Der Mensch
Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser,
aus der
Weltbühne 24, vom 16.06.1931
Der
Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht,
und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion. Der
Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele, sowie auch
ein Vaterland, damit er nicht zu übermütig wird.
Der Mensch wird auf natürlichem Wege hergestellt, doch empfindet er dies
als unnatürlich und spricht nicht gern davon. Er wird gemacht, hingegen
nicht gefragt, ob er auch gemacht werden wolle.
Der Mensch ist ein nützliches
Lebewesen, weil er dazu dient, durch den Soldatentod Petroleumaktien in
die Höhe zu treiben, durch Bergmannstod den Profit der Grubenherren zu
erhöhen, sowie Kultur, Kunst und Wissenschaft. Der Mensch hat neben dem
Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei
Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören. Man könnte den
Menschen geradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört. Wenn er
weise ist, tut er damit recht: denn Gescheites bekommt er nur selten zu
hören. Sehr gern hören Menschen: Versprechungen, Schmeicheleien,
Anerkennungen und Komplimente. Bei Schmeicheleien empfiehlt es sich,
immer drei Nummern gröber zu verfahren als man es gerade noch für
möglich hält. Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die
Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.
Um sich auf
einen Menschen zu verlassen, tut man gut, sich auf ihn zu setzen; man
ist dann wenigstens für diese Zeit sicher, dass er nicht davonläuft.
Manche verlassen sich auch auf den Charakter.
Der Mensch zerfällt in
zwei Teile:
In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der
nicht denken kann. Beide haben sogenannte Gefühle: man ruft diese am
sichersten dadurch hervor, dass man gewisse Nervenpunkte des Organismus in
Funktion setzt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Lyrik ab. Der
Mensch ist ein pflanzen- und fleischfressendes Wesen; auf Nordpolfahrten
frisst er hier und da auch Exemplare seiner eigenen Gattung; doch wird das
durch den Faschismus wieder ausgeglichen. Der Mensch ist ein politisches
Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder
Klumpen hasst die anderen Klumpen, weil sie die anderen sind, und hasst
die eigenen, weil sie die eigenen sind. Den letzteren Hass nennt man
Patriotismus.
Jeder Mensch hat eine Leber, eine Milz, eine Lunge und eine Fahne;
sämtliche vier Organe sind lebenswichtig. Es soll Menschen ohne Leber,
ohne Milz und mit halber Lunge geben; Menschen ohne Fahne gibt es nicht.
Schwache Fortpflanzungstätigkeit facht der Mensch gern an, und dazu hat er
mancherlei Mittel: den Stierkampf, das Verbrechen, den Sport und die
Gerichtspflege.
Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen,
und solche, die beherrscht werden. Doch hat noch niemand sich selber
beherrscht; weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der
regierungssüchtige Herr. Jeder Mensch ist sich selber unterlegen.
Wenn der Mensch fühlt, dass er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm
und weise; er verzichtet dann auf die sauren Trauben der Welt. Dieses
nennt man innere Einkehr. Die verschiedenen Altersstufen des Menschen
halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen,
dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind, und
Junge begreifen nie, dass sie alt werden können.
Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt.
Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil
er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.
Im übrigen ist der Mensch ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht
und seinen Hund bellen lässt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er
tot.
Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir
noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.
Gruß
nach vorn
Unter dem Pseudonym Kaspar Hauser in der Weltbühne vom 6.4.1926
Lieber Leser 1985 -! Durch irgendeinen Zufall kramst du auf der Bibliothek
in dieser Zeitschrift, findest die Jahreszahl, die du eben erst
geschrieben hast – wenn sie bis dahin nicht einfach 85 heißt –, stutzt und
liest. Guten Tag.
Ich bin sehr befangen:
du hast einen Anzug an, dessen Mode von meinem sehr absticht, auch dein
Gehirn trägst du ganz anders ... Ich setze dreimal an: jedes Mal mit einem
andern Thema, man muß doch in Berührung kommen ... nicht wahr? Jedesmal
muß ichs wieder aufgeben – wir verstehen einander gar nicht. Ich bin wohl
zu klein; meine Zeit steht mir bis zum Halse, kaum gucke ich mit dem Kopf
ein bißchen über den Zeitpegel ... da, ich wußte es: du lächelst mich aus.
