschen
gekannt, der auf diese Art von seiner Vertraulichkeit mit dem Kaiser Joseph und
dem Fürsten Kaunitz redete, obgleich ich ganz gewiß wußte, daß diese ihn
kaum dem Namen nach, und zwar als einen unruhigen Kopf und Pasquillanten
kannten. Indessen hatte er hierdurch, da niemand genauer nachfragte, sich auf
eine kurze Zeit in ein solches Ansehn gesetzt, daß Leute, die bei des Kaisers
Majestät etwas zu suchen hatten, sich an ihn wendeten. Dann schrieb er auf so
unverschämte Art an irgendeinen Großen in Wien und sprach in diesem Briefe von
seinen übrigen vornehmen Freunden daselbst, daß er zwar nicht Erlangung seines
Zwecks, aber doch manche höfliche Antwort erschlich, mit welcher er dann weiter
wucherte.
Diese Erfahrung macht den frechen Halbgelehrten so dreist, über Dinge zu
entscheiden, wovon er nicht früher als eine Stunde vorher das erste Wort
gelesen oder gehört hat, aber so zu entscheiden, daß selbst der anwesende
bescheidene Literator es nicht wagt, zu widersprechen, noch Fragen zu tun, die
des Schwätzers Fahrzeug aufs Trockene werfen könnten.
Diese Erfahrung ist es, durch welche der empordringende Dummkopf sich zu den
ersten Stellen im Staat hinaufarbeitet, die verdienstvollsten Männer zu Boden
tritt und niemand findet, der ihn in seine Schranken zurückwiese.
Sie ist es, durch welche sich die unbrauchbarsten, schiefsten Genies, Menschen
ohne Talent und Kenntnisse, Plusmacher und Windbeutel bei den Großen der Erde
unentbehrlich zu machen verstehen.
Sie ist es, die größtenteils den Ruf von Gelehrten, Musikern und Malern
bestimmt.
Auf diese Erfahrung gestützt, fordert der fremde Künstler für ein Stück
hundert Louisdor, das der einheimische, zehnfach besser gearbeitet, um fünfzig
Taler verkaufen würde; allein man reißt sich um des Ausländers Werke; er kann
nicht so viel fertig machen, als von ihm gefordert wird, und am Ende läßt er
bei dem Einheimischen arbeiten und verkauft das für ultramontanische Ware.
Auf diese Erfahrung gestützt, erschleicht sich der Schriftsteller eine
vorteilhafte Rezension, wenn er in der Vorrede zu dem zweiten Teile seines
langweiligen Buchs mit der schamlosesten Frechheit von dem Beifalle redet, womit
Kenner und Gelehrte, deren Freundschaft er sich rühmt, den ersten Teil beehrt
haben.
Diese Erfahrung gibt dem vornehmen Bankerottierer, der Geld borgen will und nie
wieder bezahlen kann, den Mut, das Anlehn in solchen Ausdrücken zu fordern, daß
der reiche Wucherer es für Ehre hält, sich von ihm betrügen zu lassen.
Fast alle Arten von Bitten um Schutz und Beförderung, die in diesem Tone
vorgetragen werden, finden Eingang und werden nicht abgeschlagen, dahingegen
Verachtung, Zurücksetzung und nicht erfüllte billige Wünsche fast immer der
Preis des bescheidenen, furchtsamen Klienten sind.
Diese Erfahrung lehrt den Diener, sich bei seinem Herrn, und den, welcher
Wohltaten empfangen, sich bei dem Wohltäter so wichtig zu machen, daß der, so
die Verbindlichkeit auflegt, es für ein großes Glück rechnet, einem solchen
Manne anzugehören. - Kurz! der Satz: daß jedermann nicht mehr und nicht
weniger gelte, als wozu er sich selbst macht, ist die große Panacee für
Aventuriers, Prahler, Windbeutel und seichte Köpfe, um fortzukommen auf diesem
Erdballe - ich gebe also keinen Kirschkern für dieses Universalmittel. - Doch
still! sollte denn jener Satz uns gar nichts wert sein? Ja, meine Freunde! Er
kann uns lehren, nie ohne Not und Beruf unsre ökonomischen, physikalischen,
moralischen und intellektuellen Schwächen aufzudecken. Ohne also sich zur
Prahlerei und zu niederträchtigen Lügen herabzulassen, soll man doch nicht die
Gelegenheit verabsäumen, sich von seinen vorteilhaften Seiten zu zeigen.
Dies muß aber nicht auf eine grobe, gar zu merkliche, eitle und auffallende
Weise geschehn, denn sonst verlieren wir viel mehr dadurch; sondern man muß die
Menschen nur mutmaßen, sie von selbst darauf kommen lassen, daß doch wohl
etwas mehr hinter uns stecke, als bei dem ersten Anblicke hervorschimmert. Hängt
man ein gar zu glänzendes Schild aus, so erweckt man dadurch die genauere
Aufmerksamkeit; andre spüren den kleinen Fehlern nach, von denen kein Erdensohn
frei ist, und so ist es auf einmal um unsern Glanz geschehn. Zeige Dich also mit
einem gewissen bescheidenen Bewußtsein innerer Würde, und vor allen Dingen mit
dem auf Deiner Stirne strahlenden Bewußtsein der Wahrheit und Redlichkeit!
Zeige Vernunft und Kenntnisse, wo Du Veranlassung dazu hast! Nicht so viel, um
Neid zu erregen und Forderungen anzukündigen, nicht so wenig, um übersehn und
überschrien zu werden! Mache Dich rar, ohne daß man Dich weder für einen
Sonderling, noch für scheu, noch für hochmütig halte!
2.
Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit und
Unfehlbarkeit! Die Menschen beurteilen und richten Dich nach dem Maßstabe
Deiner Prätensionen, und sie sind noch billig, wenn sie nur das tun, wenn sie
Dir nicht Prätensionen aufbürden. Dann heißt es, wenn Du auch nur des
kleinsten Fehlers Dich schuldig machst: »Einem solchen Manne ist das gar
nicht zu verzeihn«; und da die Schwachen sich ohnehin ein Fest daraus machen,
an einem Menschen, der sich verdunkelt, Mängel zu entdecken, so wird Dir ein
einziger Fehltritt höher angerechnet als andern ein ganzes Register von
Bosheiten und Pinseleien.
3.
Sei aber nicht gar zu sehr ein Sklave der Meinungen andrer von Dir! Sei
selbständig! Was kümmert Dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn Du
tust, was du sollst? Und was ist Deine ganze Garderobe von äußern Tugenden
wert, wenn Du diesen Flitterputz nur über ein schwaches, niedriges Herz hängst,
um in Gesellschaften Staat damit zu machen?
4.
Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu
erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre
Unkosten zu schimmern!
5.
Schreibe nicht auf Deine Rechnung das, wovon andern das Verdienst gebührt! Wenn
man Dir, aus Achtung gegen einen edlen Mann, dem Du angehörst, Vorzug oder Höflichkeit
beweist, so brüste Dich damit nicht, sondern sei bescheiden genug zu fühlen,
daß dies alles vielleicht wegfallen würde, wenn Du einzeln aufträtest! Suche
aber selbst zu verdienen, daß man Dich um Deinetwillen ehre! Sei lieber das
kleinste Lämpchen, das einen dunklen Winkel mit eigenem Lichte erleuchtet als
ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant eines Planeten!
6.
Fehlt Dir etwas, hast Du Kummer, Unglück, leidest Du Mangel, reichen Vernunft,
Grundsätze und guter Wille nicht zu, so klage Dein Leid, Deine Schwäche
niemand als dem, der helfen kann, selbst Deinem treuen Weibe nicht! Wenige
helfen tragen; fast alle erschweren die Bürde; ja! sehr viele treten einen
Schritt zurück, sobald sie sehen, daß Dich das Glück nicht anlächelt. Sobald
sie aber gar wahrnehmen, daß Du ganz ohne Hilfsquellen bist, daß Du keinen
geheimen Schutz hast, niemand, der sich Deiner annimmt - o! so rechne auf keinen
mehr! Wer hat den Mut, einzig und fest als die Stütze des von aller Welt
Verlassenen öffentlich aufzutreten? Wer hat den Mut, zu sagen: »Ich kenne den
Mann; er ist mein Freund; er ist mehr wert als ihr alle, die ihr ihn schmähet«?
Und fändest Du ja einen solchen, so würde es doch nur etwa ein andrer armer
Teufel sein, der selbst in elenden Umständen, aus Verzweiflung sein Schicksal
an das Deinige knüpfen wollte, dessen Schutz Dir mehr schädlich als nützlich
wäre.
7.
Rühme aber auch nicht zu laut Deine glückliche Lage! Krame nicht zu glänzend
Deine Pracht, Deinen Reichtum, Deine Talente aus! Die Menschen vertragen selten
ein solches Übergewicht ohne Murren und Neid. Lege daher auch andern keine zu
große Verbindlichkeit auf! Tue nicht zu viel für Deine Mitmenschen! Sie
fliehen den überschwenglichen Wohltäter, wie man einen Gläubiger flieht, den
man nie bezahlen kann. Also hüte Dich, zu groß zu werden in Deiner Brüder
Augen, auch fordert jeder zu viel von Dir, und eine einzige abgeschlagene
Wohltat macht tausend wirklich erzeigte in einem Augenblick vergessen.
8.
Vor allen Dingen wache über Dich, daß Du nie die innere Zuversicht zu Dir
selber, das Vertrauen auf Gott, auf gute Menschen und auf das Schicksal
verlierst! Sobald Dein Nebenmann auf Deiner Stirne Mißmut und Verzweiflung
liest - so ist alles aus. Sehr oft aber ist man im Unglücke ungerecht gegen die
Menschen. Jede kleine böse Laune, jede kleine Miene von Kälte deutet man auf
sich; man meint, jeder sehe es uns an, daß wir leiden, und weiche vor der Bitte
zurück, die wir ihm tun könnten.
9.
Gegenwart des Geistes ist ein seltenes Geschenk des Himmels und macht, daß wir
im Umgange in sehr vorteilhaftem Lichte erscheinen. Dieser Vorzug nun läßt
sich freilich nicht durch Kunst erlangen; allein man kann an sich arbeiten, daß,
wenn er uns fehlt, wir wenigstens nicht durch Übereilung uns und andre in
Verlegenheit setzen. Sehr lebhafte Temperamente haben hierauf vorzüglich zu
achten. Ich rate daher, wenn eine unerwartete Frage, ein ungewöhnlicher
Gegenstand oder irgend etwas anders uns überrascht, nur eine Minute still zu
schweigen und der Überlegung Zeit zu lassen, uns zu der Partei vorzubereiten,
die wir nehmen sollen. So wie ein einziges rasches, unvorsichtiges Wort oder ein
in der Verwirrung unternommener Schritt zu späte Reue und unglückliche Folgen
wirken können, so kann ein schnell auf der Stelle gefaßter und ausgeführter
rascher Entschluß in entscheidenden Augenblicken, in welchen man so leicht den
Kopf verliert, Glück, Rettung, Trost bringen.
10.
So wenig als möglich lasset uns von andern Wohltaten fordern und annehmen! Man
trifft gar selten Leute an, die nicht früh oder spät für kleine Dienste große
Rücksichten forderten, und das hebt dann das Gleichgewicht im Umgange auf,
raubt Freiheit, hindert uneingeschränkte Wahl, und wenn auch unter zehnmal
nicht einmal der Fall einträte, daß dies uns in Verlegenheit setzte oder
Verdruß zuzöge, so ist es doch weislich gehandelt, dies mögliche Einmal zu
vermeiden und lieber immer zu geben, jedem zu dienen als von andern Dienste oder
sonst etwas anzunehmen. Auch gibt es wenig Menschen, die mit guter Art Wohltaten
erzeigen. Versuchet es, meine Freunde! wie viele unter Euren Bekannten nicht auf
einmal, mitten in der fröhlichsten, höflichsten Gemütsstimmung, ihr Gesicht
in feierliche Falten ziehen, wenn Ihr Eure Anrede mit den Worten anhebet: »Ich
muß eine große Bitte an Sie wagen; ich bin in einer erschrecklichen
Verlegenheit.«
Um nun fremden Beistandes
entbehren zu können, dazu ist das beste Mittel, wenig Bedürfnisse zu haben, mäßig
zu sein und bescheidene Wünsche zu nähren; wer aber von unzähligen
Leidenschaften in rastlosem Taumel umhergetrieben wird, bald Ehrenstellen, bald
Wucher, bald Erwerb, bald wollüstigen Genuß verlangt; wer von dem Luxus des
Zeitalters angesteckt, alles begehrt, was seine Augen sehen, wen vorwitzige
Neugier und ein unruhiger Geist treiben, sich in jeden unnützen Handel zu
mischen, der wird freilich nie der Hilfe und Unterstützung fremder Leute zur
Befriedigung seiner zahllosen Wünsche sich entäußern können.
