Erich Mühsam
Appell an den Geist
Wir Menschen sind geschaffen,
in Gesellschaft miteinander zu leben; wir sind aufeinander angewiesen, leben
voneinander, beackern miteinander die Erde und verbrauchen miteinander ihren
Ertrag. Man mag diese Einrichtung der Natur als Vorzug oder als Benachteiligung
gegenüber fast allen anderen Tieren bewerten: die Abhängigkeit des Menschen von
den Menschen besteht, und sie zwingt unsern Instinkt in soziale Empfindungen.
Sozial empfinden heißt somit, sich der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der
Menschen bewußt sein; sozial handeln heißt im Geiste der Gemeinschaft wirken.
Dies ist der Konflikt, in den
die Natur uns Menschen gestellt hat: daß die Erde von unseren Händen Arbeit
fordert, um uns ihre Früchte herzugeben, und daß unser Wesen bestimmt ist von
Faulheit, Genußsucht und Machthunger. Wir wollen Nahrung, Behausung und Kleidung
haben, ohne uns dafür anstrengen zu müssen; wir wollen, fern von der Pein
quälender Notwendigkeiten, beschaulich genießen; wir wollen Macht ausüben über
unsere Mitmenschen, um sie zu zwingen, uns unsre heitere Notentrücktheit zu
sichern. Den Ausweg zu finden aus dieser Diskrepanz: das ist das soziale Problem
aller Zeiten.
Nie hat sich eine Zeit
kläglicher mit dem Problem abgefunden als unsere. Der kapitalistische Staat, das
traurigste Surrogat einer sozialen Gesellschaft, hat im Namen einer geringen,
durch keinerlei geistige oder menschliche Eigenschaften ausgezeichneten
Minderheit die Macht über die gewaltige Mehrzahl der Mitmenschen okkupiert,
indem er sie von der freien Benutzung der Arbeitsmittel ausschließt. Sein
einziges Machtmittel ist Zwang; gezwungene Menschen beschützen in gedankenloser
Knechtschaffenheit Faulheit und Genuß der privilegierten Machthaber. Wild,
sinnlos, roh, von keinem Brudergefühl gebändigt toben die Menschen
gegeneinander. Was sie als Macht erstreben, ist nüchterner Besitz an materiellen
Gütern. Der Kampf aller gegen alle ist kein Ringen um den Preis der Schönheit,
der inneren Freiheit, der Kultur, – sondern eine groteske Balgerei um die größte
Kartoffel. Auf der einen Seite Hunger, Elend, Verkommenheit; auf der anderen
Seite geschmackloser Luxus, plumpe Kraftprotzerei, schamlose Ausbeutung. Und all
das chaotische Getümmel verstrickt in einem stählernen Netz von Gesetzen,
Verordnungen, Drohungen, die die bevorzugte Minderheit schuf, um ihrer
Gewaltherrschaft das Ansehen des Rechts zu geben.
Eine verlogene Ethik hat das
Wissen um Wahrhaftigkeit und Rechtlichkeit vergiftet. Rabulistische
Advokatenlogik hat den guten, reinen und wahren Begriff der Freiheit zum Popanz
autoritärer Marktschreier verdreht. Die Verständigung der Menschen beschieht im
Kauderwelsch der Politik; der Wille der Menschen beugt sich unter abstrakte
Paragraphen, das Rückgrat der Menschen paßt sich verkrümmten Uniformen an.
Geknebelt ist der Gedanke,
das Wort und die Tat, – geknebelt selbst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und
Menschlichkeit. Die Seele des Menschen ist dem Staate beamtet, und der Geist der
Menschen schläft im Schutze der Obrigkeit.
Kein Knirschen der Wut stört
die Hast der Geschäfte. Der Lärm geht um den Profit; kein Stöhnen der
Verzweiflung übertönt ihn. Wer aber warnend seine Stimme hebt, wer Menschen
sucht, um mit ihnen zu bauen, aufzurichten das Werk der Freiheit, der Freude und
des Friedens, dem gellt das Lachen ins Ohr derer, die sich nicht stören lassen
wollen, derer, die Tritte empfangen und um sich treten, das Hohnlachen der
Philister.
Welche Ansicht der Mensch von
den Dingen der Menschen haben darf, ist vom Staate abgestempelt. Einzelne
Einrichtungen des Staates, besondere Maßnahmen darf er kritisieren, benörgeln,
beschimpfen. Aber wehe dem, der der Fäulnis der Gesellschaft in die Tiefe
leuchtet. Er ist verfemt, geächtet ausgestoßen. An Mitteln fehlt es den
Philistern nicht, ihn unschädlich zu machen: sie haben ihre "öffentliche
Meinung", sie haben die Presse. Wohl eifern auch die Organe der verschiedenen
Parteien gegeneinander; wohl tuten auf der Jagd nach dem Profit in den Gefilden
der öffentlichen Meinung die Hörner am lautesten und am schrillsten. Aber darin
sind sie einig: der freie Gedanke, das freie Wort, die freie Sehnsucht darf
keine Stätte haben in ihrem Revier. Ein breiter Graben zieht sich durch ihrer
aller Lager; und in dem fließt der Strom, mit dem wir schwimmen müssen.
