»Es gibt wenig kritisch-essayistische Bücher,
die das Theaterleben unserer Zeit so nachhaltig beeinflußt haben, wie das
Shakespeare-Buch des aus Warschau stammenden Literatur- und
Theaterwissenschaftlers Jan Kott, das zu Beginn der sechziger Jahre in Polen
erschienen und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist ... ›Für
die Welt der Wissenschaft ist das ein wertvoller Beitrag, für die Welt des
Theaters ein unschätzbarer‹ schrieb Peter Brook. Und wie bei der Erstveröffentlichung
gilt auch heute: Jan Kott führt mit jener Unmittelbarkeit in die Welt des
Dichters hinein, mit welcher Shakespeares Werk uns von der Bühne herab immer
wieder anspricht.« Neue Zürcher Zeitung
Leseprobe:
Vorwort von Peter Brook
Es geschah in Polen
»Ich habe Jan Kott in einem Warschauer Nachtklub kennengelernt. Es war
Mitternacht. Er war eingezwängt in eine Gruppe heftig erregter
Studenten. Wir wurden sofort Freunde. Ein schönes Mädchen wurde
irrtümlich vor unseren Augen verhaftet. Jan Kott eilte sofort zu ihrer Verteidigung, und es folgte ein höchst abenteuerlicher Abend, der etwa
um vier Uhr morgens endete, als Kott und ich uns im Präsidium der polnischen Polizei bemühten, ihre Freilassung zu erreichen. Erst jetzt,
als die Ereignisse sich nicht mehr überschlugen, bemerkte ich
plötzlich, daß die Polizisten meinen neuen Freund »Professor« nannten.
Ich hatte zwar vermutet, daß dieser schlagfertige, kämpferische Mann
ein Intellektueller sei, ein Schriftsteller, ein Journalist, vielleicht
ein Parteimitglied. Doch der Titel »Professor« paßte nicht zu ihm. »Professor wofür?« fragte ich ihn, als wir durch die stille Stadt nach Hause gingen. »Theater«, gab er zur Antwort.
Ich erzähle diese Geschichte, um eine
Qualität des Autors von »Shakespeare heute«
hervorzuheben, die in meinen Augen einzigartig ist. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der aus unmittelbarer Erfahrung über Shakespeares Weitsicht schreibt. Kott ist zweifellos der einzige Schriftsteller, der über das elisabethanische Theater schreibt und annehmen kann, daß jeder seiner Leser irgendwann einmal mitten in der
Nacht von der Polizei geweckt worden ist. Ich bin sicher, daß trotz der vielen Millionen Wörter, die über Shakespeare schon geschrieben worden sind - und die es so gut wie ausgeschlossen erscheinen lassen, daß
irgend jemand noch irgend etwas Neues sagen
kann -, es immer noch einmalig ist, wenn ein Autor, der sich mit der Theorie des politischen
Mordes beschäftigt, annimmt, daß ein Regisseur sich mit folgenden erläuternden Worten an seine Schauspieler wenden könnte: »Eine Geheimorganisation bereitet eine Aktion vor... Sie fahren nach Z. und bringen eine Kiste Handgranaten zum Haus Nr. 12.« Er schreibt gelehrt,
gebildet, seine Untersuchung ist ernsthaft und präzise,
wissenschaftlich, ohne akademisch zu sein, was wir normalerweise damit verbinden. Kotts Existenz führt einem plötzlich vor Augen, wie selten es ist, daß ein Gelehrter oder ein Interpret irgendwelche Erfahrungen von dem gemacht hat, was er beschreibt. Es ist ein beunruhigender Gedanke, daß der größte Teil der Kommentare, die Shakespeares
Leidenschaften und seine politischen Vorstellungen betreffen, von
weltabgeschiedenen, behüteten Gestalten hinter efeubewachsenen Mauern ausgebrütet werden.