11.
Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu halten, keine führt so sicher
dahin, uns dauerhafte Achtung und Freundschaft zu erwerben, als die: unverbrüchlich,
auch in den geringsten Kleinigkeiten, Wort zu halten, seiner Zusage treu, und
stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden. Nie kann man Recht und erlaubte
Ursache haben, das Gegenteil von dem zu sagen, was man denkt, wenngleich man
Befugnis und Gründe haben kann, nicht alles zu offenbaren, was in uns vorgeht.
Es gibt keine Notlügen; noch nie ist eine Unwahrheit gesprochen worden, die
nicht früh oder spät nachteilige Folgen für jedermann gehabt hätte; der Mann
aber, der dafür bekannt ist, streng Wort zu halten und sich keine Unwahrheit zu
gestatten, gewinnt gewiß Zutrauen, guten Ruf und Hochachtung.
12.
Sei streng, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in Deinem Berufe!
Bewahre Deine Papiere, Deine Schlüssel und alles so, daß Du jedes einzelne Stück
auch im Dunkeln finden könntest! Verfahre noch ordentlicher mit fremden Sachen!
Verleihe nie Bücher oder andre Dinge, die Dir geliehen worden; hast Du von
andern dergleichen geliehn, so bringe oder schicke sie zu gehöriger Zeit wieder
und erwarte nicht, daß sie oder ihre Domestiken noch Wege darum tun, um diese
Dinge abzuholen! - Jedermann geht gern mit einem Menschen um und treibt Geschäfte
mit ihm, wenn man sich auf seine Pünktlichkeit in Wort und Tat verlassen kann.
13.
Interessiere Dich für andre, wenn Du willst, daß andre sich für Dich
interessieren sollen! Wer unteilnehmend, ohne Sinn für Freundschaft, Wohlwollen
und Liebe, nur sich selber lebt, der bleibt verlassen, wenn er sich nach fremdem
Beistande sehnt.
14.
Zwei Gründe hauptsächlich müssen uns bewegen, nicht gar zu offenherzig gegen
die Menschen zu sein: zuerst die Furcht, unsre Schwäche dadurch aufzudecken und
mißbraucht zu werden, und dann die Überlegung, daß, wenn man die Leute einmal
daran gewöhnt hat, ihnen nichts zu verschweigen, sie zuletzt von jedem unsrer
kleinsten Schritte Rechenschaft verlangen, alles wissen, um alles zu Rate
gezogen werden wollen. Allein ebensowenig soll man übertrieben verschlossen
sein, sonst glauben sie, es stecke hinter allem, was wir tun, etwas Bedeutendes
oder gar Gefährliches, und das kann uns in unangenehme Verlegenheit verwickeln
und veranlassen, daß wir verkannt werden, unter anderm in fremden Ländern, auf
Reisen, bei manchen andern Gelegenheiten, und kann uns überhaupt auch im
gemeinen Leben, selbst im Umgange mit edeln Freunden schaden.
15.
Vor allen Dingen vergesse man nie, daß die Leute unterhalten, amüsiert sein
wollen; daß selbst der unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend
vorkommt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute Laune gewürzt wird; daß
ferner nichts in der Welt ihnen so witzreich, so weise und so ergötzend
scheint, als wenn man sie lobt, ihnen etwas Schmeichelhaftes sagt; daß es aber
unter der Würde eines klugen Mannes ist, den Spaßmacher, und eines redlichen
Mannes unwert, den niedrigen Schmeichler zu machen. Allein es gibt einen
gewissen Mittelweg; diesen rate ich einzuschlagen, und da jeder Mensch doch
wenigstens eine gute Seite hat, die man loben darf, und dies Lob, wenn es nicht
übertrieben wird, aus dem Munde eines verständigen Mannes Sporn zu größerer
Vervollkommnung werden kann, so ist das Wink genug für den, der mich verstehn
will.
Zeige, so viel du kannst, eine immer gleiche, heitere Stirne! Nichts ist
reizender und liebenswürdiger, als eine gewisse, frohe, muntre Gemütsart, die
aus der Quelle eines schuldlosen, nicht von heftigen Leidenschaften in Tumult
gesetzten Herzens hervorströmt. Wer immer nach Witz hascht, wem man es ansieht,
daß er darauf studiert hat, die Gesellschaft zu unterhalten, der gefällt nur
auf kurze Zeit und wird bei wenigen Interesse erwecken; er wird nicht aufgesucht
werden von denen, deren Herz sich nach besseren Umgange und deren Kopf sich nach
sokratischer Unterhaltung sehnt.
Wer immer Spaß machen will, der erschöpft sich nicht nur leicht und wird matt,
sondern hat auch die Unannehmlichkeit, daß, wenn er einmal gerade nicht
aufgelegt ist, seinen Vorrat von lustigen Kleinigkeiten zu öffnen, seine Gefährten
das sehr ungnädig aufnehmen. Bei jeder Mahlzeit, zu welcher er gebeten wird,
bei jeder Aufmerksamkeit, die man ihm erweist, scheint die Bedingung schwer auf
ihm zu liegen, daß er diese Ehre durch seine Schwänke zu verdienen suchen
solle; und will er es einmal wagen, den Ton zu erheben und etwas Ernsthaftes zu
sagen, so lacht man ihm gerade in das Gesicht, ehe er mit seiner Rede halb zu
Ende ist. Wahrer Humor und echter Witz lassen sich nicht erzwingen, nicht erkünsteln,
aber sie wirken, wie das Umschweben eines höhern Genius, wonnevoll, erwärmend,
Ehrfurcht erregend.
16.
Gehe von niemand und laß niemand von Dir, ohne ihm etwas Lehrreiches oder etwas
Verbindliches gesagt und mit auf den Weg gegeben zu haben; aber beides auf eine
Art, die ihm wohltue, seine Bescheidenheit nicht empöre und nicht studiert
scheine, daß er die Stunde nicht verloren zu haben glaube, die er bei Dir
zugebracht hat, und daß er fühle, Du nehmest Interesse an seiner Person, es
gehe Dir von Herzen, Du verkauftest nicht bloß Deine Höflichkeitsware ohne
Unterschied jedem Vorübergehenden! Man verstehe mich also recht! Ich möchte
gern, wenn es möglich wäre, alles leere Geschwätz aus dem Umgange verbannt
sehn; möchte, daß man - ohne Ängstlichkeit - auf sich acht hätte, nie etwas
zu sagen, wovon der, welcher es anhören muß, weder Nutzen noch wahres
Vergnügen haben, woran er weder mit dem Kopfe noch mit dem Herzen Anteil nehmen
könnte. Weit entfernt bin ich also, das System solcher Leute empfehlen zu
wollen, die jeden ohne Unterlaß mit leeren Komplimenten, Schmeicheleien oder
Lobsprüchen in die Verlegenheit setzen, ihnen auf tausend nicht eins antworten
zu können. Übrigens tadle ich auch nicht ein gut gemeintes Höflichkeitswort,
ein verdientes, bescheidenes, zu fernerm Guten ermunterndes Lob. Ein Beispiel
wird meine wahren Grundsätze darüber deutlicher machen: Ich saß einst an
einer fremden Tafel zwischen einer hübschen, verständigen jungen Dame und
einem kleinen, buckligen, garstigen Fräulein von etwa vierzig Jahren. Ich
beging die Unhöflichkeit, die ganze Mahlzeit hindurch, mich nur mit jener zu
unterhalten, zu dieser hingegen kein Wort zu reden. Beim Nachtische erst
erinnerte ich mich meiner Unart; und nun machte ich den Fehler gegen die Höflichkeit
durch einen andern gegen die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gut. Ich wendete
mich zu ihr und redete von einer Begebenheit, die vor zwanzig Jahren vorgegangen
war. - Sie wußte nichts davon. - »Es ist kein Wunder«, sagte ich, »Sie waren
damals noch ein Kind.« Das kleine Wesen freute sich innigst darüber, daß ich
sie für so jung hielte, und dies einzige Wort erwarb mir ihre günstige Meinung
- sie hätte mich dieser niedrigen Schmeichelei wegen verachten sollen. Wie
leicht hätte ich einen Gegenstand zu einem Gespräche mit ihr finden können,
das ihr auf irgendeine Weise interessant gewesen wäre! und es war meine
Pflicht, daran zu denken und ihr nicht einen ganzen Mittag hindurch die Tür der
Konversation zu verschließen. Jene elende Schmeichelei hingegen war eine unwürdige
Art, den ersten Fehler zu verbessern.
17.
Wem es darum zu tun ist, dauerhafte Achtung sich zu erwerben, wem daran liegt,
daß seine Unterhaltung niemand anstößig, keinem zur Last werde, der würze
nicht ohne Unterlaß seine Gespräche mit Lästerungen, Spott, Medisance und gewöhne
sich nicht an den auszischenden Ton von Persiflage! Das kann wohl einigemal und
bei einer gewissen Klasse von Menschen auch öfter gefallen; aber man flieht und
verachtet doch in der Folge den Mann, der immer auf andrer Leute Kosten oder auf
Kosten der Wahrheit die Gesellschaft vergnügen will, und man hat Recht dazu;
denn der gefühlvolle, verständige Mensch muß Nachsicht haben mit den Schwächen
andrer; er weiß, welchen großen Schaden oft ein einziges, wenngleich nicht böse
gemeintes Wörtchen anrichten kann; auch sehnt er sich nach gründlicherer und nützlicherer
Unterhaltung; ihn ekelt vor leerer Persiflage. Gar zu leicht aber gewöhnt man
sich in der sogenannten großen Welt diesen elenden Ton an; man kann nicht genug
davor warnen.
Übrigens
aber möchte ich auch nicht gern alle Satire für unerlaubt erklären noch
leugnen, daß manche Torheiten und Unzweckmäßigkeiten im weniger vertrauten
Umgange am besten durch eine feine, nicht beleidigende, nicht zu deutlich
auf einzelne Personen anspielende Persiflage bekämpft werden können. Endlich
bin ich auch weit entfernt zu fordern, man solle alles loben und alle offenbaren
Fehler entschuldigen, vielmehr habe ich nie den Leuten getraut, die so merklich
affektieren, alles mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecken zu wollen. Sie
sind mehrenteils Heuchler, wollen durch das Gute, das sie von den Leuten reden,
das Böse vergessen machen, das sie ihnen zufügen, oder sie suchen
dadurch zu erlangen, daß man ebenso nachsichtig gegen ihre Gebrechen
sei.
18.
Erzähle nicht leicht Anekdoten, besonders nie solche, die irgend jemand in ein
nachteiliges Licht setzen, auf bloßes Hörensagen nach! Sehr oft sind sie gar
nicht auf Wahrheit gegründet oder schon durch so viele Hände gegangen, daß
sie wenigstens vergrößert, verstümmelt worden, und dadurch eine wesentlich
andre Gestalt bekommen haben. Vielfältig kann man dadurch unschuldigen guten
Leuten ernstlich schaden und noch öfter sich selber großen Verdruß zuziehn.
19.
Hüte Dich, aus einem Hause in das andre Nachrichten zu tragen,
vertrauliche Tischreden, Familiengespräche, Bemerkungen, die Du über das häusliche
Leben von Leuten, mit welchen Du viel umgehst, gemacht hast, und dergleichen
auszuplaudern! Wenn dies auch nicht eigentlich aus Bosheit geschieht, so kann
doch eine solche Geschwätzigkeit Mißtraun gegen Dich und allerlei Zwist und
Verstimmung veranlassen.
20.
Sei vorsichtig im
Tadel und Widerspruche!
