Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik




Die menschliche Komödie
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Zum 5-jährigen Bestehen ist
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in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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Donner Présent

Auf den Spuren des philosophischen Tricksters Jacques Derrida

Ein Essay von Anne Dippel


I.
Was könnte eine Interpretation Jacques Derridas Überlegungen zur Gabe besser einleiten, als eine Anekdote? A-nek-doton, das Nicht-heraus-gegebene, gibt eine bemerkenswerte, darüber hinaus charakteristische Begebenheit aus dem Leben seiner Person preis. Der deutsche Medientheoretiker Friedrich Kittler erzählte sie mir vor längerer Zeit. Er und der französische Philosoph Jacques Derrida, in freundschaftlichem Verhältnis verbunden, fuhren eines Nachts gemeinsam in einem Taxi. Kittler fragte ihn: »Jacques, mon ami, warum haben Sie Heidegger nie abgelehnt?« Da erzählte ihm Derrida, dass er als Kind in Algerien, während der Herrschaft des Vichy-Regimes den Rassegesetzen unterworfen gewesen und die Schule verlassen musste, dass er sich in diesen Jahren einer Bande von Jugendlichen anschloss, die Autos knackte, sowie andere kleinkriminelle Taten verübte, anstatt die jüdische Schule zu besuchen; dass er auch nach der Befreiung Algeriens durch die Amerikaner weiterhin den Rassegesetzen unterstanden hätte, bis zum endgültigen Zusammenbruch Vichys. Für ihn war der Antisemitismus und Heideggers Liebäugelei mit totalitären Systemen ein zeitgenössisches Problem Mitteleuropas. Sie stellten keinen Grund, sich dem Denken eines Philosophen zu entziehen. Darin liegt geistige Größe; aber auch vielleicht eine gewisse sephardische Distanz zu der großen Tragödie europäischer Ashkenazim (und jener tragischen sephardischen Juden Thessalonikis).
In jener Nacht erfuhr der deutsche Denker auch noch ein weiteres Detail aus Derridas Leben. Er sei zum Vegetarier geworden; denn das einzige Speisegesetz, das die großen monotheistischen Religionen, wie auch den antiken Götterhimmel miteinander verbinde, sei die Erlaubnis, Fleisch zu essen. Nur wenige Jahre später, 2004, verstarb Derrida nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren.

Mathematikern und Logikern muss das Denken Derridas schon immer an Schärfe gemangelt und mit schönschmückendem Talmi über und über behängt, durch Taschenspielereien und Tricks herbeigezaubert erscheinen. So ist bekannt, dass sich 18 Professoren der Fakultät in Cambridge seinerzeit gegen die Verleihung einer Ehrendoktorwürde stellten, in ihrer Petition rückten sie Derridas Denken dem Dadaismus nahe. Aber müssten wir diesen Vorwurf nicht auch auf andere französische Wissenschaftler ausweiten? Haben nicht Foucault, Deleuze, sogar der strenge Strukturalist Claude Lévi-Strauss von den geistigen und künstlerischen Eskapaden des Dadaismus André Bretons, des Surrealismus Georges Batailles große Impulse für ihr tiefes Denken erhalten? Eine Anthropologie ohne Anthropozentrismus, eine Ethnologie ohne europäischen Ethnozentrismus, eine Kritik an der Kulturgebundenheit von Menschenrechten, das Aufkommen egalitärer Bildungskonzepte – all dies verdanken wir auch den fruchtbaren Dialogen zwischen Dichten und Denken, Kunst und Wissenschaft, die in obskuren Zirkeln wie Acéphale in kleinen linksradikalen Blättern und großen Salons Pariser Prominenz wie dem Gertrude Steins und ihrer Freundin Alice B. Toklas zum Beispiel stattfanden. War es nicht notwendig, dass sich endlich der Zweifel an allem Absoluten und die Zerstörung idealer und fester Normen in die konservierten und konservierenden Philosophie und Geisteswissenschaften einschrieb? Brauchte es nicht einen Bruch mit klassischen Korsetten des DenkensLiebensLebens, die sich mehr und mehr versteift hatten, die politisch pervertiert waren und zwangsneurotisiert in totalitäre Gesellschaftssysteme mündeten unter denen doch Millionen in den Jahren 1914-1945 erbärmlich verstarben? Werfen die Kritiker an Derrida sich selbst nicht neiderfüllt vor, weniger Frechheit und Wagemut besessen zu haben, weil ihnen der Boden nie unter den Füßen weggezogen wurde?

Jacques Derrida hat sich immer an den Stil des französischen Essays gehalten. Kritik an dem System seines Schreibens, an mangelnder Klarheit, an der von Fußnoten ungesäumten Straße seines Denkens, sollte wenn überhaupt an das französische Essaysystem der Universitäten gerichtet werden. Dort schreibt man – für deutsche Studenten sicher eine Seltenheit – in vierstündigen, anonymisierten Klausuren, Essays mit klarer dreifaltiger Gliederung. Zitate sind Erinnerungen, Verweise, Impulse, keine Autoritäten und Kritikschutzmauern. Und doch ist es nicht falsch, was die Professoren erkannt haben, ja, Jacques Derrida spielt mit Tricks und beherrscht alle geistigen Taschenspiele, die in der postabsolutistischen Zeit mit ihren verweltlichten Formen des Esprits frei umherschwirren. Doch Derrida ist kein skrupelloser Betrüger, er ist ein Trickster. Skrupellose, von Zweifel und Recht befreite Betrüger wandern ins Gefängnis der Gerechtigkeit, die Nachwelt zuletzt wird sie in tiefste Kerker verbannen (oder freilich daraus befreien, wenn die Zeitfahnen der Macht wieder in eine andere Richtung wehen). Der Trickster indes ist ein Schelm. In ihm vereinen sich Ambivalenzen, er ist Umkehrer einer Situation, Überbringer von Nachrichten, fähig die Gestalt zu wandeln, Lévi-Strauss nannte ihn Bricoleur, Bastler. Hermes ist der griechische Trickstergott per se. Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway erklärt, dass Interpetierende von Zeichen immer schon auf ontologische Weise schmutzig wären, sie seien aus notdürftig geäußerten, zeitlich zerstreuten und räumlich vernetzten Akteuren und Aktanten zusammengesetzt; gleich Cyborgs sind Trickster heterogen und immer anzuzweifeln. Und der französische Denker Michel Serres baut seine ganze Theorie über die Position des Philosophen auf der Position des Parasiten auf. Gleich einer Ratte, die aus dem Loch heraus die Lage beobachtet und sich das beste Stück Käse in einem unbemerkten Augenblick zu schnappen weiß, streift der Denker durch die Dichte des Daseins. So etwas gefällt Scholastikern nie.


