Glanz
&
Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
Die menschliche
Komödie
als work in progress
Zum 5-jährigen Bestehen
ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000
Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.
Literatur in
Bild & Ton
Literaturhistorische
Videodokumente von Henry Miller,
Jack Kerouac, Charles Bukowski, Dorothy Parker, Ray Bradbury & Alan
Rickman liest Shakespeares Sonett 130
Thomas Bernhard Eine
kleine Materialsammlung
Man schaut und hört wie gebannt, und weiß doch nie, ob er einen
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Monologen über Gott und Welt. Ja, der Bernhard hatte schon einen
Humor, gelt?
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Ulrich Breth über die
Metamorphosen des großen Rätselhaften
mit 7 Songs aus der Tube
Glanz&Elend -
Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen
ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000
Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben:
Die menschliche
Komödie
als work in progress »Diese mühselige Arbeit an den Zügen des
Menschlichen« Zu diesem Thema haben
wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás
Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter
Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den
besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt.
Inhalt als PDF-Datei
Dazu erscheint als
Erstveröffentlichung das interaktive Schauspiel »Dein Wille geschehe«
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Glanz & Elend
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Zum Tod des ehemaligen Schachweltmeisters Bobby Fischer
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Auf den Spuren
des philosophischen Tricksters Jacques Derrida
Ein Essay von Anne Dippel
I. Was könnte eine Interpretation Jacques
Derridas Überlegungen zur Gabe besser einleiten, als eine Anekdote? A-nek-doton,
das Nicht-heraus-gegebene, gibt eine bemerkenswerte, darüber hinaus
charakteristische Begebenheit aus dem Leben seiner Person preis. Der deutsche
Medientheoretiker Friedrich Kittler erzählte sie mir vor längerer Zeit. Er und
der französische Philosoph Jacques Derrida, in freundschaftlichem Verhältnis
verbunden, fuhren eines Nachts gemeinsam in einem Taxi. Kittler fragte ihn:
»Jacques, mon ami, warum haben Sie Heidegger nie abgelehnt?« Da erzählte ihm
Derrida, dass er als Kind in Algerien, während der Herrschaft des Vichy-Regimes
den Rassegesetzen unterworfen gewesen und die Schule verlassen musste, dass er
sich in diesen Jahren einer Bande von Jugendlichen anschloss, die Autos knackte,
sowie andere kleinkriminelle Taten verübte, anstatt die jüdische Schule zu
besuchen; dass er auch nach der Befreiung Algeriens durch die Amerikaner
weiterhin den Rassegesetzen unterstanden hätte, bis zum endgültigen
Zusammenbruch Vichys. Für ihn war der Antisemitismus und Heideggers Liebäugelei
mit totalitären Systemen ein zeitgenössisches Problem Mitteleuropas. Sie
stellten keinen Grund, sich dem Denken eines Philosophen zu entziehen. Darin
liegt geistige Größe; aber auch vielleicht eine gewisse sephardische Distanz zu
der großen Tragödie europäischer Ashkenazim (und jener tragischen sephardischen
Juden Thessalonikis).
In jener Nacht erfuhr der deutsche Denker auch noch ein weiteres Detail aus
Derridas Leben. Er sei zum Vegetarier geworden; denn das einzige Speisegesetz,
das die großen monotheistischen Religionen, wie auch den antiken Götterhimmel
miteinander verbinde, sei die Erlaubnis, Fleisch zu essen. Nur wenige Jahre
später, 2004, verstarb Derrida nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 74
Jahren.
Mathematikern
und Logikern muss das Denken Derridas schon immer an Schärfe gemangelt und mit
schönschmückendem Talmi über und über behängt, durch Taschenspielereien und
Tricks herbeigezaubert erscheinen. So ist bekannt, dass sich 18 Professoren der
Fakultät in Cambridge seinerzeit gegen die Verleihung einer Ehrendoktorwürde
stellten, in ihrer Petition rückten sie Derridas Denken dem Dadaismus nahe. Aber
müssten wir diesen Vorwurf nicht auch auf andere französische Wissenschaftler
ausweiten? Haben nicht Foucault, Deleuze, sogar der strenge Strukturalist Claude
Lévi-Strauss von den geistigen und künstlerischen Eskapaden des Dadaismus André
Bretons, des Surrealismus Georges Batailles große Impulse für ihr tiefes Denken
erhalten? Eine Anthropologie ohne Anthropozentrismus, eine Ethnologie ohne
europäischen Ethnozentrismus, eine Kritik an der Kulturgebundenheit von
Menschenrechten, das Aufkommen egalitärer Bildungskonzepte – all dies verdanken
wir auch den fruchtbaren Dialogen zwischen Dichten und Denken, Kunst und
Wissenschaft, die in obskuren Zirkeln wie Acéphale in kleinen linksradikalen
Blättern und großen Salons Pariser Prominenz wie dem Gertrude Steins und ihrer
Freundin Alice B. Toklas zum Beispiel stattfanden. War es nicht notwendig, dass
sich endlich der Zweifel an allem Absoluten und die Zerstörung idealer und
fester Normen in die konservierten und konservierenden Philosophie und
Geisteswissenschaften einschrieb? Brauchte es nicht einen Bruch mit klassischen
Korsetten des DenkensLiebensLebens, die sich mehr und mehr versteift hatten, die
politisch pervertiert waren und zwangsneurotisiert in totalitäre
Gesellschaftssysteme mündeten unter denen doch Millionen in den Jahren 1914-1945
erbärmlich verstarben? Werfen die Kritiker an Derrida sich selbst nicht
neiderfüllt vor, weniger Frechheit und Wagemut besessen zu haben, weil ihnen der
Boden nie unter den Füßen weggezogen wurde?
Jacques Derrida hat sich immer an den Stil des französischen Essays gehalten.