Hoch über den Ebenen, in
denen die Philister einander in die Seiten puffen, ragt die Burg, darin der
Geist wohnt. Der Literat und der Künstler wenden den Blick degoutiert ab vom
Gewimmel der Menge. Was schert es sie, wie Hinz den Kunz übers Ohr haut ! Dem
Bettler, der am Weg die Drehorgel leiert, gibt man mildtätig einen Groschen und
geht seines Weges. Zu ihnen hinauf, in die Domänen der Kultur darf der Dunst des
Alltags nicht steigen. Die Nase zu vor den Ausdünstungen des Volks! Den Blick
empor zu den reinen Höhen der Geistigkeit.
Lächelnd spottet man bei den
ästhetischen Gelagen über den Snob, der auf die Tribüne steigt und die Massen
aufruft zum Kampf gegen Gewalt und Ausbeutung, für Recht und Freiheit. Ein
Sensationshascher und Reklameheld – im besten Falle ein verrannter Narr, dem es
schon recht geschieht, wenn man ihn ignoriert und boykottiert. Was geht ihn die
soziale Not des Volkes an?! ...
Der Künstler, der sich allem,
was die Umwelt angeht, so hoch überlegen dünkt, ist ein Philister. Seine bequeme
Zufriedenheit hat nichts Erhabenes, sondern nur etwas Verächtliches. Er
verschließt die Augen vor dem Elend, in dem er selbst bis an die Knöchel watet,
und macht sich damit für die Behörden zum Erwünschtesten aller Staatsbürger.
Aber gerade der Künstler
hätte tausendmal Grund, wütend aufzubegehren gegen die Schändlichkeiten unseres
Gesellschaftsbetriebes. Sein Werk steht – und das muß so sein – jenseits der
Marktbewertung. Unter den Zuständen, die uns umgeben, ist es daher überflüssig,
wertlos, unnütz und mithin lächerlich oder gefährlich. Der Kunstler selbst gilt
–sofern er nicht als Kapitalist andere Menschen für sich arbeiten läßt – als
Schmarotzer, als Schädling, als Verkehrsstörung. Soll ihn seine Kunst ernähren,
so muß er sie dem verrotteten Geschmack des Banausentums unterordnen, und er
verkommt menschlich und künstlerisch. – Hat er aber die Mittel zum Leben,
produziert er, wozu es ihn treibt, so bleibt sein Werk den Mitmenschen fremd,
und die höchste Freude des Schaffenden, mit seiner Arbeit Menschenseelen zu
erfrischen und zu erhellen, bleibt ihm versagt.
Aber er ist ja Esoteriker.
Ihm genügt ja die Anerkennung der wenigen, derer, die "reif" sind für seine
Kunst, die gleich ihm dem Spektakel des Lebens fernestehen. Ach, Schwätzerei!
–Das ist eine matte, blutleere, dürftige Kunst, die nicht getränkt ist vom
warmen roten Zustrom der lebendigen Wirklichkeit. Nur das sind noch immer die
Zeiten der Kultur gewesen, in denen Geist und Volk eins waren, in denen aus den
Werken der Kunst und des Schrifttums die Seele des Volkes leuchtete.
Ihr törichte Einsame, die ihr
wähnt, oben in euern Ateliers andre, freiere Luft zu atmen als die Masse auf den
Plätzen der Städte! Auch ihr eßt auf euerm Kothurn das Brot, das Menschenhände
gesäet, Menschenhände gebacken, Menschenhände euch gereicht haben. Tut nicht,
als wäret ihr Besondere! Seid Menschen! Habt Herz!
Und besinnt euch auf die
Unwürdigkeit eurer Existenz! – Ihr, die ihr Werke schafft, aus denen der Geist
unsrer Zeit in die Zukunft flammen soll, sorgt, daß eure Werke nicht lügen! –
Helft Zustände schaffen, die wert sind, in herrlichen Taten der Kunst und der
Dichtung gepriesen zu werden! Täuscht der Nachwelt nicht Bilder vor, die das
jämmerliche Grau unsrer Tage in Gold malen! Seid keine Philister, da Ihr allen
Anlaß habt, Rebellen zu sein!
Paria ist der Künstler, wie
der letzte der Lumpen! Wehe dem Künstler, der kein Verzweifelter ist! Wir, die
wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen – in einer Reihe mit
Vagabunden und Bettlern, mit Ausgestoßenen und Verbrechern wollen wir kämpfen
gegen die Herrschaft der Unkultur! Jeder, der Opfer ist, gehört zu uns! Ob unser
Leib Mangel leidet oder unsre Seele, wir müssen zum Kampfe blasen! –
Gerechtigkeit und Kultur – das sind die Elemente der Freiheit! – Die Philister
der Börse und der Ateliers, zitternd werden sie der Freiheit das Feld räumen,
wenn einmal der Geist sich dem Herzen verbündet!