II.
Jacques Derridas Essay »Falschgeld. Zeit geben I« von 1993 ist eine Meditation über das Verhältnis von Gabe und Gegenwart, das seinen Weg des Denkens von Heideggers Verhältnis zwischen Sein und Zeit über Marcel Mauss’ Essai über die Gabe hin zur Lektüre Baudelaires Erzählung »Falschgeld« beschreitet. Wie in allen großen Gedanken Derridas, liegt im Spiel mit der Sprache der Schlüssel zum Verständnis seines Vorhabens verborgen. Den semantischen und phonetischen Mehrdeutigkeiten des Französischen folgend, gelangt er zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Heidegger. Es lichten sich erneut die Fragen nach Ereignis, Sein und Zeit, sowie Seiendem und Jetzt, indes von einem anderen sprachlichen Horizont her. Einigen dieser Fragen soll im Folgenden nachgespürt werden.
In seinem Freiburger Vortrag »Zeit und Sein« vom 31. Januar 1962, Kontrapunkt zu jenem bahnbrechenden Werk »Sein und Zeit« von 1926, macht Heidegger das unbestimmte Es, das Sein und Zeit gibt, zu schaffen. Es lässt ihn an der Grenze der Erkenntnis auflaufen: die Sprache bereitet ihm eine Beule; denn wie Wittgenstein sagte: jede Erkenntnis ist eine Beule, die wir uns vom Anrennen gegen die Grenzen der Sprache geholt haben:

»So bleibt das Es weiterhin unbestimmt, rätselhaft, und wir selber bleiben ratlos. In solchem Falle ist es ratsam, das Es, das gibt, aus dem bereits gekennzeichneten Geben her zu bestimmen. Dieses zeigte sich als Schicken von Sein, als Zeit im Sinne des lichtenden Reichens. Oder sind wir jetzt nur deshalb ratlos, weil wir uns von der Sprache, genauer gesprochen, von der grammatischen Auslegung der Sprache in die Irre führen lassen, aus welcher Irre wir auf ein Es starren, das geben soll, das es aber selbst gerade nicht gibt? Sagen wir: Es gibt Sein, Es gibt Zeit, dann sprechen wir Sätze aus. Nach der Grammatik besteht ein Satz aus Subjekt und Prädikat. Das Satzsubjekt muß nicht notwendig ein Subjekt im Sinne eines Ich und einer Person sein. Die Grammatik und Logik fassen daher die Es-Sätze als Impersonalien und als subjektlose Sätze. In anderen indogermanischen Sprachen, im Griechischen und im Lateinischen, fehlt das Es, wenigstens als besonderes Wort und Lautgebilde, was gleichwohl nicht besagt, daß das im Es Gemeinte nicht mitgedacht werde: im lateinischen pluit, es regnet; im griechischen
χρή,, es tut not« (ZuS 9).
Dieses indoeuropäische Sprach- und somit Erkenntnisproblem des »Es Gibt« beschäftigt nun Derrida, er geht es aber von einer Handlung her an, dem Geben von Geschenken. Ihm hilft dabei die französische Sprache: Donner présent – Geben von Geschenken? Das Wort présent führt den Denkenden an eine Gabelung, die ihn/sie entweder an die See und ins Gebirge des Seins oder auf die Felder, in die Bergwerke und Städte des Seienden bringen. Denn présent heißt sowohl Gegenwart; Heute; Jetzt – als auch Geschenk. Es kündet vom Anwesenden; es kündet vom ökonomischen Zirkel des Tauschs. So lernen wir durch Derrida mehr über die Differenz von Zeit und Sein im Hinblick auf die diskrete Zeit der Ökonomie. In seinem Essay liest Derrida Heidegger und Mauss gegeneinander und zeigt auf, dass (es) einzig Zeit G/geben kann, die Gabe ein Ereignis als Entzug darstellt. Wir wollen begreifen, doch im nächsten Augenblick ist der Augenblick vom Augenblick vertrieben und Teil der dauernden Vergangenheit, der Erinnerung und ihrer gegenwartsverfallenen Auswahl anheim gefallen. Mauss’ Schlussfolgerungen zum großen Potlatsch hingegen, jener magischen, von Franz Boas als »Schulden machen – Schulden begleichen« beschriebenen, Verschwendung und Verausgabung einschließenden Tauschring nordamerikanischer und pazifischer Gesellschaften, beruhen für Derrida auf einer ungenauen Terminologie. Marcel Mauss mangele es an Reflexion der ontologischen Dimension der Gabe, er sei von dem ökonomischen Zirkel des do ut des und seiner sowohl beseelenden, als auch vergiftenden Seite durch den von Händen zu Händen wandernden Gegenstand blind geworden für den Umstand, dass die Gabe selbst unmöglich sei, obwohl sie denkbar bleibt. Die Gabe ist unmöglich, da sie sich a priori in der Konstitution des Kreislaufs von Schuld und Ökonomie auslöscht.
So ist »La fausse monnaie/ Donner le temps I« zuerst eine Meditation in cartesischer Tradition über die Gabe und ihrem Verhältnis zu Sein und Zeit. Madame de Maintenon schreibt ihrer Briefpartnerin Madame Brinon: »Le roi prend tout mon temps; je donne le reste à Saint-Cyr, à qui je voudrais le tout donner.« (Der König nimmt mir meine ganze Zeit; den Rest gebe ich Saint-Cyr und wie gern wollte ich sie Saint-Cyr doch ganz geben.« (FG 9)) Und Jacques Derrida deterritorialisiert diese Klage, macht die Mätresse zur main-tenant, zu einer, die in den Händen hält, zum jetzt, er reißt ihren Satz aus dem Kontext der Korrespondenz und führt ihn in das Reichen der Gabe. Freilich meditiert Derrida nicht bloß über die Gabe, die die Zirkulation jeden Tauschs abrupt beendet. Er vollführt mit seiner Sprache ein ganz heideggersches Lauschen, er folgt den Winken des Französischen auf dem Weg, den Heidegger schriftlich vorgezeichnet hat (z.B. raison – Recht haben und raisonner - denken rechnen und ratio und Vernunft (FG 198/199)). – donner présent – die Gegenwart und die Gabe als Geschenk, geben sich im selben Wort die Hand und öffnen so einen Slot, der zwischen Ontischem und Ontologischem, Metaphysik und Physik, zwischen Seinsgeschick und Welt der Seienden hin- und herspringen lässt. Sein présent ist wie jener Spielstein, der im Spielzug der Mühle die Zwickmühle erbarmungslos ereignet: Ein entsprechender Zug in die gegensinnige Richtung schließt die vorher geöffnete Mühle. In Oberschwaben nennt man diese Situation bezeichnenderweise »Fickmühle«, was auf die alte Etymologie des Wortes verweist, dem schnellen hin- und herbewegen des Schmieds, der die Oberfläche des geschmiedeten Schwertes glättet. Gilles Deleuze und Felix Guattari umschreiben solche Wörter mit dem bildhaften Begriff »Kofferwort«. Die phonetische Hülle geöffnet, gibt sich eine semantische und etymologische Vielfalt zu sehen, einem Inventar kultureller Bedeutungen und Vernetzungen gleich. An der Zwickmühle présent lässt sich der erste Trick zum Verständnis Derridas begreifen. Ein Wort, jenes Objekt=x, die leere Stelle, die die Bewegung der Verschiebung ausmacht und das Loch öffnet, in den der Phallos des Wissens, hier Jacques Derridas hineinstoßen kann. In gleicher weise verfährt Derrida mit der phonetischen und grammatischen Differenz der Wörter und öffnet das Spiel zwischen Raum und Zeit, Bewegung und Stillstand, wie in seiner Unterscheidung von Differenz und différance als Prozess der Differenz.