Kritik an dem System seines Schreibens, an mangelnder Klarheit, an der von
Fußnoten ungesäumten Straße seines Denkens, sollte wenn überhaupt an das
französische Essaysystem der Universitäten gerichtet werden. Dort schreibt man –
für deutsche Studenten sicher eine Seltenheit – in vierstündigen, anonymisierten
Klausuren, Essays mit klarer dreifaltiger Gliederung. Zitate sind Erinnerungen,
Verweise, Impulse, keine Autoritäten und Kritikschutzmauern. Und doch ist es
nicht falsch, was die Professoren erkannt haben, ja, Jacques Derrida spielt mit
Tricks und beherrscht alle geistigen Taschenspiele, die in der
postabsolutistischen Zeit mit ihren verweltlichten Formen des Esprits frei
umherschwirren. Doch Derrida ist kein skrupelloser Betrüger, er ist ein
Trickster. Skrupellose, von Zweifel und Recht befreite Betrüger wandern ins
Gefängnis der Gerechtigkeit, die Nachwelt zuletzt wird sie in tiefste Kerker
verbannen (oder freilich daraus befreien, wenn die Zeitfahnen der Macht wieder
in eine andere Richtung wehen). Der Trickster indes ist ein Schelm. In ihm
vereinen sich Ambivalenzen, er ist Umkehrer einer Situation, Überbringer von
Nachrichten, fähig die Gestalt zu wandeln, Lévi-Strauss nannte ihn Bricoleur,
Bastler. Hermes ist der griechische Trickstergott per se. Die amerikanische
Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway erklärt, dass Interpetierende von
Zeichen immer schon auf ontologische Weise schmutzig wären, sie seien aus
notdürftig geäußerten, zeitlich zerstreuten und räumlich vernetzten Akteuren und
Aktanten zusammengesetzt; gleich Cyborgs sind Trickster heterogen und immer
anzuzweifeln. Und der französische Denker Michel Serres baut seine ganze Theorie
über die Position des Philosophen auf der Position des Parasiten auf. Gleich
einer Ratte, die aus dem Loch heraus die Lage beobachtet und sich das beste
Stück Käse in einem unbemerkten Augenblick zu schnappen weiß, streift der Denker
durch die Dichte des Daseins. So etwas gefällt Scholastikern nie.
II. Jacques Derridas Essay »Falschgeld.
Zeit geben I« von 1993 ist eine Meditation über das Verhältnis von Gabe und
Gegenwart, das seinen Weg des Denkens von Heideggers Verhältnis zwischen Sein
und Zeit über Marcel Mauss’ Essai über die Gabe hin zur Lektüre Baudelaires
Erzählung »Falschgeld« beschreitet. Wie in allen großen Gedanken Derridas, liegt
im Spiel mit der Sprache der Schlüssel zum Verständnis seines Vorhabens
verborgen. Den semantischen und phonetischen Mehrdeutigkeiten des Französischen
folgend, gelangt er zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Heidegger. Es lichten sich
erneut die Fragen nach Ereignis, Sein und Zeit, sowie Seiendem und Jetzt, indes
von einem anderen sprachlichen Horizont her. Einigen dieser Fragen soll im
Folgenden nachgespürt werden.
In seinem Freiburger Vortrag »Zeit und Sein« vom 31. Januar 1962, Kontrapunkt zu
jenem bahnbrechenden Werk »Sein und Zeit« von 1926, macht Heidegger das
unbestimmte Es, das Sein und Zeit gibt, zu schaffen. Es lässt ihn an der Grenze
der Erkenntnis auflaufen: die Sprache bereitet ihm eine Beule; denn wie
Wittgenstein sagte: jede Erkenntnis ist eine Beule, die wir uns vom Anrennen
gegen die Grenzen der Sprache geholt haben:
»So bleibt das Es weiterhin unbestimmt, rätselhaft, und wir selber bleiben
ratlos. In solchem Falle ist es ratsam, das Es, das gibt, aus dem bereits
gekennzeichneten Geben her zu bestimmen. Dieses zeigte sich als Schicken von
Sein, als Zeit im Sinne des lichtenden Reichens. Oder sind wir jetzt nur deshalb
ratlos, weil wir uns von der Sprache, genauer gesprochen, von der grammatischen
Auslegung der Sprache in die Irre führen lassen, aus welcher Irre wir auf ein Es
starren, das geben soll, das es aber selbst gerade nicht gibt? Sagen wir: Es
gibt Sein, Es gibt Zeit, dann sprechen wir Sätze aus. Nach der Grammatik besteht
ein Satz aus Subjekt und Prädikat. Das Satzsubjekt muß nicht notwendig ein
Subjekt im Sinne eines Ich und einer Person sein. Die Grammatik und Logik fassen
daher die Es-Sätze als Impersonalien und als subjektlose Sätze. In anderen
indogermanischen Sprachen, im Griechischen und im Lateinischen, fehlt das Es,
wenigstens als besonderes Wort und Lautgebilde, was gleichwohl nicht besagt, daß
das im Es Gemeinte nicht mitgedacht werde: im lateinischen pluit, es regnet; im
griechischen χρή,,
es tut not« (ZuS 9).
Dieses indoeuropäische Sprach- und somit Erkenntnisproblem des »Es Gibt«
beschäftigt nun Derrida, er geht es aber von einer Handlung her an, dem Geben
von Geschenken. Ihm hilft dabei die französische Sprache: Donner présent – Geben
von Geschenken? Das Wort présent führt den Denkenden an eine Gabelung, die
ihn/sie entweder an die See und ins Gebirge des Seins oder auf die Felder, in
die Bergwerke und Städte des Seienden bringen. Denn présent heißt sowohl
Gegenwart; Heute; Jetzt – als auch Geschenk. Es kündet vom Anwesenden; es kündet
vom ökonomischen Zirkel des Tauschs. So lernen wir durch Derrida mehr über die
Differenz von Zeit und Sein im Hinblick auf die diskrete Zeit der Ökonomie. In
seinem Essay liest Derrida Heidegger und Mauss gegeneinander und zeigt auf, dass
(es) einzig Zeit G/geben kann, die Gabe ein Ereignis als Entzug darstellt. Wir
wollen begreifen, doch im nächsten Augenblick ist der Augenblick vom Augenblick
vertrieben und Teil der dauernden Vergangenheit, der Erinnerung und ihrer
gegenwartsverfallenen Auswahl anheim gefallen. Mauss’ Schlussfolgerungen zum
großen Potlatsch hingegen, jener magischen, von Franz Boas als »Schulden machen
– Schulden begleichen« beschriebenen, Verschwendung und Verausgabung
einschließenden Tauschring nordamerikanischer und pazifischer Gesellschaften,
beruhen für Derrida auf einer ungenauen Terminologie. Marcel Mauss mangele es an
Reflexion der ontologischen Dimension der Gabe, er sei von dem ökonomischen
Zirkel des do ut des und seiner sowohl beseelenden, als auch vergiftenden Seite
durch den von Händen zu Händen wandernden Gegenstand blind geworden für den
Umstand, dass die Gabe selbst unmöglich sei, obwohl sie denkbar bleibt. Die Gabe
ist unmöglich, da sie sich a priori in der Konstitution des Kreislaufs von
Schuld und Ökonomie auslöscht.