Es
gibt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile verdunkeln
oft die Augen selbst des klügern Mannes, und es ist sehr schwer, sich gänzlich
an eines andern Stelle zu denken. Urteile besonders nicht so leicht über kluger
Leute Handlungen, oder Deine Bescheidenheit müßte Dir sagen, daß Du noch
weiser wie sie seist! und da ist es denn eine mißliche Sache um diese Überzeugung.
Ein kluger Mann ist mehrenteils lebhafter als ein andrer, hat heftigere
Leidenschaften zu bekämpfen, bekümmert sich weniger um das Urteil des großen
Haufens, hält es weniger der Mühe wert, sein gutes Gewissen durch große
Apologien zu rechtfertigen. Übrigens soll man nur fragen: »Was tut der Mann Nützliches
für andre?« und wenn er dergleichen tut, über dies Gute die kleinen
leidenschaftlichen Fehler, die nur ihm selber schaden oder höchstens
unwichtigen, vorübergehenden Nachteil wirken, vergessen.
Vor
allen Dingen maße Dir nicht an, die Bewegungsgründe zu jeder guten Handlung
abwägen zu wollen!
Bei
einer solchen Rechnung würden vielleicht manche Deiner eigenen großen Taten
verzweifelt klein erscheinen. Jedes Gute muß nach seiner Wirkung für die Welt
beurteilt werden.
21.
Habe acht auf Dich, daß Du in Deinen
Unterredungen, durch einen wäßrigen, weitschweifigen Vortrag nicht ermüdest!
Ein gewisser Lakonismus - insofern er nicht in den Ton, nur in Sentenzen und
Aphorismen zu sprechen oder jedes Wort abzuwägen, ausartet - ein gewisser
Lakonismus, sage ich, das heißt: die Gabe, mit wenig kernigen Worten viel zu
sagen, durch Weglassung kleiner unwichtiger Details die Aufmerksamkeit wach zu
erhalten, und dann wieder, zu einer andern Zeit, die Geschicklichkeit, einen
nichtsbedeutenden Umstand durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu
machen - das ist die wahre Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit. Ich werde
davon unten noch mehr sagen; überhaupt aber rede nicht zu viel! Sei haushälterisch
mit Spendung von Worten und Kenntnissen, damit es Dir nicht früh an Stoffe
fehle, damit Du nicht redest, was Du verschweigen sollst, verschweigen willst,
und damit man Deiner nicht satt werde! Laß auch andre zu Worte kommen, ihr Teil
mit hergeben zur allgemeinen Unterhaltung! Es gibt Leute, die, ohne es selbst zu
merken, allerorten die Sprachführer sind; und wären sie in einem Zirkel von fünfzig
Personen, so würden sie sich dennoch bald zum Meister von der ganzen
Konversation machen.
So unangenehm dies für die Gesellschaft ist, ebenso widrige, Freude störende
Eindrücke macht die Weise mancher Leute, die stumm und gespannt horchen und
lauern, und die man leicht für gefährliche Beobachter halten kann, denen es
nur darum zu tun scheint, jedes unvorsichtige, nicht gehörig gewählte Wort,
das man in sorgloser Redseligkeit fallen läßt, zu irgendeinem hämischen
Zwecke aufzusammeln.
22.
Es gibt Menschen, die (so wie manche sich fruges consumere natos
glauben) auch im geselligen Leben immer nur empfangen, nie geben wollen, die vom
übrigen Teile des Publikums amüsiert, unterrichtet, bedient, gelobt, bezahlt,
gefüttert zu werden verlangen, ohne etwas dafür zu leisten; die über
Langeweile klagen, ohne zu fragen, ob die andern weniger Langeweile gemacht
haben; die behaglich dasitzen, sich's wohl sein, sich erzählen lassen, aber
nicht daran denken, auch für das Vergnügen der übrigen zu sorgen. - Das ist
aber so ungerecht als lästig.
Noch
andre findet man, die immer nur ihre eigene Person, ihre häuslichen Umstände,
ihre Verhältnisse, ihre Taten und ihre Berufsgeschäfte zum Gegenstande ihrer
Unterredung machen und alles dahin zu drehn wissen, jedes Gleichnis, jedes Bild
von daher nehmen. So wenig als möglich übertrage in gemischte Gesellschaften
den Schnitt, den Ton, den Dir Deine spezielle Erziehung, Dein Handwerk, Deine
besondre Lebensart geben. Rede nicht von Dingen, die außer Dir schwerlich
jemand interessieren können. Spiele nicht auf Anekdoten an, die Deinem Nachbar
unbekannt sind, auf Stellen aus Büchern, die er wahrscheinlich nicht gelesen
hat! Rede nicht in einer fremden Sprache, wenn es glaublich ist, daß nicht
jeder, der um Dich ist, dieselbe versteht. Lerne den Ton der Gesellschaft
annehmen, in welcher Du Dich befindest. Nichts kann abgeschmackter sein, als
wenn der Arzt einige junge Damen mit Beschreibung seiner Sammlung anatomischer
Präparate, der Rechtsgelehrte einen Hofmann über die unwirksam
Possessions-Ergreifung und das edictum Divi Martii, der alte gebrechliche
Gelehrte eine junge Kokette von seinem offnen Beinschaden unterhält.
Oft aber tritt der Fall ein, daß man in Gesellschaften gerät, wo es schwer
ist, etwas vorzubringen, das Interesse erweckte. Wenn ein verständiger Mann von
leeren, elenden Menschen umgeben ist, die für gar nichts von beßrer Art Sinn
haben, ei nun! so ist es seine Schuld nicht, wenn er nicht verstanden wird. Er
tröste sich also damit, daß er von Dingen geredet hat, die billig interessieren
müßten.
23.
Rede also nicht zu viel von Dir selber, außer in dem Zirkel Deiner
vertrautesten Freunde, von welchen Du weißt, daß die Sache des einen unter
ihnen eine Angelegenheit für alle ist; und auch da bewache Dich, daß Du nicht
Egoismus zeigest. Vermeide, selbst dann zu viel von Dir zu reden, wenn gute
Freunde, wie es vielfältig geschieht, das Gespräch aus Höflichkeit auf Deine
Person, auf Deine Schriften und dergleichen leiten! Bescheidenheit ist eine der
liebenswürdigsten Eigenschaften und macht um so vorteilhaftere Eindrücke, je
seltener diese Tugend in unsern Tagen wird. Sei also auch nicht so bereit,
jedermann Deine Schriften unberufen vorzulegen, Deine Anlagen zu zeigen und
Deine rühmlichen Handlungen zu erzählen, noch auf feine Art Gelegenheit zu
geben, daß man Dich darum bitten müsse. Auch drücke niemand durch
Deinen Umgang, das heißt, zeige in keiner Gesellschaft ein solches Übergewicht,
daß andre verstummen, sich in schlechtem Lichte zeigen müssen!
24.
Widersprich Dir nicht selbst im Reden, so daß Du einen Satz
behauptest, dessen Gegenteil Du ein andermal verteidigt hast. Man kann seine
Meinung von Dingen ändern, allein man tut doch wohl, in Gesellschaft nicht
eher, wenigstens nicht entscheidend zu urteilen, als bis man alle Gründe vor
und gegen dieselben gehörig abgewogen hat.
25.
Hüte Dich, in den Fehler derjenigen zu verfallen, die aus Mangel an
Gedächtnis oder an Aufmerksamkeit auf sich, oder weil sie so verliebt in ihre
eigenen Einfälle sind, dieselben Histörchen, Anekdoten, Späße, Wortspiele,
witzigen Vergleichungen und so ferner bei jeder Gelegenheit wiederholen.
26.
Würze nicht Deine Unterhaltung mit Zweideutigkeiten, mit
Anspielungen auf Dinge, die entweder Ekel erwecken oder keusche Wangen erröten
machen. Zeige auch keinen Beifall, wenn andre dergleichen vorbringen. Ein verständiger
Mann kann an solchen Gesprächen keine Lust haben. Auch in bloß männlichen
Gesellschaften verleugne nicht die Schamhaftigkeit, Sittsamkeit und Dein Mißfallen
an Zoten.
27.
Flicke keine platten Gemeinsprüche in Deine Reden ein. Zum Beispiel:
daß Gesundheit ein schätzbares Gut; daß das Schlittenfahren ein kaltes Vergnügen;
daß jeder sich selbst der Nächste sei; daß, was lange dauert, gut werde,
wovon ich das Gegenteil zu beweisen übernehme; daß man durch Schaden klug
werde, welches leider selten eintrifft; oder daß die Zeit schnell hingehe -
welches, im Vorbeigehn zu sagen, gar nicht wahr ist; denn da die Zeit nach einem
bestimmten Maßstabe berechnet wird, so geht sie nicht schneller vorbei, als sie
gerade muß, und der, welchem ein Jahr kürzer vorkommt, als es ist, der muß in
demselben über Gebühr geschlafen haben oder sonst seiner Sinne nicht mächtig
gewesen sein. Solche Sprichwörter sind sehr langweilig und nicht selten sinnlos
und unwahr.
28.
Belästige nicht die Leute, mit welchen Du umgehst, mit unnützen
Fragen. Es gibt Menschen, die, nicht eben aus Vorwitz und Neugier, sondern weil
sie nun einmal gewöhnt sind, ihre Gespräche in Katechisationsform zu
verfassen, uns durch Fragen so beschwerlich werden, daß es gar nicht möglich
ist, auf unsre Weise mit ihnen in Unterhaltung zu kommen.
29.
Lerne Widerspruch ertragen. Sei nicht kindisch eingenommen von Deinen
Meinungen. Werde nicht hitzig noch grob im Zanke. Auch dann nicht, wenn man
Deinen ernsthaften Gründen Spott und Persiflage entgegensetzt. Du hast, bei der
besten Sache, schon halb verloren, wenn Du nicht kaltblütig bleibst und wirst
wenigstens auf diese Art nie überzeugen.
30.
An Orten, wo man sich zur Freude versammelt, beim Tanze, in
Schauspielen und dergleichen, rede mit niemand von häuslichen Geschäften, noch
viel weniger von verdrießlichen Dingen. Man geht dahin, um sich zu erholen, um
auszuruhn, um kleine und große Sorgen abzuschütteln, und es ist also
unbescheiden, jemand mit Gewalt wieder mitten in sein tägliches Joch
hineinschieben zu wollen.
31.
Daß ein redlicher und verständiger Mann über wesentliche
Religionslehren, auch dann, wenn er das Unglück haben sollte, an der Wahrheit
derselben zu zweifeln, sich dennoch keinen Spott erlauben wird, ich meine, das
versteht sich von selber; aber auch über kirchliche Verfassungen, über die
Menschensatzungen, welche in einigen Sekten für Glaubenslehren gehalten werden,
über Zeremonien, die manche für wesentlich halten, und dergleichen, soll man
nie in Gesellschaften spotten. Man respektiere das, was andern ehrwürdig ist.
Man lasse jedem die Freiheit in Meinungen, die wir selbst verlangen. Man
vergesse nicht, daß das, was wir Aufklärung nennen, andern vielleicht
Verfinsterung scheint. Man schone die Vorurteile, die andern Ruhe gewähren. Man
beraube niemand, ohne ihm etwas Besseres an die Stelle dessen zu geben, was man
ihm nimmt. Man vergesse nicht, daß Spott nicht bessert; daß unsre hier auf
Erden noch nicht entwickelte Vernunft über so wichtige Gegenstände leicht
irren kann; daß ein mangelhaftes System, auf welchem aber der Grund einer guten
Moral liegt, nicht so leicht umzureißen ist, ohne zugleich das Gebäude selbst
über den Haufen zu werfen, und endlich, daß solche Gegenstände überhaupt gar
nicht von der Art sind, daß man sie in Gesellschaften abhandeln könne.
Doch
dünkt mich, man vermeidet heutzutage oft zu vorsätzlich alle Gelegenheiten, über
Religion zu reden. Einige Leute schämen sich, Wärme für Gottesverehrung zu
zeigen, aus Furcht, für nicht aufgeklärt genug gehalten zu werden, und andre
affektieren religiöse Empfindungen, scheuen sich, auch nur im mindesten gegen
Schwärmerei zu reden, um sich bei den Andächtlern in Gunst zu setzen. Ersteres
ist Menschenfurcht und letzteres Heuchelei, beides aber eines redlichen Mannes
gleich unwert.
