Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

 

Home     Literatur     Blutige Ernte     Sachbuch     Bilderbuch     Zeitkritik     Termine     Preisrätsel     Impressum     Mediadaten     Andere über uns

Bücher & Themen



Jazz aus der Tube
Bücher, CDs, DVDs & der Link des Tages


Schiffsmeldungen
Nachrichten, Gerüchte, Ideen, Leute & Jobs
aus der Verlagswelt, Fachpresse & Handel

Links
Bücher-Charts l Verlage A-Z
Medien- & Literatur l Museen im Internet

Rubriken
Belletristik - 50 Rezensionen
Romane, Erzählungen, Novellen & Lyrik
Quellen Biographien, Briefe & Tagebücher
Geschichte Epochen, Menschen, Phänomene
Politik Theorie, Praxis & Debatten
Ideen Philosophie & Religion
Kunst
Ausstellungen, Bild- & Fotobände
Tonträger Hörbücher & O-Töne
SF & Fantasy Elfen, Orcs & fremde Welten
Sprechblasen Comics mit Niveau
Autoren Porträts, Jahrestage & Nachrufe
Verlage Nachrichten, Geschichten & Klatsch
Film
Neu im Kino


Klassiker-Archiv
Übersicht
Shakespeare Heute, Shakespeare Stücke, Goethes Werther, Goethes Faust I, Eckermann, Schiller, Schopenhauer, Kant, von Knigge, Büchner, Marx, Nietzsche, Kafka, Schnitzler, Kraus, Mühsam, Simmel, Tucholsky
, Samuel Beckett

Honoré de Balzac
Berserker und Verschwender
Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie
Die Neuausgabe seiner
»schönsten Romane und Erzählungen«, über eine ungewöhnliche Erregung seines Verlegers Daniel Keel und die grandiose Balzac-Biographie von Johannes Willms.
Leben und Werk
Essays und Zeugnisse mit einem Repertorium der wichtigsten Romanfiguren.
Hugo von Hofmannsthal über Balzac
»... die größte, substantiellste schöpferische Phantasie, die seit Shakespeare da war.«

Literatur in Bild & Ton
Literaturhistorische Videodokumente von Henry Miller, Jack Kerouac, Charles Bukowski, Dorothy Parker, Ray Bradbury & Alan Rickman liest Shakespeares Sonett 130

Thomas Bernhard

Eine kleine Materialsammlung
Man schaut und hört wie gebannt, und weiß doch nie, ob er einen gerade auf den Arm nimmt, oder es ernst meint mit seinen grandiosen Monologen über Gott und Welt. Ja, der Bernhard hatte schon einen Humor, gelt?

Hörprobe









Die Fluchtbewegungen des Bob Dylan

»Oh my name it is nothin'/ My age it means less/ The country I come from/ Is called the Midwest.«
Ulrich Breth über die Metamorphosen des großen Rätselhaften mit 7 Songs aus der Tube

Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
Dazu erscheint als Erstveröffentlichung das interaktive Schauspiel »Dein Wille geschehe« von Christian Suhr & Herbert Debes
Leseprobe


Anzeige
Edition Glanz & Elend

Martin Brandes

Herr Wu lacht
Chinesische Geschichten
und der Unsinn des Reisens

Leseprobe


Neue Stimmen
Die Preisträger
Die Bandbreite der an die 50 eingegangenen Beiträge
reicht von der flüchtigen Skizze bis zur Magisterarbeit. 
Die prämierten Beiträge

Nachruf
Wie das Schachspiel seine Unschuld verlor
Zum Tod des ehemaligen Schachweltmeisters Bobby Fischer »Ich glaube nicht an Psychologie, ich glaube an gute Züge.«


Wir empfehlen:

kino-zeit
Das Online-Magazin für Kino & Film
Mit Film-Archiv, einem bundesweiten
Kino-Finder u.v.m.
www.kino-zeit.de















br-buecher-blog


Andere Seiten
Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms Virtuelle Texbaustelle
Reiner Stachs Franz Kafka
counterpunch
»We've got all the right enemies.«

