Adolph
Franz Friedrich Freiherr von Knigge,
geb, 14. Februar 1752 in Bredenbeck am Deister.
1769 bis 1772 Jurastudium in Göttingen.
1772 Anstellung als Hofjunker und
Assessor der Kriegs- und Domänenkasse in Kassel. 1773 wurde Knigge in die
Kasseler Loge "Zum gekrönten Löwen" aufgenommen.
Auf Empfehlung von Johann Wolfgang von Goethes wurde Knigge 1776 weimarischer
Kammerherr in Hanau.
1779 wurde Knigge als "a Cygno" Mitglied der Strikten Observanz und im November
des darauffolgenden Jahres gründete er den Freimaurer-Club in Frankfurt a. M.
Juli 1780 bis Juli 1784 war Knigge einer der zentralen Köpfe des
Illuminatenordens. Durch sein Eintreten für die Menschenrechte geriet er bei
seinen aristokratischen Gönnern in Mißkredit und verlor sein Vermögen.
Knigge studierte die Philosophie von Thomas Hobbes, übersetzte Jean-Jacques
Rousseaus' "Bekenntnisse" und entwickelte eine praktische Moralphilosophie.
1788 erschien seine Gesellschaftslehre "Über den Umgang mit Menschen“.
1790 erhielt eine Stelle als Oberhauptmann der braunschweigisch-lüneburgischen
Regierung und Scholarch in Bremen.
Adolph Franz Friedrich Freiherr von Knigge starb am 6. Mai 1796 in Bremen.
Über den Umgang mit Menschen
Zweites Kapitel
Über den Umgang mit sich selbst
1.
Die Pflichten gegen uns selbst sind die wichtigsten und ersten, und also der
Umgang mit unsrer eigenen Person gewiß weder der unnützeste noch
uninteressanteste. Es ist daher nicht zu verzeihn, wenn man sich immer unter
andern Menschen umhertreibt, über den Umgang mit Menschen seine eigene
Gesellschaft vernachlässigt, gleichsam vor sich selber zu fliehn scheint, sein
eigenes Ich nicht kultiviert und sich doch stets um fremde Händel bekümmert. Wer
täglich herumrennt, wird fremd in seinem eigenen Hause; wer immer in Zerstreuung
lebt, wird fremd in seinem eignen Herzen, muß im Gedränge müßiger Leute seine
innere Langeweile zu töten trachten, büßt das Zutrauen zu sich selber ein und
ist verlegen, wenn er sich einmal vis à vis de soi-même befindet. Wer nur solche
Zirkel sucht, in welchen er geschmeichelt wird, verliert so sehr den Geschmack
an der Stimme der Wahrheit, daß er diese Stimme zuletzt nicht einmal mehr aus
sich selber hören mag; er rennt dann lieber, wenn das Gewissen ihm dennoch
unangenehme Dinge sagt, fort, in das Getümmel hinein, wo diese wohltätige Stimme
überschrien wird.
2.
Hüte Dich also, Deinen treuesten
Freund, Dich selber, so zu vernachlässigen, daß dieser treue Freund Dir den
Rücken kehre, wenn Du seiner am nötigsten bedarfst. Ach, es kommen Augenblicke,
in denen Du Dich selbst nicht verlassen darfst, wenn Dich auch jedermann verläßt;
Augenblicke, in welchen der Umgang mit Deinem Ich der einzige tröstliche ist -
was wird aber in solchen Augenblicken aus Dir werden, wenn Du mit Deinem eignen
Herzen nicht in Frieden lebst, und auch von dieser Seite aller Trost, alle Hilfe
Dir versagt wird?
3.
Willst Du aber im Umgange mit Dir
Trost, Glück und Ruhe finden, so mußt Du ebenso vorsichtig, redlich, fein und
gerecht mit Dir selber umgehn als mit andern, also daß Du Dich weder durch
Mißhandlung erbitterst und niederdrückest, noch durch Vernachlässigung
zurücksetzest, noch durch Schmeichelei verderbest.
4.
Sorge für die Gesundheit Deines Leibes
und Deiner Seele; aber verzärtle beide nicht. Wer auf seinen Körper losstürmt,
der verschwendet ein Gut, welches oft allein hinreicht, ihn über Menschen und
Schicksal zu erheben und ohne welches alle Schätze der Erde eitle Bettelware
sind. Wer aber jedes Lüftchen fürchtet und jede Anstrengung und Übung seiner
Glieder scheut, der lebt ein ängstliches, nervenloses Austerleben und versucht
es vergeblich, die verrosteten Federn in den Gang zu bringen, wenn er in den
Fall kommt, seiner natürlichen Kräfte zu bedürfen. Wer sein Gemüt ohne Unterlaß
dem Sturme der Leidenschaften preisgibt oder die Segel seines Geistes
unaufhörlich spannt, der rennt auf den Strand oder muß mit abgenutztem Fahrzeuge
nach Hause lavieren, wenn grade die beste Jahreszeit zu neuen Entdeckungen
eintritt. Wer aber die Fakultäten seines Verstandes und Gedächtnisses immer
schlummern läßt oder vor jedem kleinen Kampfe, vor jeder Art von minder
angenehmer Anstrengung zurückbebt, der hat nicht nur wenig wahren Genuß, sondern
ist auch ohne Rettung verloren da, wo es auf Kraft, Mut und Entschlossenheit
ankommt.
Hüte Dich vor eingebildeten Leiden des
Leibes und der Seele. Laß Dich nicht gleich niederbeugen von jedem widrigen
Vorfalle, von jeder körperlichen Unbehaglichkeit. Fasse Mut! Sei getrost! Alles
in der Welt geht vorüber; alles läßt sich überwinden durch Standhaftigkeit;
alles läßt sich vergessen, wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen andern
Gegenstand heftet.