So ist »La fausse monnaie/ Donner le temps I« zuerst eine Meditation in
cartesischer Tradition über die Gabe und ihrem Verhältnis zu Sein und Zeit.
Madame de Maintenon schreibt ihrer Briefpartnerin Madame Brinon: »Le roi prend
tout mon temps; je donne le reste à Saint-Cyr, à qui je voudrais le tout donner.«
(Der König nimmt mir meine ganze Zeit; den Rest gebe ich Saint-Cyr und wie gern
wollte ich sie Saint-Cyr doch ganz geben.« (FG 9)) Und Jacques Derrida
deterritorialisiert diese Klage, macht die Mätresse zur main-tenant, zu einer,
die in den Händen hält, zum jetzt, er reißt ihren Satz aus dem Kontext der
Korrespondenz und führt ihn in das Reichen der Gabe. Freilich meditiert Derrida
nicht bloß über die Gabe, die die Zirkulation jeden Tauschs abrupt beendet. Er
vollführt mit seiner Sprache ein ganz heideggersches Lauschen, er folgt den
Winken des Französischen auf dem Weg, den Heidegger schriftlich vorgezeichnet
hat (z.B. raison – Recht haben und raisonner - denken rechnen und ratio und
Vernunft (FG 198/199)). – donner présent – die Gegenwart und die Gabe als
Geschenk, geben sich im selben Wort die Hand und öffnen so einen Slot, der
zwischen Ontischem und Ontologischem, Metaphysik und Physik, zwischen
Seinsgeschick und Welt der Seienden hin- und herspringen lässt. Sein présent ist
wie jener Spielstein, der im Spielzug der Mühle die Zwickmühle erbarmungslos
ereignet: Ein entsprechender Zug in die gegensinnige Richtung schließt die
vorher geöffnete Mühle. In Oberschwaben nennt man diese Situation
bezeichnenderweise »Fickmühle«, was auf die alte Etymologie des Wortes verweist,
dem schnellen hin- und herbewegen des Schmieds, der die Oberfläche des
geschmiedeten Schwertes glättet. Gilles Deleuze und Felix Guattari umschreiben
solche Wörter mit dem bildhaften Begriff »Kofferwort«. Die phonetische Hülle
geöffnet, gibt sich eine semantische und etymologische Vielfalt zu sehen, einem
Inventar kultureller Bedeutungen und Vernetzungen gleich. An der Zwickmühle
présent lässt sich der erste Trick zum Verständnis Derridas begreifen. Ein Wort,
jenes Objekt=x, die leere Stelle, die die Bewegung der Verschiebung ausmacht und
das Loch öffnet, in den der Phallos des Wissens, hier Jacques Derridas
hineinstoßen kann. In gleicher weise verfährt Derrida mit der phonetischen und
grammatischen Differenz der Wörter und öffnet das Spiel zwischen Raum und Zeit,
Bewegung und Stillstand, wie in seiner Unterscheidung von Differenz und
différance als Prozess der Differenz.
In Falschgeld ist Derrida der Bewegung des Heideggerschen Denkens ganz
verpflichtet: es gelte »den Kreisgang (zu) vollziehen, im Kreis kreisen, um dort
ein Fest des Denkens zu feiern, dem die Gabe, die Gabe des Denkens durch aus
nicht fremd wäre« (FG 19). Denken ist ein Weg und diese Frage und das Gehen des
Heideggerschen Wegs, schreibt Derrida, sind zugleich auch ein einzigartiges
Denken des Vergessens (FG 31). Und so wie Heidegger dem Verschwinden und Haben
der Zeit, das jedes Ding hat und den Menschen ereignet, nachspürt, zeigt uns
Derrida, dass Zeit nichts zu sehen gibt und sich der Sichtbarkeit entzieht, Zeit
aus wesentlichem Verschwinden besteht, aber alles Erscheinen Zeit in Anspruch
nimmt (FG 15). So gehorche jene Zeit dem Rhythmus von Tag und Nacht, dem ersten
Maß der Zeit, vor jedem mechanischen Uhrwerk, vor den Gezeiten und Jahreszeiten.
Es ist die Zeit, die sich zeigt, wenn wir vergessen, dass wir sind.
Die vier Dimensionen der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und der
Prozess des Reichens, den Heidegger aus dem »Es gibt« löst, kann als ein Spiel
der Vier bezeichnet werden. Derrida erzählt vom Quartett. Wohl kaum ein anderes
Spiel als das im deutschsprachigen Raum verbreitete Skat, lässt die
Vierdimensionalität der Zeit als Simulakrum, als Verdoppelung erfahrbar werden.
Doch ist es ähnlich wie mit Zeit und Sein, im Spiel vergisst man sich. Würde
nicht das Ende eines Spiels gezählt werden, wie oft vergäße man »wer gibt«.