Riesensexmaschine
Nicht, was Sie denken?!

texxxt.de Community für erotische Geschichten
Wen's interessiert Rainald Goetz-Blog


Technorati Profile
  
Add to Technorati Favorites  
Seitwert

 

Die Kunst der Verästelung globaler Hauptereignisse

Peter V. Brinkemper über Jürgen Osterhammels
grandiose Geschichte des 19. Jahrhunderts
»Die Verwandlung der Welt«

Das Problem, in die jede Art der globalen Betrachtungsweise verwickelt wird: Ist ihre Perspektive umfassend UND trotzdem nah genug, um die Totalität der Prozesse zu überblicken und doch ihren detaillierten Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren? Historische, wissenschaftliche und literarische Werke sind ebenso wie mediale Re-/Konstruktionen im- oder explizite Raum-Transporter und Zeitmaschinen, raumzeitliche Gedankenetze, die mit linearen einheitlichen oder vielfältigen Diskursen: Positionen und Linien, Übergänge und Entwicklungspfade wie Bastionen und Autobahnen behaupten oder als poröse Sandburgen und smarte Korallenriffe in generativen Schritten und Spuren nachvollziehend erschließen. Man kann sich hier, im Nah- und Fern-Bereich verschiedene Arten von Diskursmodi zwischen großer mythologisierender Mega-Erzählung und wissenschaftlich ausgenüchterter basisnaher Erklärung und Sammlung von Faktoren vorstellen. Irgendwann wird das globale Datengewitter zwischen Spam und Information auch noch die lauterste und methodisch abgeklärteste Arbeit in eine fatale Textform verwandeln, die momentan in dem Wikipediatisierten Universum herumgeistert: Das leere Aufsagen alter historischer und literarischer Erzählformen, »erst.., und dann ...., und dann..«, die längst wissenschafts-, publikations- und kinostrategisch ausgeblutet sind und darunter die wütend-verzweifelte Aufzählung, die in jeden narrativen Einzelschritt eine virtuell unendliche Serie von Faktoren und Mikroereignissen hineinpumpt:
»F1, F2, und so weiter bis Fn«. So dass die Erzählung auf der Oberfläche ihrer Hauptereignisse durch die Unendlichkeits-Verästelung unter der Haut nicht mehr fortschreitet, sondern implodiert oder zu einem eisigen Modell in einer steuerungslos gewordenen Wissensgesellschaft gefriert.

Vorsicht und Interdisziplinarität
Jürgen Osterhammel hat mit
»Die Verwandlung der Welt - Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts« ein wissenschaftliches Standardwerk geschrieben, in dem der Spagat zwischen Überblick und Detail so weit wie möglich ausbalanciert werden soll. Sein Buch ist aus mehrfachen Gründen nicht historistisch sondern aktuell und zukunftsweisend akzentuiert, weil es mit historiographischer Vorsichtigkeit die Beschreibung und Erklärung von globaler Entwicklung betreibt und dabei die Methode der interdisziplinären, multifaktoriellen und interkontinentalen Betrachtung anwendet. In dieser Herangehensweise operiert Osterhammel mit dem heute möglichen umgreifenden Verständnis, was die Bedeutsamkeit der sich abzeichnenden Geschichte von Vorgestern für uns auf einem immer noch zerteilten Planeten betrifft. Osterhammel holt diese Historie in vielen Storyaspekten aus ihrer wissensmäßigen und nationalen Vereinzelung und isolierten Erstarrung heraus, vermeidet dabei aber auch die Beliebigkeit eines bloßen Nebeneinanders oder den Dogmatismus vorschneller großer Erzählungen und Erklärungen. Manches mag da zwar wie argumentatives Püree und diskursiver Schaum klingen, aber der Eindruck der kreativ-lebendigen  Ordnung, eines wohlgeratenen Omelettes  herrscht vor. Osterhammel setzt bewusst Bescheidenheit vor »Allwissenheit«, er betont, dass er viel Wissen aus anderen Bereichen und von anderen Experten übertragen muss, um zur richtigen Proportionierung und Gewichtung von Prozessen in der Nach- und Gleichzeitigkeit zu gelangen, um dann zu einer wirklich substantiellen Vorbereitung von Knotenpunkten und Erklärungen vorzustoßen und nicht nur in gefälligen Beschreibungen oder Nacherzählungen, schiefen Analogien und sturen Erfassungen zu enden, damit Kontinuität, Stagnation, Verfall und Evolution, Ausweitung und Verengung in Raum und Zeit realgeschichtlich begreifbar werden.