5.
Respektiere Dich selbst, wenn Du
willst, daß andre Dich respektieren sollen. Tue nichts im Verborgenen, dessen Du
Dich schämen müßtest, wenn es ein Fremder sähe. Handle weniger andern zu
gefallen, als um Deine eigene Achtung nicht zu verscherzen, gut und anständig!
Selbst in Deinem Äußern, in Deiner Kleidung sieh Dir nicht nach, wenn Du allein
bist. Gehe nicht schmutzig, nicht lumpig, nicht unrechtlich, nicht krumm, noch
mit groben Manieren einher, wenn Dich niemand beobachtet. Mißkenne Deinen
eigenen Wert nicht! Verliere nie die Zuversicht zu Dir selber, das Bewußtsein
Deiner Menschenwürde, das Gefühl, wenn nicht ebenso weise und geschickt als
manche andre zu sein, doch weder an Eifer, es zu werden, noch an Redlichkeit des
Herzens, irgend jemand nachzustehn.
6.
Verzweifle nicht, werde nicht mißmutig,
wenn Du nicht die moralische oder intellektuelle Höhe erreichen kannst, auf
welcher ein andrer steht, und sei nicht so unbillig, andre gute Seiten an Dir zu
übersehn, die Du vielleicht vor jenem voraus haben magst - und wäre das auch
nicht der Fall! Müssen wir denn alle groß sein?
Stimme Dich auch herab von der
Begierde zu herrschen, eine glänzende Hauptrolle zu spielen. Ach, wüßtest Du,
wie teuer man das oft erkaufen muß! Ich begreife es wohl, diese Sucht, ein
großer Mann zu sein, ist bei dem innern Gefühle von Kraft und wahrem Werte
schwer abzulegen. Wenn man so unter mittelmäßigen Geschöpfen lebt und sieht, wie
wenig diese erkennen und schätzen, was in uns ist, wie wenig man über sie
vermag, wie die elendesten Pinsel, die alles im Schlafe erlangen, aus ihrer
Herrlichkeit herunterblicken - Ja! es ist wohl freilich hart! - Du versuchst es
in allen Fächern; im Staate geht es nicht; Du willst in Deinem Hause groß sein,
aber es fehlt Dir an Geld, an dem Beistande Deines Weibes; Deine Laune wird von
häuslichen Sorgen niedergedrückt, und so geht denn alles den Werkeltagsgang; Du
empfindest tief, wie so alles in Dir zugrunde geht; Du kannst Dich durchaus
nicht entschließen, ein gemeiner Kerl zu werden, in dem Fuhrmannsgleise
fortzuziehn - das alles fühle ich mit Dir; allein verliere doch darum nicht den
Mut, den Glauben an Dich selber und an die Vorsehung! Gott bewahre Dich vor
diesem vernichtenden Unglücke! Es gibt eine Größe - und wer die erreichen kann,
der steht hoch über allen -, diese Größe ist unabhängig von Menschen,
Schicksalen und äußerer Schätzung. Sie beruht auf innerem Bewußtsein, und ihr
Gefühl verstärkt sich, je weniger sie erkannt wird.
7.
Sei Dir selber ein angenehmer
Gesellschafter. Mache Dir keine Langeweile, das heißt: Sei nie ganz müßig! Lerne
Dich selbst nicht zu sehr auswendig, sondern sammle aus Büchern und Menschen
neue Ideen. Man glaubt es gar nicht, welch ein eintöniges Wesen man wird, wenn
man sich immer in dem Zirkel seiner eigenen Lieblingsbegriffe herumdreht, und
wie man dann alles wegwirft, was nicht unser Siegel an der Stirne trägt.
Der langweiligste Gesellschafter für
sich selber ist man ohne Zweifel dann, wenn man mit seinem Herzen, mit seinem
Gewissen in nachteiliger Abrechnung steht. Wer sich davon überzeugen will, der
gebe acht auf die Verschiedenheit seiner Launen! Wie verdrießlich, wie
zerstreuet, wie sehr sich selbst zur Last, ist man nach einer Reihe zwecklos,
vielleicht gar schädlich hingebrachter Stunden, und wie heiter, sich selbst mit
seinen Gedanken unterhaltend dagegen am Abend eines nützlich verlebten Tags.
8.
Es ist aber nicht genug, daß Du Dir
ein lieber, angenehmer und unterhaltender Gesellschafter seiest, Du sollst Dich
auch, fern von Schmeichelei, als Dein eigener treuester und aufrichtigster
Freund zeigen, und wenn Du ebensoviel Gefälligkeit gegen Deine Person als gegen
Fremde haben willst, so ist es auch Pflicht, ebenso strenge gegen Dich als gegen
andre zu sein. Gewöhnlich erlaubt man sich alles, verzeiht sich alles und andern
nichts; gibt bei eigenen Fehltritten, wenn man sich auch dafür anerkennt, dem
Schicksale oder unwiderstehlichen Trieben die Schuld, ist aber weniger tolerant
gegen die Verirrungen seiner Brüder - das ist nicht gut getan.
9.
Miß auch nicht Dein Verdienst darnach ab, daß Du sagest: »Ich bin besser als
dieser und jener von gleichem Alter, Stande«, und so ferner; sondern nach den
Graden Deiner Fähigkeiten, Anlagen, Erziehung und der Gelegenheit, die Du gehabt
hast, weiser und besser zu werden als viele. Halte hierüber oft in einsamen
Stunden Abrechnung mit Dir selber und frage Dich als ein strenger Richter, wie
Du alle diese Winke zu höherer Vervollkommnung genutzt habest.