Welcher Skatspieler hat diese Frage einmal nicht gestellt, »Wer gibt?«, ja und
meistens ist es der, der fragt: Seinsvergessenheit. Da gibt es also drei
Spielpartner, aneinander im Reizen, einem Potlatsch gebunden (»18?« »Ja.« »Weg.«
– »Ich höre mehr?« »20.« »Ja.« »’2?« »Ja.« »’3?« »Ja.« »’4?« »Passe.« »Ich
spiele Herz, solo.« – »... Herzlich lieben die Mädchen.«). Drei,
selbstverständlich mehr als zwei, sind durch die zirkulierende Trias geben –
hören – sagen zu einem Tauschring zusammengeschlossen. Im Uhrzeigersinn ist es
an einem jeweils zu Geben, gegen den Uhrzeigersinn entscheidet der vorherige
über die Zuteilung, das Gesetz der Moira. Er darf abheben oder klopfen, er
richtet das letzte Mal vor der Gabe der Karten ihre Anordnung aus. Es kann im
Spiel den »vierten Mann« geben, die Figur, die aussetzt und stattdessen als
Kiebitz einem Spieler in die Karten schaut. Denn der Geber ist in seiner
Position nicht fixiert, es gibt immer ein anderer. Es muss den anderen geben. Es
wird um die beiden Karten im Skat gereizt, der Wagemutige darf zwei seiner
Karten austauschen, aber es ist auch sein Spiel: auf Gedeih und Verderb. Der
Skat: Gewinn des Reizens auf dessen Wert man nie reizen sollte (Aberglaube,
Spielerfahrung; Überreizen, Handspiel) gleicht der leeren Stelle des
strukturalistischen Spiels, ist er frei flottierender Signifikant, möglicher
Pivot. Rausch des Reizens (Herzklopfen, Wagnis) und Überreizens (Bluff und
Enttäuschung); Siegen oder Verlieren als changieren zwischen Chance und Fortune;
Diplomatie und Mesalliance zwischen den abhängigen Konstellationen des 2 zu 1 in
wertvollen Farbspielen oder verlegenen Nullspielen; eine verzweifelte
Verausgabung alles zu Verlieren oder alles zu gewinnen (Durchmarsch) im
alle-gegen-alle des Ramsch; Methoden von Blockieren, Taktieren und Manipulieren,
sie alle tragen zur Seinsvergessenheit des Spielers bei und offenbaren dem
Kiebitz zeitgleich die metaphysische und physische Ebene des Skat. Skat
symbolisiert wundersam das Spiel im Strukturalismus und das Spiel von Zeit und
Sein. Die Tenarität und die Gabe als vierte Einheit manifestieren sich im ABC an
die es die Karten jeweils gibt.
a.
Auf dieser Grundlage lassen sich (durch die Hilfe von Derrida, Heidegger, Mauss,
Lévi-Strauss und Bataille) Axiome der Gabe extrahieren:
Das erste Axiom der Gabe als Ereignis heißt, die Gabe braucht eine ternäre
Struktur, d.h. eine dreiwertige Logik. Darin unterscheidet sich Derridas
Argumentation von Batailles Überlegungen in La part maudite, den die direkte und
indirekte Agonalität jeglichen dualen Verhältnisses und seiner
Herr-Knecht-Dialektik mehr interessiert. A – B – C, Geben – Hören – Sagen:
Reichen. Gabe (Sein/Zeit) – Geber (Zeit/Sein) – Gabenempfänger (Sein des
Seienden) sie brauchen das wollen, wünschen, beabsichtigen der Intention zu
geben: die Lust zu spielen. Gabe-gegen-Gabe löst darauhin einen Tauschring aus,
dessen offensichtliches Merkmal die Verzögerung ist: Dem Ding ist die différance
als Termin eingeschrieben, nur so entsteht ein Kreislauf, Gabe-gegen-Gabe
erfordern eine Zeit dazwischen. Diese Zeit des Dazwischen, zwischen Gabe und
Gegengabe der Gabe ohne Gegenwart, ist die différance, der Aufschub, die den
Termin der Rückgabe im Vorhinein veranschlagt (FG 57).
»Damit es Gabe, ein Gabenereignis gibt, muß irgend »einer« irgend »etwas« (quelque
chose (irgendein »Ding«)) irgend einem anderen geben, ansonsten bleibt »geben«
bedeutungslos, sagt nichts.« (FG 22) Aber die Gabe ist unmöglich denn Einer und
Ding kündigen eine Störung (perturbation) in der Tautologie der Gabe an, »der es
nie genug ist, zu geben oder sich zu geben, sondern die immer irgend etwas
(anderes) irgendeinem (anderen) geben muß« (FG 22).
Die Zeit annuliert die Gabe – das Ereignis verschwindet mit der Zeit; denn die
Zeit lässt das Ereignis erscheinen und verschwinden: »Die Bedingungen der
Möglichkeit ergeben (produire) oder definieren die Annullierung, die
Vernichtung, die Zerstörung der Gabe« (FG 24). Diese Bedingungen verweisen
wieder auf die 4. Dimension, das Weiterreichens der Zeit.
Die Gabe gehört der gleichen Struktur wie Sein und Zeit an, sie umschreibt den
Sachverhalt des Reichens und Öffnens des Zeit-Raums ((FG 32), Vergleiche
Heidegger, Zeit und Sein)
So kann es Gabe nur geben, wenn es keine Reziprozität gibt, keine
Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld – Falschgeld, Falsches als
Wahres durchgehen lassen, und Almosen, Kaufhandel mit den Göttern, gemahnen an
die Gabe. Sie nicht bewusst einzusetzen verletzt das »hau« des
Almosens/Falschgelds, die Chancen, die sich hinter dieser Gabe verbergen, Dann
wird die Gabe zum Gift für den Geber. Dann macht sich der Geber oder Nehmer an
der Gabe schuldig. Das sei der Inbegriff von Dummheit, einem relationalen
Verhalten, sich der natürlichen Schuld (die jedem durch das Es gibt eignet) zum
Geben verpflichtet zu fühlen (FG 215).
Die Gabe stiftet den Bezug zwischen Denken und Erkennen, zwischen Noumenalem und
Phänomenalem. Zeit geben: die Struktur der Logik entspricht hier der
transzendentalen Dialektik Kants: Erkennen heißt Sinn und Wissen – wisse zu
geben. Denken eröffnet die Einsicht in das Verhältnis von Geben und Sein durch
den Sachverhalt, der différance Gabe-gegen-Gabe (FG 45). Das ist der Don sans
present: »Zur selben Zeit, jetzt, denken wir das Unmögliche, und ‚zur selben
Zeit’ ist das Unmögliche« (FG 49). Wir begreifen so die Gleichzeitigkeit zweier
Zeitweisen und -wahrnehmungen: Zirkel und Linie und Dauer und Anwesenheit: Die
Gabe und Gegengabe, lässt die doppelte Bindung, double-bind des »Es gibt«
denken. Ein anderes Bild für jene zwanghafte scheinparadoxe Botschaft der Gabe
ist die Zwickmühle.