Eine nützliche Leseanweisung
Osterhammel betont in seiner Einleitung, dass er
»Migration, Ökonomie, Umwelt, internationale Politik und Wissenschaft« breiter als andere Faktoren behandelt. Dabei könne er einen bestimmten transnationalen Eurozentrismus mit transatlantischer Verbundenheit zu der Geschichte der USA nicht verleugnen. Das Buch sei aber vor allem »an den chronologischen Rändern noch offener gehalten« als Christopher Baylys »The Birth of the Modern World« (2004) mit seiner Betonung von Industrialisierung, Staatsbildung und religiösen Revivals. Mit ihm teilt er den Verzicht auf die regionale Gliederung nach Nationen, Zivilisationen und kontinentalen Großräumen. Aber Osterhammel sieht in dieser lateralen, raumbetonten Sichtweise Baylys und den stärker zeitbetonten Perspektiven der weiteren Vorgänger John M. Roberts und Eric J. Hobsbawm Unschärfen und Spaltungen zwischen narrativer und struktureller Darstellung, die es durch weitere kategoriale Entscheidungen und dichte Beschreibungen zu füllen gilt. Im Sinne von Fernand Braudel beansprucht er eine differenziertere, perspektivisch relativierende Anwendung von verschiedenen »Meistererzählungen«, die jeweils in ihrer fachlichen Logik eines Teilgebietes weitergetrieben werden, um sodann einen Beschreibungs- und Erklärungswert abzuwerfen, für die Darstellung von allgemeinen und regionalen Entwicklungen  nach bestimmten temporalen Mustern. Man muss Osterhammel beipflichten, wenn er betont: Eurozentrismus und andere Einseitigkeiten in der Darstellung lassen sich nicht durch die »illusionäre 'Neutralität' eines allwissenden Erzählers oder die Einnahme einer vermeintlich 'globalen' Beobachterposition« tilgen, »sondern durch ein bewusstes Spiel mit der Relativität von Sichtweisen« relativieren. Diese methodische Vorbemerkung ist auch eine nützliche Leseanweisung für den Rezipienten, der sich anhand einzelner Kapitel zum gleichen Thema auch mit anderen Quellen synoptisch beschäftigen will. Osterhammel reflektiert gekonnt die Abwesenheit von Zeit- und Standortneutralität seiner Darstellung und kann insofern einen relativistisch-interdisplinären Navigations-Antrieb für seine Darstellung gewinnen, die regionalen Verfälschungen und Übertreibungen wie auch historistischen und imperialen Zerrbildern von Damals, von Heute und sozusagen von Morgen den Spiegel vorhält.