32.
Wenn
Du von körperlichen, geistigen, moralischen oder andern Gebrechen redest oder
Anekdoten erzählst, die gewisse Grundsätze oder Vorurteile lächerlich machen
oder gewisse Stände in ein nachteiliges Licht setzen sollen, so siehe Dich
vorher wohl um, ob niemand gegenwärtig sei, der das Übel aufnehmen, diesen
Tadel oder Spott auf sich oder seine Verwandten ziehn könnte.
Halte
Dich über niemandes Gestalt, Wuchs und Bildung auf! Es steht in keines Menschen
Gewalt, diese zu ändern.
Nichts
ist kränkender, niederschlagender und empörender für den Mann, der unglücklicherweise
eine etwas auffallende Gesichtsbildung oder Figur hat, als wenn er bemerkt, daß
diese der Gegenstand der Verspottung oder Befremdung wird. Leuten, die ein wenig
mit der großen Welt bekannt sind und unter Menschen von allerlei Formen und
Ansehn gelebt haben, sollte man darüber billig gar nicht mehr erinnern dürfen;
aber leider trifft man hie und da, selbst unter fürstlichen Personen, besonders
unter Damen, solche an, die so wenig Gewalt über sich oder so wenig Begriffe
von Wohlanständigkeit und Billigkeit haben, daß sie die Eindrücke, welche ein
ungewöhnlicher Anblick von der Art auf sie macht, nicht verbergen können. -
Das ist schwach, und wenn man noch dabei überlegt, wie relativ und dem
verschiedenen Geschmacke unterworfen die Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit
sind, wie so wenig auf sichre Grundsätze beruhend unsre physiognomische
Wissenschaft ist und wie oft unter einer anscheinend häßlichen Larve ein schönes,
edles, warmes, großes Herz mit einem feinen, tiefdenkenden Kopf steckt, so
sieht man leicht, daß man sehr selten Recht, auf das äußere Ansehn eines
Menschen nachteilige Folgerungen zu bauen, und nie Befugnis haben kann, die
Eindrücke, welche ein solcher Anblick etwa auf uns macht, zu jemandes Kränkung
durch Lachen oder auf andre Art kundwerden zu lassen.
Außer
einer sonderbaren Figur können uns aber noch andre Dinge an einem Menschen
auffallend sein, zum Beispiel: lächerliche, phantastische, abgeschmackte Gebärden,
Manieren, Verzerrungen des Körpers, Unbekanntschaft mit gewissen Sitten,
Unvorsichtigkeiten im Betragen, ungewöhnlicher, altmodischer Anzug, u. dgl.
Es gehört nicht weniger zu einer guten Lebensart, hierüber nicht durch Lachen
oder durch Zeichen, die man einem der Anwesenden gibt, sein Befremden zu
erkennen zu geben und dadurch den armen Mann, der sich dergleichen zuschulden
kommen läßt, noch mehr in Verlegenheit zu setzen.
33.
Briefwechsel ist schriftlicher Umgang; fast alles, was ich vom persönlichen
Umgange mit Menschen sage, leidet Anwendung auf den Briefwechsel. Dehne also
Deinen Briefwechsel, so wie Deinen Umgang, nicht über Gebühr aus. Das hat
keinen Zweck, kostet Geld und ist Zeitverderb. Sei ebenso vorsichtig in der Wahl
derer, mit denen Du einen vertrauten Briefwechsel anfängst, als in der Wahl
Deines täglichen Umgangs und Deiner Lektüre. Nimm Dir auch vor, nie
irgendeinen ganz leeren Brief zu schreiben, in welchem nicht wenigstens etwas stünde,
das dem, an welchen er gerichtet ist, Nutzen oder reine Freude gewähren könnte.
Vorsichtigkeit ist im Schreiben noch weit dringender als im Reden zu empfehlen,
und ebenso wichtig ist es, mit den Briefen, welche man erhält, behutsam
umzugehn. Man sollte es kaum glauben, was für Verdruß, Zwist und Mißverständnis
durch Versäumung dieser Klugheitsregel entstehn können. Ein einziges
hingeschriebenes unauslöschliches Wort, ein einziges aus Unachtsamkeit
liegengebliebenes Papier hat manches Menschen Ruhe und oft auf immer den Frieden
einer Familie zerstört.
Ich kann daher nicht genug Vorsichtigkeit in Briefen und überhaupt im Schreiben
empfehlen. Noch einmal! Ein übereiltes mündliches Wort wird wieder vergessen,
aber ein geschriebenes kann noch nach fünfzig Jahren, in Erben Händen, Unheil
stiften. Briefe, an deren richtiger und schneller Besorgung irgend etwas gelegen
ist, muß man immer auf die gewöhnliche Weise mit der Post oder durch eigene
Boten abgehn lassen, nie aber, etwa zur Ersparung des Portos, sie Reisenden
mitgeben oder sonst durch Gelegenheit und in fremden Kuverts fortschicken; man
kann sich gar zu wenig auf die Pünktlichkeit der Menschen verlassen.
Lies Deine Briefe, wenn Du es ändern kannst, nicht in andrer Gegenwart, sondern
wenn Du allein bist, sowohl weil es die Höflichkeit also befiehlt, als aus
Vorsicht, um durch Deine Mienen den Inhalt nicht zu verraten.
34.
Suche keinen Menschen, auch den Schwächsten nicht, in Gesellschaften
lächerlich zu machen. Ist er dumm, so hast Du wenig Ehre von dem Witze, den Du
an ihn verschwendest; ist er es weniger, als Du glaubst, so kannst Du vielleicht
der Gegenstand seines Spottes werden; ist er gutmütig und gefühlvoll, so kränkest
Du ihn, und ist er tückisch und rachsüchtig, so kann er Dir's vielleicht auf
eine Rechnung setzen, die Du früh oder spät auf irgendeine Art bezahlen mußt.
- Und wie oft kann man nicht, wenn das Publikum auf unsre Urteile über Menschen
achtet, einem guten Manne im bürgerlichen Leben wahrhaften Schaden zufügen
oder einen Schwachen so niederdrücken, daß aller Ehrgeiz in ihm erlöscht und
alle Keime zu bessern Anlagen erstickt werden, indem man ihn, durch Hervorziehn
seiner uns lächerlich scheinenden Seiten, der Verachtung preisgibt.
35.
Schrecke, zerre und necke auch niemand, selbst Deine Freunde nicht,
mit falschen Nachrichten, mit Witzeleien oder was sonst auf einen Augenblick
beunruhiget, in Verlegenheit setzt! Es gibt der wahrhaftig, mißvergnügten,
unangenehmen, ängstlichen Augenblicke so viele in der Welt, daß es wohl brüderliche
Pflicht ist, alles hinwegzuräumen, was die Last der wirklichen und
eingebildeten Plagen auch nur um ein Sandkorn erschweren kann. Für ebenso
unschicklich halte ich es, einem Freunde aus Scherz, wie es die Gewohnheit
mancher Leute ist, mit selbst erfundenen erfreulichen Neuigkeiten ein kurzes
Vergnügen zu machen, das nachher vereitelt wird. Das alles ist Neckerei, durch
welche die Freuden des Umgangs nicht gewürzt, sondern versalzen werden. Auch
soll man nicht die Neugier reizen oder die Leute durch halb abgebrochene Worte
ängstigen, sondern lieber gänzlich schweigen, wenn man nicht ausreden will. Es
gibt Menschen, welche die Gewohnheit haben, ihren Freunden solche mystischen
Warnungen hinzuwerfen als z. B.: »Es läuft ein böses Gerücht von Ihnen
herum, aber ich kann, ich darf Ihnen noch nichts darüber sagen.« Dergleichen
hat gar keinen Nutzen und beunruhigt.
Überhaupt
muß man so wenig als möglich die Leute in Verlegenheit setzen, vielmehr sich
bemühn, wenn auch jemand im Begriff ist, eine Unvorsichtigkeit zu begehn (z. B.
schlecht von einem Buche zu reden, dessen Verfasser gegenwärtig ist) oder sonst
beschämt zu werden, ihm diese Verlegenheit zu ersparen oder die Sache auf
irgendeine Weise wieder ins Feine zu bringen.
36.
Man hüte sich, bei Personen, mit denen man umgeht, unberufen
unangenehme Dinge in Erinnerung zu bringen. Oft bewegt eine Art von unkluger
Teilnehmung die Leute, uns um die Beschaffenheit unsrer ökonomischen und andrer
verdrießlicher Sachen zu befragen, obgleich sie uns nicht helfen können, und
zwingen sie uns dadurch, Gegenstände, die wir in Gesellschaften, wo wir uns
aufzuheitern dachten, so gern vergessen möchten, ohne Unterlaß vor Augen zu
behalten. Man muß so viel Menschenkenntnis haben zu unterscheiden, ob der Mann,
den wir vor uns sehen, seinem Temperamente, seiner Lage und der Art seines
Kummers nach, durch solche Gespräche erleichtert werden kann, oder ob nicht
vielmehr sein Leiden dadurch doppelt erschwert wird.
37.
Nimm nicht teil daran, lächle nicht beifällig, tue lieber, als hörtest
Du es gar nicht, wenn jemand einem Dritten unangenehme Dinge sagt oder ihn beschämt.
Die Feinheit eines solchen Betragens wird gefühlt und oft dankbar belohnt.
38.
Über die Gewohnheit, Paradoxa vorzubringen, über
Widersprechungsgeist, Disputiersucht, Zitieren und Berufen auf die Meinungen und
Aussprüche andrer, werde ich mich im dritten Kapitel dieses Teils erklären und
beziehe mich hier darauf.
39.
Bekümmere Dich nicht um die Handlungen Deiner Nebenmenschen,
insofern sie nicht Bezug auf Dich oder so sehr auf die Moralität im ganzen
haben, daß es Verbrechen sein würde, darüber zu schweigen. Ob aber jemand
langsam oder schnell geht, viel oder wenig schläft, oft oder selten zu Hause,
prächtig oder lumpig gekleidet ist, Wein oder Bier trinkt, Schulden oder
Kapitalien macht, eine Geliebte hat oder nicht - was geht das Dich an, wenn Du
nicht sein Vormund bist? Tatsachen hingegen, die man durchaus wissen muß, erfährt
man oft am besten von dummen Leuten, weil diese ohne Witz, ohne
Konsequenzmacherei, ohne Seitenblicke, ohne Verbrämung und ohne Leidenschaft
geradehin erzählen.
40.
Öfters sind wir in dem Falle, daß uns durch Gespräche Langeweile
gemacht wird. Vernunft, Vorsichtigkeit und Menschenliebe gebieten uns dann, wenn
nun einmal nicht auszuweichen ist, Geduld zu fassen und nicht durch
beleidigendes Betragen unsern Überdruß zu erkennen zu geben. Man kann ja, je
seelenloser das Gespräch und je geschwätziger der Mann ist, um desto freier
nebenher an andre Dinge denken; und wäre auch das nicht - ei nun! es geht im
menschlichen Leben so manche verträumte Stunde verloren! Ist man denn nicht
einige Aufopferung der Gesellschaft schuldig, mit welcher man umgeht? - Und
geschieht es nicht vielleicht zuweilen, daß auch wir dagegen, so groß auch die
Meinung sein mag, die wir von der Wichtigkeit unsrer Gespräche haben, dennoch
durch unsre Redseligkeit andern Langeweile machen?
41.
Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben und die
wirklich täglich seltener wird, ist die Verschwiegenheit. Man ist heutzutage so
äußerst trügerisch in Versprechungen, ja in Beteuerungen und Schwüren, daß
man ohne Scheu ein unter dem Siegel des Stillschweigens uns anvertrautes
Geheimnis gewissenloserweise ausbreitet. Andre Menschen, die weniger
pflichtvergessen, aber höchst leichtsinnig sind, können ihrer Redseligkeit
keinen Zaum anlegen. Sie vergessen, daß man sie gebeten hat zu schweigen, und
so erzählen sie, aus unverzeihlicher Unvorsichtigkeit, die wichtigsten
Geheimnisse ihrer Freunde an öffentlichen Wirtstafeln. Oder, indem sie jeden,
der ihnen in dem Drange sich zu entladen in den Wurf kommt, für einen treuen
Freund ansehen, vertrauen sie das, was sie doch nicht als ihr Eigentum
betrachten sollten, ebenso leichtsinnigen Leuten an, als sie selbst sind. Solche
Menschen gehen dann auch nicht weniger unklug mit ihren eigenen Heimlichkeiten,
Plänen und Begebenheiten um, zerstören dadurch sehr oft ihre zeitliche Glückseligkeit
und vernichten ihre Absichten.