Der Essai von Mauss spricht über alles mögliche, nur nicht über die Gabe
schlussfolgert Derrida. Er handle von Öknomie, Tausch und Vertrag (do ut des),
dem Spiel des Überbietens im Potlatsch; vom Kula-Ring ; von Opfer, Almosen und
einer möglichen besseren Welt. Gabe und Gegengabe, alles war zur Sache drängt
findet hier sich im Falschen Wort »Gabe« versammelt; indes die Gabe selbst wird
durch all jene Prozesse anulliert, es sind Prozesse der Verbindung, des Bindens
(bind), nicht der Doppelbindung (double-bind). Erst das Französische donner
présent entbirgt und beweist zugleich Heideggers Auflösung für die Frage nach
dem Es gibt. Auf demselben Geheimnis gründet auch der Zauber der Literatur.
b.
Die Gegenwart des Präsent/présent ist nicht als Jetzt denkbar: Mit Sein und Zeit
beginnt dieser Gedanke, dieses Spiel seinen schönen Tanz. Man macht mit der Gabe
présent. Denn wir wissen ja schon, dass wir Zeitlich sind, wir vernehmen das
Sein und wissen um unser Ende (Entelechia). Und deshalb ist die Gabe unmöglich,
aber denkbar. Durch die Sprache. So wird in einem weiteren Beweis präsent, dass
Denken zum Sein führt. Denken bewegt sich im Haus des Seins, in der Sprache
selbst. Im Verlauf seines Aufsatzes gelingt es Derrida von der Doppeldeutigkeit
des présent aus den Lesenden so auf Heideggers Weg des Denkens zu führen. Dieses
Unterfangen zwingt ihn, Marcel Mauss Ungenauigkeiten in dessen rationaler
Beweisführung aufzuzeigen. Und es drängt sich die Frage auf, wenn Marcel Mauss
ins Feld gegangen wäre und selbständig eine Forschung aufgebaut hätte, wenn er
nicht bloß am Schreibtisch gesessen und alles enzyklopädischem Wissen zugrunde
gelegt hätte, wäre ihm die Verwechslung von Tausch und Gabe nicht unterlaufen,
die seinem empirizistisch-hermeneutischen Vergleich zum Vorwurf gemacht werden
kann?
Die Ökonomie, die Derrida indes in Augenschein nimmt, ist nicht bloß die des
Gesetzes der Verteilung, Verausgabung und Gabe-gegen-Gabe, sondern auch die des
Gesetzes der Zuteilung, der Moira oder Schickung. Moira war den Griechen der
gegebene oder zugewiesene Teils eines jeden Oikos der Polis, er glich dem Feuer
im Innern, das dem Philosophen Gaston Bachelard Fragen zum Sein beantwortete.
Derrida grenzt davon zwei Ökonomien ab: 1. die Ökonomie, die im nomischen
tautologisch als solche existiert: Sobald es Gesetz gibt, gibt es Zuteilung
(Bataille, Aristoteles, Mauss, Levi-Strauss) und 2. Die Ökonomie, die die Idee
des Tauschs impliziert, der Zirkulation, der Rückkehr – in ihrem Zentrum steht
die Figur des Kreises (Kula-Ring Malinowskis, Potlatsch Boas’). Die Gabe
freilich unterbricht den Zirkel der Ökonomie. Denn die Gabe ist Teil des
Bereichs von Sein und Zeit. Deshalb verweist Derrida dringlich darauf: »Die Gabe
darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden, auf gar keinen Fall
darf sie sich, als Gabe, verschleißen lassen im Prozess des Tausches, in der
kreisförmigen Zirkulationsbewegung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt« (FG 17). So
wie beim Skatspiel: Verschleißt die Gabe, gibt es Streit oder wird es
langweilig. Das Spiel ist aus. Denn die Gabe gehört einem Zeitbereich an, der
Teil der Anwesenheit ist, der eigentlichen Zeit, nichtlinearen Zeit, deren
vierte Dimension ja das reichen von Gewesenheit zu Gegenwart zu Zukunft ist. Sie
ist dem Kreis daher nicht fremd, aber muss ihm Fremdheit gegenüber bewahren. Sie
ist nicht unmöglich zu denken, aber das Unmögliche, die Figur des Unmöglichen,
weil sie verschwindet, wenn sie auftaucht: »Wer gibt?«. Die Gabe ist; ist nicht.
Es lichtet sich, weshalb der Augenblick der Gabe nicht mehr zur Zeit gehören
darf. Ganz so wie Erlebniszeit von Schreiben und Lesen im Verhältnis zur realen
Zeit und Handlungszeit in Lyrik oder Prosa steht. Für den Leser oder Kritiker
kann der Autor tot sein; der Schriftsteller aber im Prozess des Schreibens fühlt
sich als Autor.
c.
Baudelaires Erzählung Falschgeld dient Derrida stellvertretend für die Literatur
an sich. Literatur ist Falschgeld: immer lässt sie Falsches als Wahres
durchgehen, immer nur lesen wir die Sicht des Erzählers. In Baudelaires
Erzählung offenbaren sowohl die strukturelle Trias »Autor – Leser – Erzähler«
(Geben – Hören – Sagen), als auch Inhalt und Aufbau der Erzählung selbst, die
doppelte Aufgabe, zu der die Gabe verpflichtet: wisse zu geben, weil es dich
gibt. Das Spiel mit transitiver und intransitiver Bedeutung, Passivischem,
Medialem und Aktivischem von Verben ist ein zweiter Trick, den Derrida im
Übrigen von einem großen Meister darin, Heidegger, gut erlernt hat (»Was heißt
Denken?«; »Was gibt es?«).