In Falschgeld ist Derrida der Bewegung des Heideggerschen Denkens ganz verpflichtet: es gelte »den Kreisgang (zu) vollziehen, im Kreis kreisen, um dort ein Fest des Denkens zu feiern, dem die Gabe, die Gabe des Denkens durch aus nicht fremd wäre« (FG 19). Denken ist ein Weg und diese Frage und das Gehen des Heideggerschen Wegs, schreibt Derrida, sind zugleich auch ein einzigartiges Denken des Vergessens (FG 31). Und so wie Heidegger dem Verschwinden und Haben der Zeit, das jedes Ding hat und den Menschen ereignet, nachspürt, zeigt uns Derrida, dass Zeit nichts zu sehen gibt und sich der Sichtbarkeit entzieht, Zeit aus wesentlichem Verschwinden besteht, aber alles Erscheinen Zeit in Anspruch nimmt (FG 15). So gehorche jene Zeit dem Rhythmus von Tag und Nacht, dem ersten Maß der Zeit, vor jedem mechanischen Uhrwerk, vor den Gezeiten und Jahreszeiten. Es ist die Zeit, die sich zeigt, wenn wir vergessen, dass wir sind.

Die vier Dimensionen der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und der Prozess des Reichens, den Heidegger aus dem »Es gibt« löst, kann als ein Spiel der Vier bezeichnet werden. Derrida erzählt vom Quartett. Wohl kaum ein anderes Spiel als das im deutschsprachigen Raum verbreitete Skat, lässt die Vierdimensionalität der Zeit als Simulakrum, als Verdoppelung erfahrbar werden. Doch ist es ähnlich wie mit Zeit und Sein, im Spiel vergisst man sich. Würde nicht das Ende eines Spiels gezählt werden, wie oft vergäße man »wer gibt«. Welcher Skatspieler hat diese Frage einmal nicht gestellt, »Wer gibt?«, ja und meistens ist es der, der fragt: Seinsvergessenheit. Da gibt es also drei Spielpartner, aneinander im Reizen, einem Potlatsch gebunden (»18?« »Ja.« »Weg.« – »Ich höre mehr?« »20.« »Ja.« »’2?« »Ja.« »’3?« »Ja.« »’4?« »Passe.« »Ich spiele Herz, solo.« – »... Herzlich lieben die Mädchen.«). Drei, selbstverständlich mehr als zwei, sind durch die zirkulierende Trias geben – hören – sagen zu einem Tauschring zusammengeschlossen. Im Uhrzeigersinn ist es an einem jeweils zu Geben, gegen den Uhrzeigersinn entscheidet der vorherige über die Zuteilung, das Gesetz der Moira. Er darf abheben oder klopfen, er richtet das letzte Mal vor der Gabe der Karten ihre Anordnung aus. Es kann im Spiel den »vierten Mann« geben, die Figur, die aussetzt und stattdessen als Kiebitz einem Spieler in die Karten schaut. Denn der Geber ist in seiner Position nicht fixiert, es gibt immer ein anderer. Es muss den anderen geben. Es wird um die beiden Karten im Skat gereizt, der Wagemutige darf zwei seiner Karten austauschen, aber es ist auch sein Spiel: auf Gedeih und Verderb. Der Skat: Gewinn des Reizens auf dessen Wert man nie reizen sollte (Aberglaube, Spielerfahrung; Überreizen, Handspiel) gleicht der leeren Stelle des strukturalistischen Spiels, ist er frei flottierender Signifikant, möglicher Pivot. Rausch des Reizens (Herzklopfen, Wagnis) und Überreizens (Bluff und Enttäuschung); Siegen oder Verlieren als changieren zwischen Chance und Fortune; Diplomatie und Mesalliance zwischen den abhängigen Konstellationen des 2 zu 1 in wertvollen Farbspielen oder verlegenen Nullspielen; eine verzweifelte Verausgabung alles zu Verlieren oder alles zu gewinnen (Durchmarsch) im alle-gegen-alle des Ramsch; Methoden von Blockieren, Taktieren und Manipulieren, sie alle tragen zur Seinsvergessenheit des Spielers bei und offenbaren dem Kiebitz zeitgleich die metaphysische und physische Ebene des Skat. Skat symbolisiert wundersam das Spiel im Strukturalismus und das Spiel von Zeit und Sein. Die Tenarität und die Gabe als vierte Einheit manifestieren sich im ABC an die es die Karten jeweils gibt.