Ein Exempel: Let my People go!
Man kann sich an der Qualität des Osterhammelschen Wissensmanagements von kontrollierter bereichsbezogener interdisziplinärer Beschreibung und dabei möglichst vorsichtig und doch relativ präzise ausdestillierter Erklärung in den verschiedenen Kapiteln des 1568 kleinstgedruckten Seiten starken Buches überzeugen. Wenn Barack Obama am Tag seiner Vereidigung symbolisch auf die Original-Bibel Abraham Lincolns den Präsidenteneid ablegte, so ist bei Osterhammel über die »Sklavenemanzipation und 'Weiße Vorherrschaft'« nachzulesen: »Das Zurückdrängen von Sklavenhandel und Sklaverei geschah als eine transatlantische Kettenreaktion, bei der jede lokale Handlung durch einen größeren Zusammenhang zusätzlichen Sinn erhielt«. Nun gut. Das klingt noch nach einer klaren Kausalkette. Aber im Kern der Argumentation erreichen die Dominosteine eine Spiralform mit einem drohenden Patt der aufeinander klickenden Fronten. Weiter: Die britische Öffentlichkeit mit ihrem Antislavery-Programm und ihrer weltweiten Intervention führte 1807/8, also mitten im Abwehrkampf gegen Napoleon, zu einem weltweiten Verbot von Sklavenhandel auf Schiffen unter britischer Flagge. Damit war dieser Art von globalem Geschäft offiziell ein empfindlicher Schlag versetzt worden. Dies könne aus wirtschaftlichen Prämissen allein nicht erklärt werden, da die Plantagenwirtschaft zu dieser Zeit noch erhebliche Gewinne abwarf. Adam Smiths ökonomische These, »freie Arbeit sei produktiver als erzwungene«, habe damals noch keine Mehrheit in der Fachwelt errungen. Hier wäre natürlich Feinarbeit über die sozioökonomische Meinungsbildung im unmittelbar präindustriellen Großbritannien wünschenswert. Aber die steht in einem anderen Kapitel. Interessant ist die Ausführung, dass die sozialpolitische Bewegung des z. T. radikalen Abolitionismus eine emanzipatorische Ventilfunktion für eine noch nicht völlig gleichberechtigte Öffentlichkeit in Großbritannien hatte: Die Rhetorik der Abolitionisten wird von Osterhammel als »kalkuliert« bezeichnet und setzte eine Identifikation mit den Opfern an. Britische Frauen, die erst später, 1919 erheblich eingeschränkt, 1928 uneingeschränktes Wahlrecht bekamen, sahen auch hier ein wichtiges, von der offiziellen Politik zunächst nicht hinreichend beachtetes  Betätigungsfeld. Hier sieht Osterhammel eine Line mit den »sentimental novels« des 18. Jahrhunderts»In der publizistischen Strategie der maßgebenden Abolitionisten vermischten sich humanitär-moralische Appelle mit Argumenten, welche die militärischen und imperialen Interessen der Nation zu Geltung brachten«. Die Royal Navy nahm sich das Recht, Schiffe dritter Staaten nach Sklaven zu durchsuchen und freizusetzen. Auf diese Weise wurde auch die Handelslücke geschlossen, die mit dem britischen Verzicht auf Sklavenhandel faktisch geöffnet worden war. Ebenfalls 1807 verbot der US-Kongress die Teilnahme von US-Bürgern am afrikanischen Sklavenmarkt und die legale Einfuhr weiterer Sklaven. Von hier aus lässt sich auch die Linie zum späteren abolitionistischen Roman Harriet Beecher Stowes »Uncle Tom’s Cabin« (1852) ziehen, zu der auch ihre Schwägerin sie mit den politischen Worten motivierte: »Harriet, if I could use a pen as you can, I would write something that would make this whole nation feel what an accursed thing slavery is.« Beecher Stowe wurde später mit offenen Armen in Großbritannien empfangen. Der literarische Massen-Erfolg ihres sentimentalen Romans im Sinne der umgreifenden Politisierung von Mitleid mit Unterdrückten kann man sich als Teil einer literarischen Emanzipationsbewegung vor allem im angelsächsischen Raum vorstellen. Frankreich und Spanien reetablierten ihre Ausbeutungssysteme in den Kolonien, auch auf Kuba während der europäischen Restauration in abgeschwächter Form. Erst die französische Julimonarchie beendete den unterschwelligen Sklavenhandel in die Kolonien. Zu den Intellektuellen des französischen Abolitionismus gehörten Tocqueville, Larmartine und Hugo. Erst 1863 wurde das Ende des niederländischen Sklavenhandels eingeleitet. Die US-Südstaaten stabilisierten ihre Sklavenhaltergesellschaft erfolgreich durch die zahlreichen schwarzen Nachkommen ihrer Arbeiter, die den Einfuhrstopp ausglichen, wenn nicht doch weiter eingeschmuggelt wurde. Von 1840 bis zum Vorabend des Bürgerkrieges seien die Schwarzen mit den Status von Sklaven von 2,5 auf 4 Mio. gewachsen. Der Abolitionismus erhielt nur im Norden der USA eine schmale Plattform, während sich der Süden ideologisch gegen den Wandel verbarrikadierte,  obwohl das Ideal des reichen weißen Plantagenbesitzers lediglich von einer Minderheit der weißen Bevölkerung im Süden gelebt wurde. Der Southern Comfort war also eine Ideologie und nicht nur ein Getränk. Durch die ökonomische und politische Verflechtung von Norden und Süden in den USA war die Protestbewegung zunächst auch im Norden im Vergleich zum britischen Movement relativ schmal. In dieser Zwangslage tendierten manche US-Abolitionisten zu einem ersatzpolitischen religiösen Extremismus, der sich dann oft weniger um die soziale und ökonomische Ausbeutung der Schwarzen und ihre gesellschaftliche Integration, sondern auf die strafwürdige Sünde des weißen Mannes und die spätere Ausschiffung der befreiten Sklaven nach Afrika, in ein gelobtes Land, wie man es aus vielen (späteren?) Gospels heraushört, bezog.