Welchen
Nachteil überhaupt solche unvorsichtige Bewahrung fremder und eigener
Geheimnisse gewährt, das bedarf wohl keiner weitläufigen Auseinandersetzung.
Es gibt aber eine Menge andrer Dinge, die zwar nicht eigentlich Geheimnisse
sind, wovon uns aber die Vernunft lehrt, daß es besser sei, sie zu
verschweigen, und andre Dinge, deren Ausbreitung wenigstens für niemand
lehrreich und unterhaltend sein kann, und wovon es doch möglich wäre, daß
ihre Verplauderung irgend jemand nachteilig sein möchte. - Ich empfehle also
eine kluge Verschwiegenheit, die jedoch nicht in lächerliche Mysteriösität
ausarten muß, als eine sehr wichtige Tugend im Umgange. Übrigens wird man die
Bemerkung wahr finden, daß in despotischen Staaten die Menschen im ganzen
genommen verschwiegener sind, als wo mehr Freiheit herrscht. Dort machen Furcht
und Mißtraun verschlossen und zurückhaltend, hier folgt jeder dem Triebe
seines Herzens, sich freimütig mitzuteilen.
Wenn
man auch mehreren Leuten zugleich sein Geheimnis anvertrauen muß, so lege man
doch jedem unbedingte Verschwiegenheit auf, damit jeder von ihnen glaube, er
wisse es allein, müsse allein für die Bewahrung haften.
42.
Gewissen Leuten ist eine Leichtigkeit im Umgange und die Gabe,
geschwind Bekanntschaften zu machen und Zuneigung zu gewinnen, wie angeboren;
andern hingegen hängt von Jugend auf eine gewisse Blödigkeit und Schüchternheit
an, die sie nicht abzulegen vermögen, wenngleich sie täglich fremde Leute
allerorten um sich sehen. Diese Blödigkeit nun ist freilich sehr oft die Folge
einer fehlerhaften Erziehung, sowie auch zuweilen die Wirkung einer heimlichen
Eitelkeit, die in Verlegenheit gerät, aus Furcht, nicht zu glänzen. Manchen
Menschen aber scheint diese Schüchternheit gegen ganz fremde Leute wirklich von
Natur eigen zu sein, und alle Mühe, welche sie sich dagegen geben, ist
verloren. Ein regierender Fürst, einer der edelsten und verständigsten Männer,
die ich kenne, und der auch wahrlich seines Äußern wegen sich nicht zu schämen,
noch zu fürchten braucht, nachteilige Eindrücke zu machen, hat mir versichert,
daß, obgleich ihn sein Stand von Kindheit an in die Lage gesetzt habe, täglich
große Zirkel und viel fremde Gesichter zu sehn, er dennoch an keinem Tage in
sein Vorzimmer trete, wo der versammelte Hof seiner wartete, ohne vor
Verlegenheit auf einen Augenblick ganz blind zu werden. Übrigens fällt bei
diesem liebenswürdigen Herrn, sobald er sich ein wenig erholt hat, diese Schüchternheit
weg, und dann redet er freundlich und offen mit jedermann und sagt bessere
Dinge, als gewöhnlich Fürsten bei solchen Gelegenheiten über Wetter, böse
Wege, Pferde und Hunde zu sagen wissen.
Eine
gewisse Leichtigkeit im Umgange also, die Gabe, sich gleich bei der ersten
Bekanntschaft vorteilhaft darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in
Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor sich hat und was man mit
jedem reden könne und müsse, das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und
auszubauen trachten soll. Doch wünsche ich, daß dies nie in jene den
Aventuriers so eigene Unverschämtheit und Zudringlichkeit ausarte, die oft in
weniger als einer Stunde Frist einer ganzen, fremden Tischgesellschaft im
Wirtshause ihre Lebensläufe abgefragt und dagegen den ihrigen erzählt, Dienste
und Freundschaft angeboten und Dienste, Verwendung und Hilfe für sich erbeten
haben.
43.
Ein großes Talent, und das durch Studium und Achtsamkeit erlangt
werden kann, ist die Kunst, sich bestimmt, fein, richtig, kernig, nicht
weitschweifig auszudrücken, lebhaft im Vortrage zu sein, sich dabei nach den Fähigkeiten
der Menschen zu richten, mit denen man redet, sie nicht zu ermüden, gut und
launig zu erzählen, nicht über seine eigenen Einfälle zu lachen, nach den
Umständen trocken oder lustig, ernsthaft oder komisch seinen Gegenstand
darzustellen und mit natürlichen Farben zu malen. Dabei soll man sein Äußeres
studieren, sein Gesicht in seiner Gewalt haben, nicht grimassieren, und wenn wir
wissen, daß gewisse Mienen, zum Beispiel beim Lachen, unsrer Bildung ein widerwärtiges
Ansehn geben, diese zu vermeiden suchen. Der Anstand und die Gebärdensprache
sollen edel sein; man soll nicht bei unbedeutenden, affektlosen Unterredungen
wie Personen aus der niedrigsten Volksklasse mit Kopf, Armen und andern Gliedern
herumfahren und um sich schlagen; man soll den Leuten grade, aber bescheiden und
sanft ins Gesicht sehn, sie nicht bei Ärmeln, Knöpfen und dergleichen zupfen
oder immer etwas zu spielen zwischen den Fingern haben. Kurz, alles was eine
feine Erziehung, was Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andre verrät, das
gehört notwendig dazu, den Umgang angenehm zu machen, und es ist wichtig, sich
in solchen Dingen nichts nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Anstandes,
selbst in dem Zirkel seiner Familie, zu beobachten, um sich das zur andern Natur
zu machen, wogegen wir so oft fehlen, und was uns Zwang scheint, wenn wir uns
Nachlässigkeiten in der Art zu verzeihn gewöhnt sind. Hierüber in diesen Blättern
viel mehr zu sagen, zu lehren: warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe;
daß wir einen Teller, oder was uns dargereicht wird, auch dann abnehmen müssen,
wenn wir nichts davon behalten wollen, damit der andre nicht die Mühe habe, es
unsertwegen in der Hand zu tragen; daß man so wenig als möglich in einer
Gesellschaft den Leuten den Rücken zukehren, in Titeln und Namen nicht irre
werden solle; daß man bei Personen, die das genau nehmen, den Vornehmern immer
auf der rechten Seite, oder, wenn drei beisammen sind, in der Mitte gehn lasse;
daß man, wenn jemand, dem wir Achtung schuldig sind, vor unserm Hause vorübergeht,
wo wir am Fenster stehn und er uns grüßt, man das Fenster auf einen Augenblick
öffnen oder wenigstens tun müsse, als wolle man es öffnen; daß eben dies in
der Kutsche, beim Vorüberfahren zu beobachten sei; daß man dem, mit welchem
man spricht, frei und offen, doch nicht starr und frech in das Gesicht schauen,
seine Stimme in seiner Gewalt haben, nicht schreien und doch verständlich
reden, in seinem Gange Anstand beobachten, nicht allerorten das große Wort
haben solle; daß man, wenn man ein Frauenzimmer führt, um sie nicht zu stoßen,
mit ihr gleichen Schritt halten und mit demselben Fuße wie sie antreten, ihr
auch zuweilen seine linke Hand reichen müsse, wenn sie an der rechten Seite
nicht so bequem gehn würde; daß man auf steilen Treppen im Hinuntersteigen die
Frauenzimmer vorausgehn, im Hinaufsteigen aber sie folgen lassen müsse; daß,
wenn man uns nicht versteht und man voraussieht, daß eine genauere Erklärung
nichts helfen würde oder der Gegenstand von so geringer Wichtigkeit ist, daß
er keinen großen Aufwand von Worten verdient, man dann die ganze Sache
fallenlassen müsse; daß vornehme Leute, wenn sie nicht über Vorurteile hinaus
sind, es übelnehmen, wenn ein Geringerer von sich und ihnen in Gemeinschaft
spricht (z. B. »Als wir gestern zusammen spazierengingen.« »Wir haben
gewonnen im gestrigen Spiele und unsre Gegner verloren«), sondern, daß sie
verlangen, man solle tun, als seien sie allein in der Welt des Nennens wert: »Ihro
Exzellenz, Ihro Gnaden haben gewonnen« (höchstens möchte man hinzusetzen: »mit
mir«); daß man bei Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, nicht
wieder vor sich hinlegen solle, wie so viele tun; daß es anständig sei, wenn
man jemand im Vorbeigehn grüßen will, den Hut auf der Seite abzuziehn, wo der
Fremde nicht geht, damit man ihn nicht damit berühre und sein Gesicht nicht vor
ihm verberge; daß man, wenn man jemand etwas darreicht, es, insofern dies zu ändern
steht, nicht mit der bloßen Hand hingeben müsse; daß es sich nicht schicke,
in Gesellschaften in das Ohr zu flüstern, bei Tafel krumm zu sitzen, unanständige
Gebärden zu machen, noch zu leiden, daß ein Frauenzimmer oder jemand, der
vornehmer ist als wir, von einer Speise, die vor uns steht, vorlege; daß es
unartig sei, in Gesellschaften jemanden einen unschuldigen Spaß zu verderben,
z. B. wenn er Kartenkünste zeigt und wir wissen, wie das Stück gemacht
wird, das kleine Wunder zu enthüllen, und dergleichen Regeln mehr zu geben,
dazu ist hier nicht der Ort. Leuten von gewissem Stande und einer nicht ganz
gemeinen Erziehung ist das in der ersten Jugend schon eingeprägt worden; nur
erinnere ich, daß diese kleinen Dinge in mancher Leute Augen keine kleinen
Dinge sind und daß oft unsre zeitliche Wohlfahrt in solcher Leute Händen ist.
44.
Soviel über den äußern Anstand und über schickliche Manieren.
Also nur noch etwas über die Kleidung. Kleide Dich nicht unter und nicht über
Deinen Stand; nicht über und nicht unter Dein Vermögen; nicht phantastisch;
nicht bunt; nicht ohne Not prächtig, glänzend noch kostbar; aber reinlich,
geschmackvoll, und wo Du Aufwand machen mußt, da sei Dein Aufwand zugleich
solide und schön. Zeichne Dich weder durch altväterische, noch jede
neumodische Torheit nachahmende Kleidung aus. Wende einige größere
Aufmerksamkeit auf Deinen Anzug, wenn Du in der großen Welt erscheinen willst.
Man ist in Gesellschaft verstimmt, sobald man sich bewußt ist, in einer
unangenehmen Ausstaffierung aufzutreten.
45.
Es gibt noch andre kleine gesellschaftliche Unschicklichkeiten und
Unkonsequenzen, die man vermeiden und wobei man immer überlegen muß, wie es
wohl aussehn würde, wenn jeder von den Anwesenden sich dieselbe Freiheit
erlauben wollte; zum Beispiel: während der Predigt zu schlafen; in Konzerten zu
plaudern; hinter eines andern Rücken einem Freunde etwas zuzuflüstern oder ihm
Winke zu geben, die jener auf sich deuten kann; überhaupt das Ins-Ohr-Reden in
Gesellschaften; wenn man lächerlich schlecht tanzt oder ein Instrument elend
spielt, sich damit sehn und hören zu lassen und dadurch die Anwesenden zum
Spotte und zum Gähnen zu reizen; wenn uns die Leute aus dem Wege gehn wollen,
ihnen, wie Yorick der Marquise von F*** in Mailand, zehnmal auf allen Seiten
entgegenzurennen; wenn wir ein Kartenspiel nicht verstehn oder höchst langsam
spielen, uns dennoch dabei hinzusetzen, unsrer Gegner Geduld auf die Probe zu
stellen und unsern Gehilfen durch Ungeschicklichkeit in Verlust zu bringen; bei
dem Tanze zugleich die Melodie mitzusingen; in Schauspielen so hinzutreten, daß
man nicht über uns wegsehn kann; in jede Versammlung später zu kommen, früher
wegzugehn oder länger zu verweilen als alle übrigen Mitglieder der
Gesellschaft. - Vermeide dergleichen Unschicklichkeiten. Blicke nicht in fremde
Papiere. Auch mag mancher nicht leiden, wenn man ihm beim Lesen, Arbeiten u. dgl.
auf die Finger sieht. Bleibe auch nicht allein im Zimmer, wo Schriften oder
Gelder herumliegen.