a.
Auf dieser Grundlage lassen sich (durch die Hilfe von Derrida, Heidegger, Mauss, Lévi-Strauss und Bataille) Axiome der Gabe extrahieren:
Das erste Axiom der Gabe als Ereignis heißt, die Gabe braucht eine ternäre Struktur, d.h. eine dreiwertige Logik. Darin unterscheidet sich Derridas Argumentation von Batailles Überlegungen in La part maudite, den die direkte und indirekte Agonalität jeglichen dualen Verhältnisses und seiner Herr-Knecht-Dialektik mehr interessiert. A – B – C, Geben – Hören – Sagen: Reichen. Gabe (Sein/Zeit) – Geber (Zeit/Sein) – Gabenempfänger (Sein des Seienden) sie brauchen das wollen, wünschen, beabsichtigen der Intention zu geben: die Lust zu spielen. Gabe-gegen-Gabe löst darauhin einen Tauschring aus, dessen offensichtliches Merkmal die Verzögerung ist: Dem Ding ist die différance als Termin eingeschrieben, nur so entsteht ein Kreislauf, Gabe-gegen-Gabe erfordern eine Zeit dazwischen. Diese Zeit des Dazwischen, zwischen Gabe und Gegengabe der Gabe ohne Gegenwart, ist die différance, der Aufschub, die den Termin der Rückgabe im Vorhinein veranschlagt (FG 57).
»Damit es Gabe, ein Gabenereignis gibt, muß irgend »einer« irgend »etwas« (quelque chose (irgendein »Ding«)) irgend einem anderen geben, ansonsten bleibt »geben« bedeutungslos, sagt nichts.« (FG 22) Aber die Gabe ist unmöglich denn Einer und Ding kündigen eine Störung (perturbation) in der Tautologie der Gabe an, »der es nie genug ist, zu geben oder sich zu geben, sondern die immer irgend etwas (anderes) irgendeinem (anderen) geben muß« (FG 22).
Die Zeit annuliert die Gabe – das Ereignis verschwindet mit der Zeit; denn die Zeit lässt das Ereignis erscheinen und verschwinden: »Die Bedingungen der Möglichkeit ergeben (produire) oder definieren die Annullierung, die Vernichtung, die Zerstörung der Gabe« (FG 24). Diese Bedingungen verweisen wieder auf die 4. Dimension, das Weiterreichens der Zeit.
Die Gabe gehört der gleichen Struktur wie Sein und Zeit an, sie umschreibt den Sachverhalt des Reichens und Öffnens des Zeit-Raums ((FG 32), Vergleiche Heidegger, Zeit und Sein)
So kann es Gabe nur geben, wenn es keine Reziprozität gibt, keine
Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld – Falschgeld, Falsches als Wahres durchgehen lassen, und Almosen, Kaufhandel mit den Göttern, gemahnen an die Gabe. Sie nicht bewusst einzusetzen verletzt das »hau« des Almosens/Falschgelds, die Chancen, die sich hinter dieser Gabe verbergen, Dann wird die Gabe zum Gift für den Geber. Dann macht sich der Geber oder Nehmer an der Gabe schuldig. Das sei der Inbegriff von Dummheit, einem relationalen Verhalten, sich der natürlichen Schuld (die jedem durch das Es gibt eignet) zum Geben verpflichtet zu fühlen (FG 215).
Die Gabe stiftet den Bezug zwischen Denken und Erkennen, zwischen Noumenalem und Phänomenalem. Zeit geben: die Struktur der Logik entspricht hier der transzendentalen Dialektik Kants: Erkennen heißt Sinn und Wissen – wisse zu geben. Denken eröffnet die Einsicht in das Verhältnis von Geben und Sein durch den Sachverhalt, der différance Gabe-gegen-Gabe (FG 45). Das ist der Don sans present: »Zur selben Zeit, jetzt, denken wir das Unmögliche, und ‚zur selben Zeit’ ist das Unmögliche« (FG 49). Wir begreifen so die Gleichzeitigkeit zweier Zeitweisen und -wahrnehmungen: Zirkel und Linie und Dauer und Anwesenheit: Die Gabe und Gegengabe, lässt die doppelte Bindung, double-bind des »Es gibt« denken. Ein anderes Bild für jene zwanghafte scheinparadoxe Botschaft der Gabe ist die Zwickmühle.
Der Essai von Mauss spricht über alles mögliche, nur nicht über die Gabe schlussfolgert Derrida. Er handle von Öknomie, Tausch und Vertrag (do ut des), dem Spiel des Überbietens im Potlatsch; vom Kula-Ring ; von Opfer, Almosen und einer möglichen besseren Welt. Gabe und Gegengabe, alles war zur Sache drängt findet hier sich im Falschen Wort »Gabe« versammelt; indes die Gabe selbst wird durch all jene Prozesse anulliert, es sind Prozesse der Verbindung, des Bindens (bind), nicht der Doppelbindung (double-bind). Erst das Französische donner présent entbirgt und beweist zugleich Heideggers Auflösung für die Frage nach dem Es gibt. Auf demselben Geheimnis gründet auch der Zauber der Literatur.