»When Israel was in Egypt's Land,
Let my people go,
Opressed so hard they could not stand,
Let my people go.
Chorus
Go down, Moses,
Way down in Egypt's Land.
Tell ol' Pharoah,
Let my people go.
«

Nach der Missouri Krise von 1819-1821 wurde das Thema in der offiziellen Politik tabuisiert, zwischen 1836-1844 wurde das Thema im Kongress grundsätzlich abgewürgt; durch »gag rules«, Maulkorberlasse zur Tagesordnung (siehe G. W. Bush) in Bezug auf Gesetzesinitiativen und Themen wurden Anti-Sklaverei-Petitionen abgeschmettert.

Feste und lose Texturen
Aufgrund dieser Sachverhalte macht Osterhammel deutlich, dass der Abolitionismus, die Aufhebung der Sklaverei und der Bürgerkrieg nicht in einem einfachen kausalen Zusammenhang stehen. Und, möchte man aktuell ergänzen, so muss auch Obamas Lincoln-Bibel-Connection komplexer interpretiert werden. Osterhammel:
»Der Kampf weißer und schwarzer Abolitionisten gegen die Sklaverei hätte allein den Bürgerkrieg nicht herbeigeführt, und ohne den Bürgerkrieg hätte sich die peculiar institution noch eine Weile gehalten.« Aber was wird damit nun strukturell für die Analyse der Geschichte zwischen idealtypischer Durchleuchtung und möglicher Begründung und faktischer Beschreibung ausgesagt? Das ist ein Einwand, der jeden Global- und Normal-Historiker betrifft, nicht nur Osterhammel. Immerhin standen viele Präsidenten in der Tradition sklavenhaltender Plantagenbesitzer wie George Washington, verbunden mit aberwitzigen Wahlstimmen-Anrechnungen durch die besessenen Sklaven, obwohl diese kein Wahlrecht hatten, geschweige denn hätten frei ausüben können. Die uralte römische Logik des Stimmviehs? Und es ist kein Zufall, wenn die Säulen des Weißen Hauses an das Herrenhaus Tara in »Vom Winde verweht« erinnern. Der Aufstieg und die Präsidentschaft Abraham Lincolns, aus seiner Familientradition ein religiös motivierter Sklaverei-Gegner, aber erst seit 1854 öffentlich in gemäßigter Form in diese Richtung auftretend, ist selbst mit der Krisenphase einer USA verbunden, deren weitere dramatische Landgewinne im Krieg gegen Mexiko die kontinentale Spannweite des Unionsterritoriums bald abschlossen und die Debatte um die Konformität oder Eigenständigkeit der alten und neuen Bundestaaten und damit die Frage nach der wahren Einheit des Riesenlandes gegen Ende der New Frontier verstärkte. 1861 wurde Kansas nach blutigen Kämpfen nur knapp als sklavenhaltender Staat Mitglied. Die Frage der Sklaverei blieb virulent, im Vordergrund stand die wirtschaftliche Erstarkung des Nordens durch die zunehmende Industrialisierung gegenüber der südstaatlichen Plantagenwirtschaft, die allein in der territorialen Expansion ihre Zukunft sah. Entsprechend eskalierte die Auseinandersetzung um die Integration neuer Bundesstaaten als Freier oder als »Sklaven«-Staaten. Lincolns politischer Kampf auf dem neuen, noch unbegriffenen Großmachttanker USA war zwischen intelligenter Zurückhaltung und nachhaltiger Innovation angelegt, er führte