46.
Wenn die Frage entsteht: ob es gut sei, viel oder wenig in
Gesellschaft zu erscheinen, so muß die Beantwortung derselben freilich nach den
einzelnen Lagen, Bedürfnissen und nach unzähligen kleinen Umständen und Rücksichten
bei jedem Menschen anders ausfallen; im ganzen aber kann man den Satz zur
Richtschnur annehmen: daß man sich nicht aufdrängen, die Leute nicht überlaufen
solle und daß es besser sei, wenn man es einmal nicht allen Menschen recht
machen kann, daß gefragt werde, warum wir so selten, als geklagt, daß wir zu
oft und allerorten erscheinen. Es gibt einen feinen Sinn dafür (wenn uns nicht
übertriebene Eitelkeit und Selbstsucht die Augen blenden), einen Sinn, der uns
sagt, ob wir gern gesehn oder überlästig sind, ob es Zeit ist fortzugehn, oder
ob wir noch verweilen sollen.
Übrigens
rate ich, wenn man sich so weit in seiner Gewalt haben kann, mit so wenig Leuten
als möglich vertraulich zu werden, nur einen kleinen Zirkel von Freunden
zu haben und diesen nur mit äußerster Vorsicht zu erweitern. Gar zu leicht mißbrauchen
oder vernachlässigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen vollkommen
vertraulich werden. Um angenehm zu leben, muß man fast immer ein Fremder unter
den Leuten bleiben. Dann wird man geschont, geehrt, aufgesucht. - Deswegen ist
das Leben in großen Städten so schön, wo man alle Tage andre Menschen sehn
kann. Für einen Mann, der sonst nicht schüchtern ist, ist es ein Vergnügen,
unter Unbekannten zu sitzen. Da hört man, was man sonst nicht hören würde;
man wird nicht gehütet und kann in der Stille beobachten.
47.
Man vermeide aber, in alle Zirkel große Forderungen mitzunehmen,
allen Menschen alles allein sein, mit aller Gewalt glänzen, hervorgezogen
werden zu wollen, zu verlangen, daß aller Menschen Augen nur auf uns gerichtet,
ihre Ohren nur für uns gespitzt seien; denn sonst werden wir freilich uns aller
Orten zurückgesetzt glauben, eine traurige Rolle spielen, uns und andern
Langeweile machen, menschenscheu und bitter die Gesellschaft fliehn und von ihr
geflohn werden. Ich kenne viele Leute von der Art, die durchaus, wenn sie sich
in vorteilhaftem Lichte zeigen sollen, der Mittelpunkt sein müssen, um welchen
sich alles dreht, sowie überhaupt manche Menschen im gemeinen Leben niemand
neben sich vertragen, der mit ihnen verglichen werden könnte. Sie handeln
vortrefflich, groß, edel, nützlich, wohltätig, geistreich, sobald sie es
allein sind, an die man sich wendet, von denen man bittet, erwartet, hofft; aber
klein, niedrig, rachsüchtig und schwach, sobald sie in Reihe und Gliedern stehn
sollen, und zerstören jedes Gebäude, wozu sie nicht den Plan gemacht oder
wenigstens die Kranzrede gehalten haben, ja ihr eigenes Gebäude, sobald nur ein
andrer eine kleine Verzierung daran angebracht hat. Dies ist eine unglückliche,
ungesellige Gemütsart. Überhaupt rate ich, um glücklich zu leben und andre glücklich
zu machen, in dieser Welt so wenig als möglich zu erwarten und zu fordern.
48.
Mache einigen Unterschied in Deinem äußern Betragen gegen die
Menschen, mit denen Du umgehst, in den Zeichen von Achtung, die Du ihnen
beweisest. Reiche nicht jedem Deine rechte Hand dar. Umarme nicht jeden. Drücke
nicht jeden an Dein Herz. Was bewahrst Du den Bessern und Geliebten auf, und wer
wird Deinen Freundschaftsbezeigungen trauen, ihnen Wert beilegen, wenn Du so
verschwenderisch in Austeilung derselben bist?
49.
Sei, was Du bist, immer ganz und immer derselbe. Nicht heute warm,
morgen kalt; heute grob, morgen höflich und zuckersüß; heute der lustigste
Gesellschafter, morgen trocken und stumm wie eine Bildsäule. Mit solchen Leuten
ist übel umzugehn; sie überhäufen uns, wenn sie gerade in guter Laune sind
oder niemand um sich haben, der vornehmer als wir oder spaßhafter oder ein größerer
Schmeichler ist, mit allen Zeichen der herzlichsten, vertraulichsten
Freundschaft. Wir bauen darauf und wollen wenig Tage nachher den Mann wieder
besuchen, der uns so gern bei sich sieht, der uns so freundlich eingeladen hat,
recht oft zu kommen. Wir gehen hin und werden nun so frostig und verdrießlich
empfangen, oder man läßt uns ohne Unterhaltung in einer Ecke sitzen, antwortet
uns nur mit abgebrochenen Silben, weil man gerade von Kreaturen umgeben ist, die
mehr Weihrauch spenden als wir. Von solchen Menschen muß man sich unmerklich
zurückziehn, und wenn sie nachher in einem Augenblicke von Langerweile uns
wieder aufsuchen, gleichfalls gegen sie den Spröden machen und ihnen unter den
Händen fortschlüpfen.
50.
Suche weniger selbst zu glänzen als andern Gelegenheit zu geben,
sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt werden und gefallen
willst. Ich habe den Ruf eines vernünftigen und witzigen Mannes aus mancher
Gesellschaft mitgenommen, in welcher wahrlich kein kluges Wort aus meinem Munde
gegangen war und in welcher ich nichts getan hatte, als mit exemplarischer
Geduld vornehmen und halbgelehrten Unsinn anzuhören, oder hie und da einen Mann
auf ein Fach zu bringen, wovon er gern redete. Wie mancher besucht mich mit der
demütigen Ankündigung: (wobei ich mich oft nicht des Lachens erwehren kann) er
komme, um mir als einem gewaltigen Gelehrten und Schriftsteller seine
Ehrerbietung zu bezeugen; der Mann setzt sich dann hin und fängt an zu reden, läßt
mich, den er bewundern will, gar nicht zu Worte kommen, und geht, entzückt über
meine lehrreiche und angenehme Unterhaltung, zu welcher ich nicht zwanzig Worte
geliefert habe, von mir, höchst vergnügt, daß ich Verstand genug gehabt habe
- ihm zuzuhören. Habe Geduld mit allen Schwächen dieser Art! Wenn daher auch
jemand ein Geschichtchen oder sonst etwas vorbringt, das er gern erzählt, und
Du hättest es auch schon mehr gehört und es wäre vielleicht ein Märchen, das
Du selbst ihm einst mitgeteilt hättest, so laß es ihn doch nicht auf
unangenehme Weise merken, daß die Sache Dir alt und langweilig ist, wenn die
Person anders Schonung verdient. Was kann unschuldiger sein, als solche
Ausleerungen zu befördern, wenn man dadurch andern Erleichterung und sich einen
guten Ruf verschafft? Und wenn die Leute unschuldige Liebhabereien haben, z. B.
gern von Pferden reden, es gern sehen, daß man eine Pfeife Tabak mit ihnen
raucht, ein Glas Wein mit ihnen trinkt, so erzeige man ihnen diese kleine Gefälligkeit,
wenn es ohne große Ungemächlichkeit und ohne Falschheit geschehn kann.
Desfalls habe ich nie die Gewohnheit der Hofleute von gemeinerm Schlage gut
finden können, die jedermann nur mit halbem Ohre und zerstreuter Miene anhören,
ja gar mitten in einer Rede, die sie veranlaßt haben, einfallen, ohne das Ende
abzuwarten.
51.
Übrigens aber rate ich auch an, um seiner selbst und um andrer
willen ja nicht zu glauben, es sei irgendeine Gesellschaft so ganz schlecht, das
Gespräch irgendeines Mannes so ganz unbedeutend, daß man nicht daraus irgend
etwas lernen, irgendeine neue Erfahrung, irgendeinen Stoff zum Nachdenken
sammeln könnte. Aber man soll nicht aller Orten Gelehrsamkeit, feine Kultur
fordern, sondern gesunden Hausverstand und geraden Sinn begünstigen, vorziehn
und reden und wirken lassen, sich auch unter Menschen von allerlei Ständen
mischen; so lernt man zugleich nach und nach den Ton und die Stimmung annehmen,
die nach Zeit und Umständen erfordert werden.
52.
Mit wem aber soll man am mehrsten umgehn? Natürlicherweise läßt
sich auch diese Frage nur nach eines jeden besondern Lage beantworten. Hat man
die Wahl (und wirklich hat man diese doch öfter, als man glaubt), so wähle man
sich die Weisern zu seinem Umgange, Leute, von denen man lernen kann, die uns
nicht schmeicheln, die uns übersehen; allein gewöhnlich gefällt es uns
besser, einen Zirkel untergeordneter Geister um uns her zu versammeln, die in
Kreisen tanzen, so oft unser hoher Genius seine Zauberrute schwingt. Wir bleiben
indessen dadurch immer, wie wir waren, kommen nie weiter in Weisheit und Tugend.
Es gibt zwar Lagen, in welchen es nützlich und lehrreich, sich unter Menschen
von allerlei Fähigkeiten zu mischen, ja wo es auch Pflicht ist, nicht bloß mit
Leuten umzugehn, von denen wir, sondern auch mit solchen, die von uns lernen können,
und die ein Recht haben, dies zu fordern; diese Gefälligkeit aber darf nie so
weit gehn, daß die Rechenschaft, die wir einstens von unsrer goldenen Zeit und
von der Obliegenheit, uns zu vervollkommnen, geben sollen, dabei Gefahr laufe.
53.
Es ist oft eine höchst sonderbare Sache um den
Ton, der in Gesellschaften herrscht. Vorurteil, Eitelkeit, Schlendrian, Autorität,
Nachahmungssucht und wer weiß, was sonst noch stimmen diesen Ton so, daß
zuweilen Menschen, die an einem Orte zusammen leben, jahraus, jahrein, sich auf
eine Weise versammeln, unterhalten, Dinge miteinander treiben und über Gegenstände
reden, die allen zusammen und jedem einzelnen unendliche Langeweile machen.
Dennoch glauben sie, sich den Zwang antun zu müssen, diese Lebensart also
fortzuführen. Gewährt wohl die Unterhaltung in den mehrsten großen Zirkeln
einem einzigen von den da Versammelten wahres Vergnügen? Spielen unter fünfzig
Personen, die jeden Abend die Karten in die Hand nehmen, wohl zehn aus wahrer
Neigung? Um desto erbärmlicher ist es, wenn freie Menschen in kleinern Orten
oder gar auf Dörfern, die zwanglos leben könnten, um den Ton der Residenzen
nachzuahmen, sich ebenso peinlich unter das Joch dieser Langenweile krümmen.
Hat man Gewicht bei seinen Mitbürgern und Nachbarn, so ist es Pflicht, alles
dazu beizutragen, den Ton vernünftiger zu stimmen. Ist das aber nicht der Fall,
und man gerät einzeln in einen solchen Zirkel, so vermehre man nicht durch ein
schiefes oder stummes mürrisches Betragen der Anwesenden und des Hauswirts
Verlegenheit, es voreinander zu verbergen, daß sie sich sämtlich weit von da
weg wünschten, sondern man zeige sich vielmehr als einen Meister in der Kunst,
viel zu reden, ohne etwas zu sagen, und mache sich wenigstens das Verdienst, den
Raum auszufüllen, wovon außerdem gewöhnlich die Verleumdung Besitz nimmt.