b.
Die Gegenwart des Präsent/présent ist nicht als Jetzt denkbar: Mit Sein und Zeit beginnt dieser Gedanke, dieses Spiel seinen schönen Tanz. Man macht mit der Gabe présent. Denn wir wissen ja schon, dass wir Zeitlich sind, wir vernehmen das Sein und wissen um unser Ende (Entelechia). Und deshalb ist die Gabe unmöglich, aber denkbar. Durch die Sprache. So wird in einem weiteren Beweis präsent, dass Denken zum Sein führt. Denken bewegt sich im Haus des Seins, in der Sprache selbst. Im Verlauf seines Aufsatzes gelingt es Derrida von der Doppeldeutigkeit des présent aus den Lesenden so auf Heideggers Weg des Denkens zu führen. Dieses Unterfangen zwingt ihn, Marcel Mauss Ungenauigkeiten in dessen rationaler Beweisführung aufzuzeigen. Und es drängt sich die Frage auf, wenn Marcel Mauss ins Feld gegangen wäre und selbständig eine Forschung aufgebaut hätte, wenn er nicht bloß am Schreibtisch gesessen und alles enzyklopädischem Wissen zugrunde gelegt hätte, wäre ihm die Verwechslung von Tausch und Gabe nicht unterlaufen, die seinem empirizistisch-hermeneutischen Vergleich zum Vorwurf gemacht werden kann?

Die Ökonomie, die Derrida indes in Augenschein nimmt, ist nicht bloß die des Gesetzes der Verteilung, Verausgabung und Gabe-gegen-Gabe, sondern auch die des Gesetzes der Zuteilung, der Moira oder Schickung. Moira war den Griechen der gegebene oder zugewiesene Teils eines jeden Oikos der Polis, er glich dem Feuer im Innern, das dem Philosophen Gaston Bachelard Fragen zum Sein beantwortete. Derrida grenzt davon zwei Ökonomien ab: 1. die Ökonomie, die im nomischen tautologisch als solche existiert: Sobald es Gesetz gibt, gibt es Zuteilung (Bataille, Aristoteles, Mauss, Levi-Strauss) und 2. Die Ökonomie, die die Idee des Tauschs impliziert, der Zirkulation, der Rückkehr – in ihrem Zentrum steht die Figur des Kreises (Kula-Ring Malinowskis, Potlatsch Boas’). Die Gabe freilich unterbricht den Zirkel der Ökonomie. Denn die Gabe ist Teil des Bereichs von Sein und Zeit. Deshalb verweist Derrida dringlich darauf: »Die Gabe darf nicht zirkulieren, sie darf nicht getauscht werden, auf gar keinen Fall darf sie sich, als Gabe, verschleißen lassen im Prozess des Tausches, in der kreisförmigen Zirkulationsbewegung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt« (FG 17). So wie beim Skatspiel: Verschleißt die Gabe, gibt es Streit oder wird es langweilig. Das Spiel ist aus. Denn die Gabe gehört einem Zeitbereich an, der Teil der Anwesenheit ist, der eigentlichen Zeit, nichtlinearen Zeit, deren vierte Dimension ja das reichen von Gewesenheit zu Gegenwart zu Zukunft ist. Sie ist dem Kreis daher nicht fremd, aber muss ihm Fremdheit gegenüber bewahren. Sie ist nicht unmöglich zu denken, aber das Unmögliche, die Figur des Unmöglichen, weil sie verschwindet, wenn sie auftaucht: »Wer gibt?«. Die Gabe ist; ist nicht. Es lichtet sich, weshalb der Augenblick der Gabe nicht mehr zur Zeit gehören darf. Ganz so wie Erlebniszeit von Schreiben und Lesen im Verhältnis zur realen Zeit und Handlungszeit in Lyrik oder Prosa steht. Für den Leser oder Kritiker kann der Autor tot sein; der Schriftsteller aber im Prozess des Schreibens fühlt sich als Autor.

c.
Baudelaires Erzählung Falschgeld dient Derrida stellvertretend für die Literatur an sich. Literatur ist Falschgeld: immer lässt sie Falsches als Wahres durchgehen, immer nur lesen wir die Sicht des Erzählers. In Baudelaires Erzählung offenbaren sowohl die strukturelle Trias »Autor – Leser – Erzähler« (Geben – Hören – Sagen), als auch Inhalt und Aufbau der Erzählung selbst, die doppelte Aufgabe, zu der die Gabe verpflichtet: wisse zu geben, weil es dich gibt. Das Spiel mit transitiver und intransitiver Bedeutung, Passivischem, Medialem und Aktivischem von Verben ist ein zweiter Trick, den Derrida im Übrigen von einem großen Meister darin, Heidegger, gut erlernt hat (»Was heißt Denken?«; »Was gibt es?«).
Die Gabe ist der erste Beweger des Kreises der Ökonomie, des von Mauss so eindringlich beschriebenen zirkulären Vertrags von Gabe und Gegengabe, kurz Gabe-gegen-Gabe. Deshalb berührt sie auch die Welt der Schuld des Alten Testaments und der Erlösung, die das Neue Testament durch Kreuzestod und Abendmahl verspricht: »Das Symbolische stellt den Tausch allererst her, es eröffnet und konstituiert die Dimension des Tausches und der Schuld, mitsamt dem Gesetz oder dem Befehl der Zirkulation, in der die Gabe annuliert wird. Es genügt also, dass der andere die Gabe wahrnimmt...« (FG 24). Es genügt, dass der anderen nimmt, dass die Gabe verlischt. Sie dürfte nicht erscheinen. Erscheint sie aber, annuliert ihr Antlitz sie selbst als Gabe und verwandelt die Erscheinung in ein Simulakrum; ganz so wie Almosen das Simulakrum von Verschwendungsnotwendigkeit (Bataille) sind und die Geldgabe des Almosens von Baudelaires Falschgeld das Simulakrum der Gabe aufscheinen lässt.