Die Gabe ist der erste Beweger des Kreises der Ökonomie, des von Mauss so
eindringlich beschriebenen zirkulären Vertrags von Gabe und Gegengabe, kurz
Gabe-gegen-Gabe. Deshalb berührt sie auch die Welt der Schuld des Alten
Testaments und der Erlösung, die das Neue Testament durch Kreuzestod und
Abendmahl verspricht: »Das Symbolische stellt den Tausch allererst her, es
eröffnet und konstituiert die Dimension des Tausches und der Schuld, mitsamt dem
Gesetz oder dem Befehl der Zirkulation, in der die Gabe annuliert wird. Es
genügt also, dass der andere die Gabe wahrnimmt...« (FG 24). Es genügt, dass der
anderen nimmt, dass die Gabe verlischt. Sie dürfte nicht erscheinen. Erscheint
sie aber, annuliert ihr Antlitz sie selbst als Gabe und verwandelt die
Erscheinung in ein Simulakrum; ganz so wie Almosen das Simulakrum von
Verschwendungsnotwendigkeit (Bataille) sind und die Geldgabe des Almosens von
Baudelaires Falschgeld das Simulakrum der Gabe aufscheinen lässt.
III.
Nimmt der andere, nimmt der andere wahr, setzt der Zirkel der Ökonomie der
Schuld ein: die Bindung und die Verpflichtung wird aufgenommen, eine
Verschiebung findet statt. Die Bewahrung des Genommenen im Unbewussten und oder
im Gedächtnis, öffnet Zeit der Rückgabe (Termin der différance) und des
Gegebenen (Es gibt). Nur ein radikales Vergessen beiderseits, simultan, könnte
diesen Tauschring von Gabe-gegen-Gabe zerstören. Verdrängung indes zerstört und
annuliert nichts, sie bewahrt, indem sie verschiebt. Es manifestieren sich die
Konsequenzen von Verdrängung und Tauschring der Schuldigkeit, die
Erbarmungslosigkeit von Gabe-gegen-Gabe deutlich unentrinnbar in den von
Schlussstrich und Restitution vergifteten und beseelten Beziehungen zwischen
Deutschland und Israel. Ein radikales Vergessen, das kein Verdrängen ist, kann
nur durch die Gabe zu denken sein. Damit es dieses absolute Vergessen gibt, muss
es Gabe geben, nämlich Seinsvergessenheit. Spürbarer ist das radikale Vergessen
nirgendwo deutlicher als in der Verausgabung der Liebe, im Moment des Orgasmus.
Und nirgendwo sonst lässt sich das radikale Vergessen beiderseits, simultan eher
erwarten, als in der Liebe und Lust zwischen Menschen, selbst wenn sie durch
Geburt in zwei verfehdete Gemeinschaften auf die eine und andere Seite des
Gebens und Nehmens geschickt wurden (Martin und Hannah, Romeo und Julia,
Antigone und Haimon, Adam und Eva). Im Gegensatz zur alten Stetlweisheit kommen
die Menschen nicht bloß aus Nemerova oder Geberova. Jemand, der vom Stamme Nimm
ist, hat sich in ihn hineinbegeben.
Denken ist ein Weg und diese Frage und das Gehen des Heideggerschen Wegs,
schreibt Derrida, sind zugleich auch ein einzigartiges Denken des Vergessens.
»Und im Laufe dieser Bewegung begibt es sich, dass das Sein, das nicht ist, das
kein Präsentes oder Seiendes ist, sich ankündigt im Ausgang von der Gabe« (FG
32). Wenn es Gabe gibt, kann sie sogar logischerweise nicht mehr zwischen
Subjekten stattfinden, die Orte, Dinge, Symbole austauschen. – Es ist ja vor dem
Subjektbezug, vor der Macht. Wie Heidegger sagt: »Es gibt hier kein Machen. Es
gibt nur das Geben im Sinne des Genannten (à4 Zeiten), den Zeit-Raum lichtenden
Reichens« (ZuS17). Wir bewegen uns somit außerhalb des Verhörs der Logik,
außerhalb des dialektischen Diskurs und Denken im Bereich der Unmöglichkeit, im
Bereich von Differenz und Wiederholung.
Deshalb ist »Es gibt« eine Gabe ohne Gegenwart, ein don sans présent und löst
die Folie (Torheit, Wahnsinn, Spleen, Folie) der ökonomischen Vernunft aus:
Diese Folie, bewusst gebrauche ich das alte Fremdwort, dieser Wahn ist nichts
anderes als das Wissen-wollen. Es ist die Folie des philosophischen Begehrens,
Wünschens und Erwartens (à Spielen wollen, Reichen) das alles in allem im
Französischen ein Wort zusammenfügt: désir, im Deutschen aber fragmentiert
bleiben muss: wünschen, begehren, erwarten, ersehnen. Edmond Jabès schrieb: »Il
n’y a pas de pensée sans désir.« Ich will mir das nicht übersetzen, aber ich
kann es denken; ich halte es sogar für wahr. Derrida meditiert über die Folie
Gabe zu denken und bewundert die Folie des Schriftstellers Baudelaire, über Gabe
zu dichten. Es ist eine Folie des Vergessens, denn die Gabe kann ja nur sein,
wenn es sie gibt: die Gabe gibt es nur, wenn wir vergessen, dass es sie gibt.
Das ist das radikale Vergessen auch.
a.
Derrida leitet die folie und das désir philosphique die Gabe des Seins zu
denken, zu seinem eigenen Imperativ: »wisse zu geben« (FG 45). Aber er wäre
nicht der Trickster, ginge es ihm dabei bloß um das Geben und nicht auch um das
Bekommen. Ihm geht es freilich auch darum, »sich zu geben wissen, was immer es
auch sei« (FG 218). Ständig auf der Suche nach dem Syn, dem Zusammenfügen zweier
Prozesse folgt er der Fuge (FG 55), dem Hau (der maorischen »Seele«, die einer
Gabe innewohnt) ohne Gegengabe (Objekt = x; leere Stelle) (FG 101), öffnet
Kofferworte, verbindet Leerstellen mit Phalloi, die in die Serie des ontischen
oder ontologischen einbrechen. So lauscht Derrida der französischen Sprache,
zieht dem rendre du service alle Alltäglichkeit fort und entdeckt aus diesen
Differenzen wieder die différance, jenen von Heidegger im Gegensatz dazu
stillgestellten Sachverhalt. Sein dekonstruierender Prozess führt zu dem hin und
erfüllt das Programm, das Heidegger durch das Konzept Destruktion gebar:
»Die Folge der Epochen im Geschick von Sein ist weder zufällig, noch läßt sie
sich als notwendig errechnen. Gleichwohl bekundet sich das Schickliche im
Geschick, das Ge-hörige im Zusammengehören der Epochen. Diese überdecken sich in
ihrer Folge, so daß die anfängliche Schickung von Sein als Anwesenheit auf
verschiedene Weise mehr und mehr verdeckt wird. Nur der Abbau dieser
Verdeckungen - dies meint die »De-struktion« - verschafft dem Denken einen
vorläufigen Einblick in das, was sich dann als das Seins-Geschick enthüllt. Weil
man überall das Seins-Geschick nur als Geschichte und dieses als Geschehen
vorstellt, versucht man vergeblich, dieses Geschehen aus dem zu deuten, was in
»Sein und Zeit« über die Geschichtlichkeit des Daseins (nicht des Seins) gesagt
ist. Dagegen bleibt der einzig mögliche Weg, schon von »Sein und Zeit« her den
späteren Gedanken über das Seins-Geschick vorzudenken, das Durchdenken dessen,
was in »Sein und Zeit« über die Destruktion der ontologischen Lehre vom Sein des
Seienden dargelegt wird« (ZuS 9).