In
volksreichen, großen Städten kann man am allerunbemerktesten und ganz nach
seiner Neigung leben; da fallen eine Menge kleiner Rücksichten weg; man wird
nicht ausgespähet, kontrolliert, beobachtet; es laufen nicht so aus Mund in
Mund die interessanten Nachrichten: wievielmal in der Woche ich Braten esse, ob
ich oft oder selten ausgehe und wohin; wer zu mir kommt, wie stark der Lohn ist,
den ich meiner Köchin gebe, und ob ich kürzlich mit ihr geschmält habe? Meine
Kleidung wird nicht gemustert; man fragt nicht in jedem Kramerhause meine Magd,
wenn sie für vier Pfennige Pfeffer holt, für wen der Pfeffer ist und wozu der
Pfeffer gebraucht werden soll? Eine unbedeutende Anekdote beschäftigt da nicht
sechs Wochen lang alle Zungen; man wandelt unbemerkt, friedenvoll und ungeneckt
durch den großen Haufen hin, besorgt seine Geschäfte und wählt sich eine
Lebensart, wie man sie für zweckmäßig hält. In kleinen Städten ist man
verurteilt, mit einer Anzahl oft sehr langweiliger Magnaten in strenger
Abrechnung von Besuchen und Gegenbesuchen zu stehn, die gewöhnlich gleich nach
dem Mittagstische ihren Anfang nehmen und bis zu der Bürgerglocke, das heißt
bis zehn Uhr abends fortdauern, während welcher Zeit die Unterhaltung gewöhnlich
den König von Preußen, den Kaiser, andre hohe Potentaten, und was der
Reichspostreuter von ihnen meldet, zum Gegenstande hat. Das ist nun freilich
erschrecklich; doch gibt es auch Mittel, dort den Ton des Umgangs nach und nach
zu verfeinern oder das schwache Publikum daran zu gewöhnen, nachdem es ein
vierter Jahr hindurch über uns gelästert hat, uns endlich auf unsre Weise
leben zu lassen, wenn man sich übrigens redlich, menschenfreundlich,
dienstfertig und gesellig beträgt. Am übelsten aber pflegt man in den mittlern
Städten daran zu sein, sowohl in den Reichsstädten der geringem Klasse, als in
unbeträchtlichen Residenzen. Da herrschen gewöhnlich, neben einem übertriebenen
Luxus und solchen sittlichen Verderbnissen, die mit der Korruption in den größten
Städten wetteifern, noch obendrein alle Gebrechen kleiner Städte,
Klatschereien, Anhänglichkeit an Schlendrian, an Gewohnheiten und
Familienverbindungen, die abgeschmacktesten Forderungen und die lächerlichste
Klassifizierung der Stände. So habe ich eine Stadt gesehn, in welcher ein Mann
durch seine kürzlich erhaltene Bedienung, die ehemals dort nicht existiert
hatte, so sehr von allen übrigen einmal bestimmten Rangordnungen abgesondert
war, daß er wie ein Elefant in einer Menagerie immer für sich allein
spazierengehn mußte, ohne seinesgleichen, weder einen Gesellschafter, noch eine
Gefährtin finden zu können. Vielleicht bin ich parteiisch für meine liebe
Vaterstadt, aber ich glaube (und auch andre einsichtsvollere Männer lassen ihr
diese Gerechtigkeit widerfahren), daß, obgleich Hannover nicht zu den größten
Städten in Deutschland gehört, man dennoch hier so frei und unbemerkt leben könne
als irgendwo. Vermutlich hat unsre Verbindung mit England, wo manche Vorurteile
von der Art verachtet werden, hierzu viel beigetragen. Da nun aber in den
wenigsten Städten von Deutschland diese glückliche Stimmung angetroffen wird,
so muß man lernen, sich nach den herrschenden Sitten zu richten, und nichts
kann unvernünftiger und für den Eiferer selbst von nachteiligem Folgen sein,
als wenn ein einzelner, der nicht besonders in Ansehen steht, auftreten und
seine Vaterstadt reformieren will. Nirgends kommt indessen ein solcher
Deklamator übler an als in den Reichsstädten, wo alte Sitte und Schlendrian
innig verwebt sind in die Regierungsform und in alle übrigen Verhältnisse.
Dort kann zuweilen der bloße Schnitt eines Rocks oder ein bißchen mehr oder
weniger Gold darauf, wodurch ein Kaufmann sich von seinen Mitbrüdern
unterscheidet, ihn um seinen Kredit bringen, und eine Perücke im richtigen Kostüm,
die über einen leeren Hirnkasten gehängt wird, bei der Ratsherrnwahl den Sieg
über ein eigenes Haar, das einen feinen Kopf deckt, davontragen.
In
Dörfern und auf seinem Landgute lebt man in der Tat am ungezwungensten, und für
jemand, der Lust hat, sich zu beschäftigen und zum besten andrer etwas
beizutragen, findet sich da mannigfaltige Gelegenheit, indem man an dem nützlichsten,
zu sehr niedergedrückten und vernachlässigten Stande zum Wohltäter werden
kann; allein die geselligen Freuden sind auf dem Lande nicht so leicht zu
verschaffen. In Augenblicken, wo man gerade Bedürfnis fühlt, seine Arme nach
einem treuen Freunde auszustrecken, ist dieser Freund vielleicht Meilen weit von
uns entfernt; man müßte denn reich genug sein, einen ganzen Hofstaat von
Freunden um sich her zu versammeln, aber auch das hat seine üble Seite, und
sehr reiche Leute fühlen ja ohnehin selten dies Bedürfnis. Um also hier glücklich
und vergnügt leben zu können, ohne so sehr wohlhabend zu sein, soll man die
Kunst verstehn, das Gute aus dem Umgange der Menschen, die man grade bei sich
haben kann, zu schmecken und zu erkennen, der einfachen Freuden nicht müde zu
werden, damit zu geizen, und ihnen auf erfindungsreiche Art Mannigfaltigkeit zu
geben. Weil man auf dem Lande seine Frau, seine Kinder und seine Hausfreunde vom
Morgen bis zum Abend ununterbrochen um sich zu sehn pflegt, so entsteht leicht
Überdruß, Leere im Umgange. Dies kann durch einen Vorrat guter Bücher, die
neuen Stoff zur Unterhaltung geben, durch interessanten Briefwechsel mit
abwesenden Edeln und durch weise Einteilung der Zeit, indem man manche
Tagesfristen einzeln in seinen Zimmern zubringt, gehoben werden, und nichts ist
süßer auf dem Lande, als wenn, nach einem nützlich verlebten Tage, wo jeder für
sich seine Geschäfte besorgt hat, des Abends sich der kleine Zirkel zum
Spaziergange, muntern Scherze und zwanglosen Gespräche wieder versammelt. Es
gibt selbst Prinzen, die diesen Genuß kennen, und ich habe noch vor nicht gar
langer Zeit am Fuße der vogesischen Gebirge einige Wochen an dem Hofe eines
guten und klugen Fürsten auf diese Art sehr glücklich hingebracht.
Nichts
aber ist erschrecklicher und doch häufiger zu finden, als wenn Menschen, die in
kleinen Städten oder gar auf dem platten Lande täglich miteinander umgehn müssen,
in ewigem Zwiste miteinander leben, und dabei doch nicht reich genug sind, sich
jeder für sich eine besondre Existenz zu schaffen. Sie bauen sich eine Hölle
auf Erden. Nirgends also ist es so wichtig als hier, schonend, nachsichtig,
geschmeidig, vorsichtig, klug und mit einer Art von Koketterie im Umgange zu
verfahren, um Mißverständnissen, Ekel und Überdrusse vorzubauen.
54.
In fremden Städten und Ländern ist Vorsichtigkeit im Umgange zu
empfehlen, und das in manchem Betrachte. Wir mögen nun dort Unterricht und
Belehrung, oder ökonomische und politische Vorteile oder bloß Vergnügen
suchen, so ist es sehr notwendig, gewisse Rücksichten nicht zu verachten. Im
ersten Falle, nämlich wenn wir reisen, um uns zu unterrichten, versteht sich's
vor allen Dingen von selbst, daß wir wohl überlegen, in welchem Lande wir
sind, und ob man da ohne Gefahr und Verdruß von allem reden und nach allem
fragen dürfe. Es gibt leider auch in Deutschland Staaten, in welchen die
Regierungen es nicht gern sehen und es scharf ahnden, wenn gewisse Werke der
Finsternis an das Tageslicht gezogen werden. Da ist Behutsamkeit nötig, sowohl
in Gesprächen und Nachforschungen als in der Wahl der Menschen, mit denen man
sich in Verbindung einläßt. Übrigens muß ich auch hier erinnern, daß sehr
wenig Reisende eigentlich Beruf haben, sich um die innere Verfassung fremder Länder
zu bekümmern; allein törichte Neugier, Vorwitz, unruhiger Tätigkeitstrieb
jagt jetzt haufenweise die Menschen hinaus, um in fremden Gasthöfen, Posthäusern,
Klubs und in den Schatzkammern hypochondrischer Gelehrter unsichre Anekdoten zu
einem Werkchen zu sammeln, indes sich daheim noch unendlich viel für sie zu
wirken und zu lernen gefunden haben würde, wenn es ihnen um ihr und andrer Wohl
ernstlich zu tun wäre.
Daß
diese Vorsicht verdoppelt werden müsse, sobald man an einem fremden Orte für
sich etwas zu suchen oder zu fordern hat, versteht sich wohl von selber. Da
alsdann manches Auge auf uns gerichtet ist, so müssen wir den Umgang mit Leuten
vermeiden, die, unzufrieden mit der Regierung, sich so gern den Fremden an den
Hals werfen, weil sie unter ihren Mitbürgern durch unkluge Aufführung sich
einen bösen Namen gemacht und sich auf diese Art den Weg versperrt haben, bürgerliche
Vorteile zu erlangen, die sie aber zu verachten scheinen, wie der Fuchs die
Trauben. Diese Art Leute sucht sich dann dadurch ein bißchen zu heben, daß sie
mit den Reisenden, denen sie sich in den Gasthöfen oder auf andre Art aufdrängen,
durch die Gassen der Stadt laufen und dadurch Verbindungen in andern Ländern
mutmaßen lassen. Ein Fremder, der nur wenig Tage sich an einem Orte aufhalten
will, kann ohne Nachteil mit diesen mehrenteils sehr geschwätzigen und von
lustigen und ärgerlichen Märchen aller Art vollgepfropften Ciceronis nach
Gefallen herumrennen, und kein vernünftiger Mann wird ihm das verdenken; wer
aber länger in einer Stadt verweilen, in den bessern Zirkeln Zutritt haben oder
gar ein Geschäft zustande bringen will, dem rate ich, in der Auswahl seines
Umgangs auch die Stimme des Publikums zu respektieren.
Es
gibt fast in jeder Stadt eine Partei solcher Unzufriedener; sei es nun mit der
Regierung oder nur mit der Gesellschaft. Zu diesen geselle Dich also nicht. Wähle
nicht unter ihnen Deinen Umgang. Diese Malcontenten glauben sich nicht geehrt
genug oder sind unruhige Köpfe, Lästermäuler, Menschen voll unvernünftiger
Prätensionen, ränkevolle und unsittliche Leute. Da sie nun einer dieser
Ursachen wegen von ihren Mitbürgern geflohn werden, so suchen sie unter sich
eine Art von Bündnis zu errichten, in welches sie, wenn sie können, verständige
und wackre Männer zu ihrer Verstärkung durch Schmeichelei hineinziehen. Laß
Dich weder darauf, noch überhaupt auf das ein, was Partei und Faktion genannt
werden kann, wenn du mit Annehmlichkeit leben willst.
55.
Verflechte niemand in Deine Privatzwistigkeiten und fordre nicht von
denen, mit welchen Du umgehst, daß sie teil an den Uneinigkeiten nehmen sollen,
die zwischen Dir und andern herrschen.
56.
Wünschest Du zeitliche Vorteile, Unterstützung, Versorgung im bürgerlichen
Leben; möchtest Du in einer Bedienung angestellt werden, in welcher Du Deinem
Vaterlande nützlich sein könntest, so mußt Du darum bitten, ja nicht selten
betteln. Rechne nicht darauf, daß die Menschen, sie müßten denn Deiner ganz
notwendig bedürfen, Dir etwas anbieten oder sich ohngebeten für Dich verwenden
werden, wenn auch Deine Taten noch so laut für Dich reden, und jedermann weiß,
daß Du Unterstützung bedarfst und verdienst. Jeder sorgt für sich und die
Seinigen, ohne sich um den bescheidenen Mann zu bekümmern, der indes nach Gemächlichkeit
in seinem Winkelchen seine Talente vergraben oder gar verhungern kann. Darum
bleibt so mancher Verdienstvolle bis an seinen Tod unerkannt, außerstand
gesetzt, seinen Mitbürgern nützlich zu werden - weil er nicht betteln, nicht
kriechen kann.