III.
Nimmt der andere, nimmt der andere wahr, setzt der Zirkel der Ökonomie der Schuld ein: die Bindung und die Verpflichtung wird aufgenommen, eine Verschiebung findet statt. Die Bewahrung des Genommenen im Unbewussten und oder im Gedächtnis, öffnet Zeit der Rückgabe (Termin der différance) und des Gegebenen (Es gibt). Nur ein radikales Vergessen beiderseits, simultan, könnte diesen Tauschring von Gabe-gegen-Gabe zerstören. Verdrängung indes zerstört und annuliert nichts, sie bewahrt, indem sie verschiebt. Es manifestieren sich die Konsequenzen von Verdrängung und Tauschring der Schuldigkeit, die Erbarmungslosigkeit von Gabe-gegen-Gabe deutlich unentrinnbar in den von Schlussstrich und Restitution vergifteten und beseelten Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Ein radikales Vergessen, das kein Verdrängen ist, kann nur durch die Gabe zu denken sein. Damit es dieses absolute Vergessen gibt, muss es Gabe geben, nämlich Seinsvergessenheit. Spürbarer ist das radikale Vergessen nirgendwo deutlicher als in der Verausgabung der Liebe, im Moment des Orgasmus. Und nirgendwo sonst lässt sich das radikale Vergessen beiderseits, simultan eher erwarten, als in der Liebe und Lust zwischen Menschen, selbst wenn sie durch Geburt in zwei verfehdete Gemeinschaften auf die eine und andere Seite des Gebens und Nehmens geschickt wurden (Martin und Hannah, Romeo und Julia, Antigone und Haimon, Adam und Eva). Im Gegensatz zur alten Stetlweisheit kommen die Menschen nicht bloß aus Nemerova oder Geberova. Jemand, der vom Stamme Nimm ist, hat sich in ihn hineinbegeben.

Denken ist ein Weg und diese Frage und das Gehen des Heideggerschen Wegs, schreibt Derrida, sind zugleich auch ein einzigartiges Denken des Vergessens. »Und im Laufe dieser Bewegung begibt es sich, dass das Sein, das nicht ist, das kein Präsentes oder Seiendes ist, sich ankündigt im Ausgang von der Gabe« (FG 32). Wenn es Gabe gibt, kann sie sogar logischerweise nicht mehr zwischen Subjekten stattfinden, die Orte, Dinge, Symbole austauschen. – Es ist ja vor dem Subjektbezug, vor der Macht. Wie Heidegger sagt: »Es gibt hier kein Machen. Es gibt nur das Geben im Sinne des Genannten (à4 Zeiten), den Zeit-Raum lichtenden Reichens« (ZuS17). Wir bewegen uns somit außerhalb des Verhörs der Logik, außerhalb des dialektischen Diskurs und Denken im Bereich der Unmöglichkeit, im Bereich von Differenz und Wiederholung.
Deshalb ist »Es gibt« eine Gabe ohne Gegenwart, ein don sans présent und löst die Folie (Torheit, Wahnsinn, Spleen, Folie) der ökonomischen Vernunft aus: Diese Folie, bewusst gebrauche ich das alte Fremdwort, dieser Wahn ist nichts anderes als das Wissen-wollen. Es ist die Folie des philosophischen Begehrens, Wünschens und Erwartens (à Spielen wollen, Reichen) das alles in allem im Französischen ein Wort zusammenfügt: désir, im Deutschen aber fragmentiert bleiben muss: wünschen, begehren, erwarten, ersehnen. Edmond Jabès schrieb: »Il n’y a pas de pensée sans désir.« Ich will mir das nicht übersetzen, aber ich kann es denken; ich halte es sogar für wahr. Derrida meditiert über die Folie Gabe zu denken und bewundert die Folie des Schriftstellers Baudelaire, über Gabe zu dichten. Es ist eine Folie des Vergessens, denn die Gabe kann ja nur sein, wenn es sie gibt: die Gabe gibt es nur, wenn wir vergessen, dass es sie gibt. Das ist das radikale Vergessen auch.