Im Gegensatz dazu ist Kott ein Elisabethaner. Wie für Shakespeare und für Shakespeares Zeitgenossen ist für ihn die Welt des Fleisches und die Welt des Geistes unteilbar. Beide existieren sie auf schmerzhafte Weise in ein und demselben Körper: der Dichter hat die Füße im Schlamm,
den Blick in den Sternen und einen Dolch in der Hand. Jeder lebendige Prozeß ist unleugbar durch Widersprüche gekennzeichnet. Es gibt ein allgegenwärtiges Paradox, das nicht diskutiert, sondern gelebt werden muß: die Dichtung ist eine ungezähmte Magie, die die Gegensätze miteinander verschmilzt. Shakespeare ist ein Zeitgenosse von Kott, Kott ist ein
Zeitgenosse von Shakespeare - er spricht einfach über ihn, aus erster Hand, und sein Buch hat die Frische der Äußerungen eines Globe-Besuchers oder die Unmittelbarkeit einer Kritik über einen gerade laufenden Film. Für die
Welt der Wissenschaft ein wertvoller, für die Welt des Theaters ein unschätzbarer Beitrag. In England, wo wir doch die besten Voraussetzungen der Welt haben, um unseren größten Dichter zu präsentieren, ist unser größtes Problem - eine Verbindung zwischen diesen Werken und unserem Leben herzustellen. Unsere Schauspieler sind begabt und einfühlsam, aber sie schrecken vor umfassenden Fragen
zurück. Jene jungen Schauspieler, die sich der lebensbedrohenden Fragen der Gegenwart bewußt sind, neigen dazu, vor Shakespeare zurückzuschrecken. Es ist kein Zufall, daß unsere Schauspieler bei den Proben
Verschwörungen, Kämpfe und gewaltsame Tode »leicht« finden - sie haben Klischees zur Verfügung, um mit diesen Situationen, die sie nicht in Frage stellen, fertig zu werden. Aber sie sind zutiefst unsicher bei Fragen des Vortrags und Stils; obwohl diese Fragen so wesentlich sind, können sie ihre wahre Bedeutung nur dann erlangen, wenn der Gebrauch
der Worte und Bilder sich mit Lebenserfahrung verbindet. England hat, als es viktorianisch wurde, nahezu sämtliche elisabethanischen Züge eingebüßt. Mittlerweile ist es eine merkwürdige Mischung aus elisabethanischer und
viktorianischer Welt. Neben der alten Tendenz, Shakespeare zu verschleiern und zu romantisieren, gibt uns das eine neue Möglichkeit, ihn zu verstehen. In unserer Zeit ist Polen dem Tumult, der
Gefahr, der Intensität, dem Erfindungsreichtum und den täglichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die das Leben für den Elisabethaner so grauenhaft, so feinnervig und so ekstatisch machten, am nächsten
gekommen. Daher ist es ganz natürlich, wenn ein Pole uns den Weg weist.«
Zeichen 1:
Peter Brook
Vergessen Sie Shakespeare
Deutsche Erstveröffentlichung
Aus dem Englischen von Petra Schreyer und
Hans-Henning Mey
Alexander Verlag
74 Seiten, Broschur
€ 7,80 / SFr 14,50
ISBN 3-89581-021-5
Zweite Auflage!
Der Band enthält drei Texte von Peter Brook über Shakespeare. »Evokation
Shakespeare«; »Vergessen Sie Shakespeare« und »König Lear: Das Stück ist
der Weg. Ein Gespräch mit Georges Banu«.
Peter Brook selbst zu seiner Arbeit mit
Shakespeare: »Bei meiner ersten Inszenierung wußte ich nichts von den Möglichkeiten
des Theaters, von den verborgenen Schichten hinter einem Shakespeare-Text, ich
hatte nur eine gewisse Liebe, großen Enthusiasmus und viel Energie, und all das
hat mir geholfen, weiterzugehen. Heute jedoch, das weiß ich, wird, sooft diese
Schachtel aufgeht, das Theatermachen immer schwieriger. Das Theater ändert sich
ständig, während die Texte Shakespeares sich nicht ändern; was in Bewegung
ist, ist die Beziehung zwischen beiden.«
Stimmen:
»Selten war auf so wenig Seiten mehr über
Shakespeare zu erfahren.«
Tages-Anzeiger
»...Statt Vergessen Sie Shakespeare
könnte der Band besser Das Geheimnis Shakespeare heißen, das immer
wieder neu wachzurufen die Aufgabe des Theaters ist. Das ist die Botschaft, die
Brook in seinem offenbar ohne Manuskript gehaltenen Vortrag vermitteln kann.«
Wilfried
Passow, my, März 1998
www.alexander-verlag.com
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Jan
Kott
SHAKESPEARE HEUTE
Mit einem Vorwort von Peter Brook
Aus dem Polnischen von Peter Lachmann
Alexander Verlag
386 Seiten, Broschur, Fadenheftung
€ 19,90 / SFr 35,90
ISBN 3-923854-46-3
3. Auflage |