Es zeigt sich hier nicht bloß die semantische Verwandtschaft der Methode der
Dekonstruktion Derridas mit Heideggers Projekt der Destruktion. Derrida geht es
um die Verpflichtung zu Denken und das gibt uns, die wir ihn lesen zu Denken.
Wir Leser, wir erinnern uns, dass wir Vergessen; und sind.
Ausgehend von dieser Stelle in Heideggers Destruktion überspringe ich vieles und
möchte den letzten Gedanken, der sich aus der Lektüre von Falschgeld ergibt,
abschließend erläutern. Der Zauber der Literatur beruht auf dem Geheimnis der
doppelten Bindung des donner présent. Falschgeld lässt Falsches als Wahres
durchgehen. Literatur ist Falschgeld (FG 196), behauptet Derrida, das ist das
Geheimnis um die Literatur und zugleich ihre Möglichkeit – aber ich behaupte,
auch das Geheimnis der Philosophie Derridas und Heideggers (man betrachte
Heideggers selbstgesponnene Sprachmanipulationen auf dem Weg des Denkens, das
Zweiergespräch von selbstgestellter Frage und sprachzentrierter Antwort, dem man
geduldig Wort für Wort folgen muss, dem Lauschen der Sprache niemals abhold,
usf.).
b.
Derrida kritisiert die Ungenauigkeit Mauss – der zwischen »es gibt« und »es
existiert« nicht unterscheidet, Tausch und Gabe vermengt, er hält es ihm vor,
denn er hält diese Fragen auch für Anthropologen notwendig, die sich ihrer auch
heute leider entziehen. Aber aus diesen Differenzen quellt seine Erkenntnis
hervor (Zum Glück stellen die Anthropologen und Ethnologen sich der Ästhetik
nicht. So bleibt der Philosophie zu Denken. Was würde es da nicht alles zu
erkennen geben. Aber in Zeiten der Scholastik, in Zeiten der Starrheit verwüstet
von rationalistischen Siegeszügen und empirizistischer Mathematisierung des
Denkens in allen berechnenden und berechenbaren Formen, braucht man keine Fragen
dieser Art. Die Gelder, Subventionen, fließen nur so, sie fließen nur dann, denn
dieses Wissen ist verwertbar, stillt nichts und stellt nichts in Frage. Das
kapitalistische Spiel von Angebot und Nachfrage, von i can’t get no satisfaction
wird bis in den Crash hinein fortgeführt – und selbst dann lernen wir nichts
daraus und werfen keine Fragen auf. So bleibt die Anthropologie der Macht und
ihren Wünschen treu, stellt keine Fragen, beobachtet nur, flieht vor der
Hermeneutik und biedert sich meistens taub und blind beschreibend den
Sozialwissenschaften und ihren Beweisbarkeitsphantasmen an, allesamt geboren aus
einem Komplex gegenüber den mächtigen siegeswütigen Naturwissenschaften.).
Er kritisiert die lexikalisch-etymolgischen Manöver Mauss’ und vollzieht sie
selber konsequent, um die beiden Zeiten der Gabe des Seins und der
Gabe-gegen-Gabe denken zu können, Zirkel und Differenz. Donner présent, ein
Wortspiel voll Esprit, ein Wortspiel, das schon zu absolutistischen Zeiten des
Sonnenkönigs am Hofe von Versailles verkehrt haben muss, denn auch die Maintenon
ist nicht von Derrida zum ersten Mal als Maintenant bezeichnet worden. Schon
ihre Gegner, denen der ständig wachsende Einfluss der hugenottischen Konvertitin
(= glühende Katholikin) unheimlich war, nannten sie gerne Madame de Maintenant
und dachten sie dabei als die Neue von Heute.
J. D. macht mit seinem Denken Falschgeld, er nimmt die Chance, die ihm die
Sprache mit ihren Vieldeutigkeiten, ihrer fehlenden Eindeutigkeit, ihrem
Scheinen als etwas, das es doch nicht ist wahr und verwandelt sie in bare Münze,
schreibt Essay über Essay und hat Erfolg. J. D. muss Falsches, Irrwege der
Sprache als Wahres durchgehen lassen, und verlässt so den Zirkel der Ökonomie,
um das Reich der Ontologie zu betreten, diese Verschiebung aber gibt ihm Kredit
im wissenschaftlichen System. Wir Leser bringen ihm, J. D., crédit entgegen
(Kredit, Glaube, Glaubwürdigkeit (FG 129)) und folgen dem Ereignis seines
philosophischen Textes wie er dem literarischen Text folgt. Denn sein Text ist,
wie der Baudelaires, Falschgeld, »ein Stück, möglicherweise ein falsches
Geldstück, nämlich eine Maschine, um Ereignisse zu bewirken: Zunächst das
Ereignis des Textes ...« (FG 128). Es ist eine Maschine, die einen 3., den
Leser, braucht: Geben – Hören – Sagen. Kein Falschgeld ohne crédit. Der
israelische Schriftsteller Amos Elon beschreibt eindrücklich die Verwirrung,
deutscher Ohren im Umgang mit solchen französischen Raffinessen:
»An Heines Gymnasium wurde nun selbst deutsche Geschichte auf französisch
unterrichtet (nach dem Einzug napoleonischer Truppen um 1811) – vom Abbé
d’Aulnoi, einem Emigranten und Autor mehrerer Französisch-Grammatiken, der eine
rote Perücke trug. Philosophie unterrichtete ein katholischer Priester, der
werktags in der Schule ein Freidenker war und sonntags in der Kirche die Messe
las. Heine bekam bald Schwierigkeiten mit la réligion. Mindestens sechsmal
musste der Abbé fragen: »Henri, wie heißt der Glaube auf französisch?« Heine
antwortet jedes Mal, zunehmend verzweifelt: »le crédit«, bis der Abbé wütend »Es
heißt la réligion!« rief und Heine unter dem Gelächter seiner Kameraden eine
Tracht Prügel verabreichte. Seit diesem Tag, schrieb Heine, »kann ich das Wort
Religion nicht erwähnen hören, ohne dass mein Rücken blaß vor Schrecken und
meine Wange rot vor Scham wird. Und ehrlich gestanden, le crédit hat mir im
Leben mehr genützt als la réligion« (ZaZ 97).