a.
Derrida leitet die folie und das désir philosphique die Gabe des Seins zu denken, zu seinem eigenen Imperativ: »wisse zu geben« (FG 45). Aber er wäre nicht der Trickster, ginge es ihm dabei bloß um das Geben und nicht auch um das Bekommen. Ihm geht es freilich auch darum, »sich zu geben wissen, was immer es auch sei« (FG 218). Ständig auf der Suche nach dem Syn, dem Zusammenfügen zweier Prozesse folgt er der Fuge (FG 55), dem Hau (der maorischen »Seele«, die einer Gabe innewohnt) ohne Gegengabe (Objekt = x; leere Stelle) (FG 101), öffnet Kofferworte, verbindet Leerstellen mit Phalloi, die in die Serie des ontischen oder ontologischen einbrechen. So lauscht Derrida der französischen Sprache, zieht dem rendre du service alle Alltäglichkeit fort und entdeckt aus diesen Differenzen wieder die différance, jenen von Heidegger im Gegensatz dazu stillgestellten Sachverhalt. Sein dekonstruierender Prozess führt zu dem hin und erfüllt das Programm, das Heidegger durch das Konzept Destruktion gebar:
»Die Folge der Epochen im Geschick von Sein ist weder zufällig, noch läßt sie sich als notwendig errechnen. Gleichwohl bekundet sich das Schickliche im Geschick, das Ge-hörige im Zusammengehören der Epochen. Diese überdecken sich in ihrer Folge, so daß die anfängliche Schickung von Sein als Anwesenheit auf verschiedene Weise mehr und mehr verdeckt wird. Nur der Abbau dieser Verdeckungen - dies meint die »De-struktion« - verschafft dem Denken einen vorläufigen Einblick in das, was sich dann als das Seins-Geschick enthüllt. Weil man überall das Seins-Geschick nur als Geschichte und dieses als Geschehen vorstellt, versucht man vergeblich, dieses Geschehen aus dem zu deuten, was in »Sein und Zeit« über die Geschichtlichkeit des Daseins (nicht des Seins) gesagt ist. Dagegen bleibt der einzig mögliche Weg, schon von »Sein und Zeit« her den späteren Gedanken über das Seins-Geschick vorzudenken, das Durchdenken dessen, was in »Sein und Zeit« über die Destruktion der ontologischen Lehre vom Sein des Seienden dargelegt wird« (ZuS 9).
Es zeigt sich hier nicht bloß die semantische Verwandtschaft der Methode der Dekonstruktion Derridas mit Heideggers Projekt der Destruktion. Derrida geht es um die Verpflichtung zu Denken und das gibt uns, die wir ihn lesen zu Denken. Wir Leser, wir erinnern uns, dass wir Vergessen; und sind.
Ausgehend von dieser Stelle in Heideggers Destruktion überspringe ich vieles und möchte den letzten Gedanken, der sich aus der Lektüre von Falschgeld ergibt, abschließend erläutern. Der Zauber der Literatur beruht auf dem Geheimnis der doppelten Bindung des donner présent. Falschgeld lässt Falsches als Wahres durchgehen. Literatur ist Falschgeld (FG 196), behauptet Derrida, das ist das Geheimnis um die Literatur und zugleich ihre Möglichkeit – aber ich behaupte, auch das Geheimnis der Philosophie Derridas und Heideggers (man betrachte Heideggers selbstgesponnene Sprachmanipulationen auf dem Weg des Denkens, das Zweiergespräch von selbstgestellter Frage und sprachzentrierter Antwort, dem man geduldig Wort für Wort folgen muss, dem Lauschen der Sprache niemals abhold, usf.).

b.
Derrida kritisiert die Ungenauigkeit Mauss – der zwischen »es gibt« und »es existiert« nicht unterscheidet, Tausch und Gabe vermengt, er hält es ihm vor, denn er hält diese Fragen auch für Anthropologen notwendig, die sich ihrer auch heute leider entziehen. Aber aus diesen Differenzen quellt seine Erkenntnis hervor (Zum Glück stellen die Anthropologen und Ethnologen sich der Ästhetik nicht. So bleibt der Philosophie zu Denken. Was würde es da nicht alles zu erkennen geben. Aber in Zeiten der Scholastik, in Zeiten der Starrheit verwüstet von rationalistischen Siegeszügen und empirizistischer Mathematisierung des Denkens in allen berechnenden und berechenbaren Formen, braucht man keine Fragen dieser Art. Die Gelder, Subventionen, fließen nur so, sie fließen nur dann, denn dieses Wissen ist verwertbar, stillt nichts und stellt nichts in Frage. Das kapitalistische Spiel von Angebot und Nachfrage, von i can’t get no satisfaction wird bis in den Crash hinein fortgeführt – und selbst dann lernen wir nichts daraus und werfen keine Fragen auf. So bleibt die Anthropologie der Macht und ihren Wünschen treu, stellt keine Fragen, beobachtet nur, flieht vor der Hermeneutik und biedert sich meistens taub und blind beschreibend den Sozialwissenschaften und ihren Beweisbarkeitsphantasmen an, allesamt geboren aus einem Komplex gegenüber den mächtigen siegeswütigen Naturwissenschaften.).
Er kritisiert die lexikalisch-etymolgischen Manöver Mauss’ und vollzieht sie selber konsequent, um die beiden Zeiten der Gabe des Seins und der Gabe-gegen-Gabe denken zu können, Zirkel und Differenz. Donner présent, ein Wortspiel voll Esprit, ein Wortspiel, das schon zu absolutistischen Zeiten des Sonnenkönigs am Hofe von Versailles verkehrt haben muss, denn auch die Maintenon ist nicht von Derrida zum ersten Mal als Maintenant bezeichnet worden. Schon ihre Gegner, denen der ständig wachsende Einfluss der hugenottischen Konvertitin (= glühende Katholikin) unheimlich war, nannten sie gerne Madame de Maintenant und dachten sie dabei als die Neue von Heute.