Alles an mir erscheint
dir altmodisch: meine Art, zu schreiben, und meine Grammatik und meine
Haltung ... ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gern.
Vergeblich will ich dir sagen, wie wir es gehabt haben, und wie es gewesen
ist, neumodisch Gesalbtes und altmodisch Vergessenes ... Nichts. Du
lächelst, ohnmächtig hallt meine Stimme aus der Vergangenheit, und du
weißt Alles besser. Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem
Zeitdorf bewegt?
Genf?
Shaw-Premiere?
Thomas Mann? Das Fernsehen? Eine Stahlinsel im Ozean als Halteplatz für
die Flugzeuge? Du bläst auf Alles, und der Staub fliegt meterhoch, du
kannst gar nichts erkennen vor lauter Staub.
Schmeicheleien?
Leider nicht. Selbstverständlich habt Ihr die Frage: "Völkerbund oder
Pan-Europa" nicht gelöst; Fragen werden von der Menschheit nicht gelöst,
sondern liegen gelassen. Selbstverständlich habt Ihr fürs tägliche Leben
dreihundert wichtige Maschinen mehr als wir, und im übrigen seid Ihr genau
so dumm, genau so klug, genauso modern wie wir. Was ist von uns geblieben?
Wühle nicht in deinem Gedächtnis nach, was du grade in der Schule gelernt
hast. Geblieben ist, was zufällig blieb; was so neutral war, daß es
herüberkam; was wirklich groß ist (davon ungefähr die Hälfte, und um die
kümmert sich kein Mensch – nur am Sonntagvormittag ein bißchen, im
Museum): wir verstehen uns wohl nicht recht. Es ist das Selbe, wie wenn
ich heute mit einem Mann aus dem Dreißigjährigen Krieg reden sollte. "Ja,
gehts gut? Bei der Belagerung Magdeburgs hats wohl sehr gezogen ...?", und
was man so sagt.
Ich kann nicht einmal
über die Köpfe meiner Zeitgenossen hinweg ein erhabenes Gespräch mit dir
führen, so nach der Melodie: wir Beide verstehen uns schon, denn du bist
ein Fortgeschrittener, gleich mir. Ach, mein Lieber: auch du bist ein
Zeitgenosse. Höchstens, wenn ich "Bismarck" sage und du dich erst erinnern
mußt, wer das war, grinse ich heute schon vor mich hin: du kannst dir gar
nicht denken, wie stolz die Leute um mich herum auf dessen Unsterblichkeit
sind ... Na, lassen wir das. Außerdem wirst du jetzt frühstücken gehen
wollen.
Guten Tag. Das Papier
ist schon ganz gelb geworden, gelb wie die Zähne unsrer Landrichter, da,
jetzt zerbröckelt dir das Blatt unter den Fingern ... nun, es ist auch
schon so alt. Geh mit Gott, oder wie Ihr das Ding dann nennt. Wir haben
uns wohl nicht allzuviel mitzuteilen, wir Mittelmäßigen. Wir sind zerlebt,
unser Inhalt ist mit uns dahin gegangen. Die Form war Alles.
Ja, die Hand will
ich dir noch geben. Wegen Anstand. Und jetzt gehst du. Aber das rufe ich
dir noch nach|: Besser seid Ihr auch nicht als wir und die Vorigen. Aber
keine Spur, aber gar keine –
Wolfgang
Hering / Kurt Tucholsky
Sprache ist eine Waffe
Sprachglossen
rororo
Originalausgabe
192 S., Tb
€ 6,50 / sFr 12,10
ISBN 978-3-499-12490-7
Kurt Tucholsky glossierte Beamtendeutsch und Kasinojargon näselnder
Leutnants, spürte Modewörter und entbehrliche Fremdwörter auf. Ein
berlinisch-bissiges Kapitel Sprachgeschichte der Weimarer Republik,
geschrieben von einem unerschrockenen und hellsichtigen Chronisten. Dieser
Band stellt erstmals rund fünfzig Sprachglossen und Sprachschnipsel
zusammen, die in den Anmerkungen durch wichtige Briefstellen ergänzt
werden.'