57.
Wenn ich gesagt habe, daß man lieber allen geben,
als von irgend jemand empfangen solle, so hebt das den Satz nicht auf, daß
man nicht gar zu viel für andre tun dürfe. Überhaupt sei dienstfertig, aber
nicht zudringlich. Sei nicht jedermanns Freund und Vertrauter. Vor allen Dingen
bessere und demoralisiere die Menschen nicht, rate ihnen nicht ohne
entschiedenen Beruf dazu. Die wenigsten wissen Dir Dank dafür, und selbst wenn
sie uns um Rat fragen, sind sie gewöhnlich schon entschlossen zu tun, was ihnen
gefällt. Man belästige nicht seine Bekannten mit kleinen, unwichtigen Aufträgen,
z. B. etwas für uns einzukaufen u. dgl., wenn man auf andre Weise Rat
schaffen kann. Auch suche man sich von ähnlichen Besorgungen loszumachen. Gewöhnlich
büßt man Zeit und Geld dabei ein und erntet dennoch selten Dank und
Zufriedenheit. Mische Dich auch nicht in Familienhändel. Ich bin ein paarmal
mit der besten Absicht sehr übel dabei gefahren. Vor allen Dingen hüte Dich,
Zwistigkeiten schlichten und Versöhnungen stiften zu wollen. (Es sei denn unter
geliebten, geprüften Personen.) Mehrenteils werden beide Parteien einig, um über
dich herzufallen. Das Kuppeln und Heiratenschmieden überlasse man dem Himmel
und einer gewissen Klasse von alten Weibern.
58.
Beurteile die Menschen nicht nach dem, was sie reden, sondern nach
dem, was sie tun. Aber wähle zu Deinen Beobachtungen solche Augenblicke, in
welchen sie von Dir unbemerkt zu sein glauben. Richte Deine Achtsamkeit auf die
kleinen Züge, nicht auf die Haupthandlungen, zu denen jeder sich in seinen
Staatsrock steckt. Gib acht auf die Laune, die ein gesunder Mann beim Erwachen
vom Schlafe, auf die Stimmung, die er hat, wenn er des Morgens, wo Leib und
Seele im Nachtkleide erscheinen, aus dem Schlafe geweckt wird, auf das, was er
vorzüglich gern ißt und trinkt: ob sehr materielle, einfache oder sehr feine,
gewürzte, zusammengesetzte Speisen; auf seinen Gang und Anstand; ob er lieber
allein seinen Weg geht oder sich immer an eines andern Arm hängt; ob er in
einer graden Linie fortschreiten kann oder seines Nebengängers Weg durchkreuzt,
oft an andre stößt und ihnen auf die Füße tritt; ob er durchaus keinen
Schritt allein tun, sondern stets Gesellschaft haben, immer sich an andre
anschließen, auch um die geringsten Kleinigkeiten erst Rat fragen, sich
erkundigen will, wie es sein Nachbar, sein Kollege macht; ob, wenn er etwas
fallen läßt, er es sogleich wieder aufnimmt, oder es da liegen läßt, bis er
gelegentlich, nach seiner Gemächlichkeit, einmal hinreicht, um es aufzuheben;
ob er gern andern in die Rede fällt, niemand zu Worte kommen läßt; ob er gern
geheimnisvoll tut, die Leute auf die Seite ruft, um ihnen gemeine Dinge in das
Ohr zu sagen; ob er gern in allem entscheidet und so ferner. - Fasse alle diese
Wahrnehmungen zusammen, nur sei nicht so unbillig, nach einzelnen solchen Zügen
den ganzen Charakter zu richten.
Sei
nicht zu parteiisch für Menschen, die Dir freundlicher begegnen als andre.
Baue
nicht eher fest auf treue, immer Stich haltende Liebe und Freundschaft, als bis
Du erst solche Proben gesehn hast, die Aufopferung kosten. Die mehrsten
Menschen, die uns so herzlich ergeben scheinen, treten zurück, sobald es darauf
ankommt, ihren Lieblingsneigungen zu unserm Vorteile zu entsagen. Darauf ist
also Rücksicht zu nehmen, wenn man wissen will, was ein Mensch uns wert ist. Es
ist keine Kunst, alles zu leisten, was man nur wünschen mag, das einzige
ausgenommen, was Überwindung kostet.
59.
Wenn Du in einer Gesellschaft von einem der Anwesenden mit Deinem
Freunde reden willst (obgleich dies und das In-das-Ohr-Flüstern überhaupt
unanständig ist), so gebrauche wenigstens die Vorsicht und Schonung, die
Person, von welcher Du redest, nicht dabei anzusehn. Und ist Dir daran gelegen,
etwas zu hören, das in einiger Entfernung von Dir gesprochen wird, so wende
auch Deine Blicke nicht dahin. Man wird sonst aufmerksam auf Dich und man hört
ja auch nur mit den Ohren, nicht mit den Augen.
60.
Alle diese allgemeinen, sodann die folgenden besondern Regeln nun,
und viel mehrere noch, die ich, um mein Werk nicht über Gebühr auszudehnen,
der eigenen Einsicht der Leser überlasse, zielen dahin, den Umgang leicht,
angenehm zu machen und das gesellige Leben zu erleichtern. Es kann aber mancher
seine besondern Gründe haben, warum er sich über einige derselben hinaussetzen
will, und da ist es denn freilich sehr billig, jedem zu erlauben, auf seine
eigene Art seine Ruhe zu befördern. Drängen wir niemand unsre Spezifika auf.
Wer weder Gunst der Großen sucht, noch allgemeines Lob, noch glänzenden Ruhm,
noch Beifall verlangt; wer seiner politischen und ökonomischen Lage oder andrer
Rücksichten wegen nicht Ursache hat, den Zirkel seiner Bekanntschaft zu
erweitern; wer Alters oder Schwächlichkeit halber den menschlichen Umgang
flieht, der bedarf keiner Regeln des Umgangs. Wir sollen daher so billig sein,
von niemand zu fordern, daß er sich nach unsern Sitten richte, sondern
jedermann seinen Gang gehn lassen; denn da jedes Menschen Glückseligkeit in
seinen Begriffen von Glückseligkeit beruht, so ist es grausam, irgendeinen
zwingen zu wollen, wider seinen Willen glücklich zu sein. Es ist oft lustig
anzusehn, wie ein Haufen leerer Köpfe sich über einen sehr verständigen Mann
aufhält, der grade keinen Beruf fühlt oder nicht aufgelegt ist, den Ton ihrer
Gesellschaft anzunehmen, sondern mit seiner abgesonderten Existenz sehr wohl
zufrieden, seine teure Zeit nicht jedem Narren preisgeben will. Wenn wir nicht
grade Sklaven der Gesellschaft sein wollen, so nehmen das die müßigen Leute,
die nichts Bessers zu tun wissen, als aus dem Bette vor den Spiegel, von da an
Tafel, von da an den Spieltisch, von da wieder an Tafel und von da endlich in
das Bett zu wandern, sehr übel, daß wir nicht wie sie leben, der Geselligkeit
nicht höhere Pflichten aufopfern wollen - das ist eine Unart, deren man sich
enthalten soll. Es heißt nicht, sich absondern, wenn man zu Hause bleibt, um zu
tun, was man tun soll, wovon man Rechenschaft geben muß.
61.
Von Deinen Grundsätzen gehe nie ab,
solange Du sie als richtig anerkennst! Ausnahmen zu machen, das ist sehr gefährlich
und führt immer weiter, vom Kleinen zum Großen. Hast Du Dir also einmal aus
guten Gründen vorgenommen, keine Bücher zu verleihn, keinen Wein zu trinken u. dgl.,
so müsse Dich Dein eigener Vater nicht bewegen können, davon abzugehn. Sei
fest; aber hüte Dich, nicht so leicht etwas zum Grundsatze zu machen, bevor Du
alle möglichen Fälle überlegt hast, oder eigensinnig auf Kleinigkeiten zu
bestehn.
Vor
allen Dingen also handle nur stets konsequent. Mache Dir einen Lebensplan und
weiche nicht um ein Tüttelchen von diesem Plane. Hätte dieser Plan auch
allerlei Sonderbarkeiten - die Menschen werden eine Zeitlang die Köpfe darüber
zusammenstecken und am Ende schweigen, Dich in Ruhe lassen und Dir ihre
Hochachtung nicht versagen können. Man gewinnt überhaupt immer durch Ausdauern
und planmäßige, weise Festigkeit. Es ist mit Grundsätzen wie mit jeden andern
Stoffen, woraus etwas gemacht wird, nämlich daß der beste Beweis für ihre Güte
der ist, wenn sie lange halten, und in der Tat, wenn man recht genau den Gründen
nachspüren will, warum auch den edelsten Handlungen mancher Menschen nicht
Gerechtigkeit widerfährt, so wird man oft finden, daß das Publikum deswegen
Verdacht gegen die Wahrheit und den Zweck dieser Handlungen gefaßt hat, weil
sie nicht in das System des Mannes, der sie begeht, weil sie nicht zu seinen übrigen
Schritten zu passen scheinen.
62.
Was aber noch heiliger als jene Vorschrift ist - habe immer ein gutes Gewissen!
Bei keinem Deiner Schritte müsse Dir Dein Herz über Absicht und Mittel Vorwürfe
machen dürfen. Gehe nie schiefe Wege und baue dann sicher auf gute Folgen, auf
Gottes Beistand und auf Menschenhilfe in der Not. Und verfolgt Dich auch wohl
eine Zeitlang ein widriges Geschick - o, so wird doch die selige Überzeugung
von der Unschuld Deines Herzens, von der Redlichkeit Deiner Absichten Dir ungewöhnliche
Kraft und Heiterkeit geben; Dein kummervolles Antlitz wird im Umgange mehr, weit
mehr Interesse erwecken als die Fratze des lächelnden, grinsenden, glücklich
scheinenden Bösewichts.
63.
Und
nun weiter zu den besondern Umgangsregeln - doch vorher noch eine Erinnerung.
Wenn ich allein, oder auch nur vorzüglich, für Frauenzimmer schriebe, so würde
ich eine Menge der schon gegebenen und noch folgenden Vorschriften teils gänzlich
übergehn, teils modifizieren, teils andre an deren Stelle setzen müssen, die
alsdann für Männer weniger brauchbar wären. Das ist indessen nicht der Zweck
meines Buchs. Weise Frauenzimmer allein können den Personen ihres Geschlechts
die besten Lehren über ihr Betragen im gesellschaftlichen Leben erteilen; das
ist eine Arbeit, die Männern nicht gelingen würde. Findet jedoch das schöne
Geschlecht auch etwas für sich Brauchbares in diesen Blättern, so wird das
meine Zufriedenheit über mein eigenes Werk sehr vermehren. Übrigens haben
Frauenzimmer in ihrem Umgange in der Tat Rücksichten zu nehmen, die bei uns gänzlich
wegfallen. Sie hängen viel mehr vom äußern Rufe ab, dürfen nicht so
zuvorkommend sein. Man verzeiht ihnen von einer Seite weniger Unvorsichtigkeiten
und von der andern mehr Launen; ihre Schritte werden früher wichtig für sie,
indes dem Knaben und Jüngling manche Unvorsichtigkeit verziehn wird; ihre
Existenz schränkt sich ein auf den häuslichen Zirkel, dahingegen des Mannes
Lage ihn eigentlich fester an den Staat, an die große bürgerliche Gesellschaft
knüpft; deswegen gibt es Tugenden und Laster, Handlungen und Unterlassungen,
die bei einem Geschlechte von ganz andern Folgen sind als bei dem andern. - Doch
über dies alles ist den Damen so viel Gutes in andern Büchern gesagt worden,
daß jede weitere Ausführung dieses Gegenstandes hier am unrechten Orte stehn würde.