Immer geht es um Glauben, Kredit und Wissen – und alles spielt sich für den
Erzähler, immer nur für den Erzähler ab. »Man gibt niemals echtes Geld, das
heißt ein Geldstück, dessen Auswirkungen man angeblich berechnen kann, mit dem
man rechnen kann und im voraus die Ereignisse erzählen, die man sich daraus
errechnet. Es sei denn, dass dieser Gegensatz von echtem und falschem Geld hier
seine Relevanz verliert – und das wäre eine der Beweisführungen dieser
literarischen Erfahrung, dieser Sprache als immer auch möglichen Falschgelds« (FG
201). Die Sprache selbst – wie zu Beginn schon von Heidegger durch seine
Grenzerfahrung am »Es gibt« aufgezeigt, ist immer auch mögliches Falschgeld.
Derrida ist dem Trugschluss seines Wortspiels auf die Schliche gekommen, aber
anstatt es als Irrweg zu verwerfen, baut er es in eine produktive Erkenntnis, in
eine Maschine, die Denkereignisse bewirkt, um. So ist Dekonstruktion in ihrem
Prozess immer eine konstruktive Bewegung.
Ein Wortspiel heißt zuweisen, an-nehmen und wahr-nehmen von Gegebenem. Derridas
Denken bleibt eine linguistische Auseinandersetzung mit dem Topos Gabe, der
Tradition Saussures und Lévi-Strauss folgend. Sie lassen selbst Unübersetzbares
hindurchscheinen. Georges Batailles Verausgabungen, die der Kopflosigkeit
entspringen (in diesem Aufsatz leider zu kurz kommen mussten) und Heideggers
gebender Sachverhalt von Zeit und Sein legen die Grundlage für Jacques Derridas
sinnreiche Argumentationen voll Esprit, Charme und Witz. Am klaffenden Graben
zwischen Ethik, die Profit als Gabe auch enthält, und Ästhetik, die
interesseloses Wohlgefallen oft bloß aufscheinen lässt, koppelt sich der
Idealismus eines doppelten Gabe-Denkens aus dem Ökonomischen aus. Jacques
Derridas Dekonstruktion gleicht den Erfahrungen seiner Kindheit, er knackte
Autos und Texte. Sein Denken ist kein statisches Destruieren, sondern bleibt der
Bewegung treu. Derrida bleibt ein mythenbildender Trickster, er bleibt seiner
Jugend und ihren Sünden selbst in den Wortbewegungen seines Denkens treu.
c.
Jean Starobinski schrieb einmal: »Der Mensch ist jenes eigentümliche Wesen, das
es liebt, sich hinter Masken zu verstecken, und beständig den Reiz des
Verborgenen beschwört... Immer bleibt der Traum von der Tiefe bestehen...« (PuL
80). In Falschgeld zeigt Derrida seine Seite als Trickster-Philosoph, er
bezeichnet die Literatur, aber gibt sich selbst zu sehen. Er ist ein Denker, der
mit den Augen zwinkern kann, der nur beim Augenzwinkern über seinen Phallos, dem
Beschnittenen (circumcision), allen Spaß verliert. Ansonsten aber bleibt er dem
System der Halunkereien seiner erzwungenen kleinen Jugendsünden auch in seinem
Denken fröhlich treu. Das darf er, denn er ist ein Mann, der die
Institutionalisierung der Literatur versteht, der die zweifache Gabe und
Begabung des Erzählens und des Denkens besitzt. Er weiß sich zu geben; er weiß
zu geben, weil es ihn gibt. Wir müssten seine Talente vermissen, ohne genau zu
wissen was, wenn er sie sinnlos vergeudet hätte.
Es gibt uns Heutigen nichts mehr, nach dem Urgrund des Seins zu suchen oder nach
der Ur-Struktur. Uns gibt das Fragen stellen viel mehr. Informationen und
Antworten sind schon genügend gegeben, sie überfließen uns, wir ertrinken darin.
Derrida stellt Fragen, die immer wieder zurückbleiben werden, die wir
Gegenwärtige immer neu erheben wollen und müssen. Die gegebenen Autoren reichen
uns nicht aus. Wir versündigen uns an keinem Bilderverbot mehr, wenn wir die
Gabe denken; wir brauchen ihr nicht zu entfliehen. Doch wie geht es sich zu der
Lichtung, auf der sich die Gabe-gegen-Gabe ergibt? Gabe ist im Ersten und
Letzten Glück, Jouissance und Chance. Gabe ereignet das Glück und setzt die
Möglichkeit der Chance in der Gabe-gegen-Gabe frei. Sie ist das Fallen in der
Kadenz, der Zufall in jeder Abfolge. Die denkbare Gabe gibt uns den Weg zu einer
Lichtung frei, wo wir die Chance haben, den Wald des Daseins zu hinterfragen.
Sie setzt das Denken in Gang, denn sie gibt uns zu denken: Gabe gibt Denken. Das
Glück ereignet sich schon auf dieser unfassbaren Ebene, vom »Sein des Seienden«.
Gibt es eine heiterere (glänzendere, klarere und frohgemutere) Seinsauffassung
und Lebenseinstellung als diese?
Anne Dippel