ihn über die Reorganisation der zerstrittenen Republikaner unter neuen Prämissen und zum Aufstieg in die Präsidentschaftskandidatur aufgrund seiner brillanten rhetorischen Fähigkeiten. Lincoln übte strenge methodisch-skeptische Differenzierung in seinen berühmten Reden, die Einheit des Repräsentantenhauses und den Zusammenhalt der Union über den Streit um die Sklaverei zu stellen; der Aufhebung der Sklaverei, wenn der Union dienlich, aber auch Priorität zu verleihen. Dies verdeutlicht, dass es nun vor allem um flexible Überlegungen und Entscheidungen zu aktuellen politischen Macht- aber auch wegweisenden Gestaltungsfragen auf der Ebene der Nation ging. Provokationen zwischen dem Süden und Norden, wie der Entsendung von Kopfjägern nach in den Norden entflohenen Sklaven, die später auch in schwarzen Bataillonen gegen den Süden kämpften, machten nach Osterhammel deutlich, »dass die normative Einheit der Union, ein emotional gepflegter Mythos der Gründerzeit, zerbrochen war.« Und hierin sieht der Autor den eigentlichen Einsatz des Bürgerkriegs: im erst drohenden, dann schon faktisch vollzogenen Staatsverfall, der auch durch die Härte des folgenden Kriegs mit seinen wechselnden Ausgängen beglaubigt wurde. Und in diesem Moment war es aus transatlantischer Perspektive keineswegs erstaunlich, dass sich der US-Norden nun ausgerechnet dem alten verfeindeten Mutterland Großbritannien in gewisser Weise annäherte, während der US-Süden mit den Sklavenhaltern in Brasilien und Cuba sympathisierte. Ob hier ein altes Motiv für den menschenrechtsfeindlichen Guantanamo-Deal zwischen der Bush-Regierung und Castro zu suchen ist, der erst durch Obama beendet werden soll? Und so ist ebenso keineswegs unplausibel, dass nach der »dramatisch« zu nennenden offiziell eröffneten Emanzipation aller Schwarzen in den USA nach Kriegsende doch die Gegenbewegung einer fortwährenden Rassendiskrimierung spätestens seit 1870, nicht nur in den Südstaaten, um sich griff.

Hier wie an anderen Stellen wird deutlich: Osterhammels Werk ist kein dogmatischer Versuch Weltgeschichte allzuständig, personen- und ereignis-, territorial- und strukturgeschichtlich zu Ende zu schreiben, sondern ein eindrucksvoller Webstuhl, dessen Texturen und Kategorien mal fester und mal loser geknüpft sind. Was aber allemal dem eigenständigen Leser nur entgegen kommen kann, weil wir selbst erstens in einer Geschichte im Fluss leben, selbst dort, wo sie erstarrt zu sein scheint, und zweitens in einer Geschichte der Kontinuitäten, obwohl derzeit überall die Medienhysterie den rasanten Dauer-Wandel ausposaunt.
 

Jürgen Osterhammel
Die Verwandlung der Welt
Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung.
C. H. Beck München 2009
1568 Seiten
Euro 49.90 (D), 51.30 (A)

Leseprobe

Hörprobe



 



 


Glanz & Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home
     Literatur     Blutige Ernte     Bilderbuch     Zeitkritik     Termine     Preisrätsel     Impressum     Mediadaten