J. D. macht mit seinem Denken Falschgeld, er nimmt die Chance, die ihm die Sprache mit ihren Vieldeutigkeiten, ihrer fehlenden Eindeutigkeit, ihrem Scheinen als etwas, das es doch nicht ist wahr und verwandelt sie in bare Münze, schreibt Essay über Essay und hat Erfolg. J. D. muss Falsches, Irrwege der Sprache als Wahres durchgehen lassen, und verlässt so den Zirkel der Ökonomie, um das Reich der Ontologie zu betreten, diese Verschiebung aber gibt ihm Kredit im wissenschaftlichen System. Wir Leser bringen ihm, J. D., crédit entgegen (Kredit, Glaube, Glaubwürdigkeit (FG 129)) und folgen dem Ereignis seines philosophischen Textes wie er dem literarischen Text folgt. Denn sein Text ist, wie der Baudelaires, Falschgeld, »ein Stück, möglicherweise ein falsches Geldstück, nämlich eine Maschine, um Ereignisse zu bewirken: Zunächst das Ereignis des Textes ...« (FG 128). Es ist eine Maschine, die einen 3., den Leser, braucht: Geben – Hören – Sagen. Kein Falschgeld ohne crédit. Der israelische Schriftsteller Amos Elon beschreibt eindrücklich die Verwirrung, deutscher Ohren im Umgang mit solchen französischen Raffinessen:
»An Heines Gymnasium wurde nun selbst deutsche Geschichte auf französisch unterrichtet (nach dem Einzug napoleonischer Truppen um 1811) – vom Abbé d’Aulnoi, einem Emigranten und Autor mehrerer Französisch-Grammatiken, der eine rote Perücke trug. Philosophie unterrichtete ein katholischer Priester, der werktags in der Schule ein Freidenker war und sonntags in der Kirche die Messe las. Heine bekam bald Schwierigkeiten mit la réligion. Mindestens sechsmal musste der Abbé fragen: »Henri, wie heißt der Glaube auf französisch?« Heine antwortet jedes Mal, zunehmend verzweifelt: »le crédit«, bis der Abbé wütend »Es heißt la réligion!« rief und Heine unter dem Gelächter seiner Kameraden eine Tracht Prügel verabreichte. Seit diesem Tag, schrieb Heine, »kann ich das Wort Religion nicht erwähnen hören, ohne dass mein Rücken blaß vor Schrecken und meine Wange rot vor Scham wird. Und ehrlich gestanden, le crédit hat mir im Leben mehr genützt als la réligion« (ZaZ 97).

Immer geht es um Glauben, Kredit und Wissen – und alles spielt sich für den Erzähler, immer nur für den Erzähler ab. »Man gibt niemals echtes Geld, das heißt ein Geldstück, dessen Auswirkungen man angeblich berechnen kann, mit dem man rechnen kann und im voraus die Ereignisse erzählen, die man sich daraus errechnet. Es sei denn, dass dieser Gegensatz von echtem und falschem Geld hier seine Relevanz verliert – und das wäre eine der Beweisführungen dieser literarischen Erfahrung, dieser Sprache als immer auch möglichen Falschgelds« (FG 201). Die Sprache selbst – wie zu Beginn schon von Heidegger durch seine Grenzerfahrung am »Es gibt« aufgezeigt, ist immer auch mögliches Falschgeld. Derrida ist dem Trugschluss seines Wortspiels auf die Schliche gekommen, aber anstatt es als Irrweg zu verwerfen, baut er es in eine produktive Erkenntnis, in eine Maschine, die Denkereignisse bewirkt, um. So ist Dekonstruktion in ihrem Prozess immer eine konstruktive Bewegung.

Ein Wortspiel heißt zuweisen, an-nehmen und wahr-nehmen von Gegebenem. Derridas Denken bleibt eine linguistische Auseinandersetzung mit dem Topos Gabe, der Tradition Saussures und Lévi-Strauss folgend. Sie lassen selbst Unübersetzbares hindurchscheinen. Georges Batailles Verausgabungen, die der Kopflosigkeit entspringen (in diesem Aufsatz leider zu kurz kommen mussten) und Heideggers gebender Sachverhalt von Zeit und Sein legen die Grundlage für Jacques Derridas sinnreiche Argumentationen voll Esprit, Charme und Witz. Am klaffenden Graben zwischen Ethik, die Profit als Gabe auch enthält, und Ästhetik, die interesseloses Wohlgefallen oft bloß aufscheinen lässt, koppelt sich der Idealismus eines doppelten Gabe-Denkens aus dem Ökonomischen aus. Jacques Derridas Dekonstruktion gleicht den Erfahrungen seiner Kindheit, er knackte Autos und Texte. Sein Denken ist kein statisches Destruieren, sondern bleibt der Bewegung treu. Derrida bleibt ein mythenbildender Trickster, er bleibt seiner Jugend und ihren Sünden selbst in den Wortbewegungen seines Denkens treu.

c.
Jean Starobinski schrieb einmal: »Der Mensch ist jenes eigentümliche Wesen, das es liebt, sich hinter Masken zu verstecken, und beständig den Reiz des Verborgenen beschwört... Immer bleibt der Traum von der Tiefe bestehen...« (PuL 80). In Falschgeld zeigt Derrida seine Seite als Trickster-Philosoph, er bezeichnet die Literatur, aber gibt sich selbst zu sehen. Er ist ein Denker, der mit den Augen zwinkern kann, der nur beim Augenzwinkern über seinen Phallos, dem Beschnittenen (circumcision), allen Spaß verliert. Ansonsten aber bleibt er dem System der Halunkereien seiner erzwungenen kleinen Jugendsünden auch in seinem Denken fröhlich treu. Das darf er, denn er ist ein Mann, der die Institutionalisierung der Literatur versteht, der die zweifache Gabe und Begabung des Erzählens und des Denkens besitzt. Er weiß sich zu geben; er weiß zu geben, weil es ihn gibt. Wir müssten seine Talente vermissen, ohne genau zu wissen was, wenn er sie sinnlos vergeudet hätte.

Es gibt uns Heutigen nichts mehr, nach dem Urgrund des Seins zu suchen oder nach der Ur-Struktur. Uns gibt das Fragen stellen viel mehr. Informationen und Antworten sind schon genügend gegeben, sie überfließen uns, wir ertrinken darin. Derrida stellt Fragen, die immer wieder zurückbleiben werden, die wir Gegenwärtige immer neu erheben wollen und müssen. Die gegebenen Autoren reichen uns nicht aus. Wir versündigen uns an keinem Bilderverbot mehr, wenn wir die Gabe denken; wir brauchen ihr nicht zu entfliehen. Doch wie geht es sich zu der Lichtung, auf der sich die Gabe-gegen-Gabe ergibt? Gabe ist im Ersten und Letzten Glück, Jouissance und Chance. Gabe ereignet das Glück und setzt die Möglichkeit der Chance in der Gabe-gegen-Gabe frei. Sie ist das Fallen in der Kadenz, der Zufall in jeder Abfolge. Die denkbare Gabe gibt uns den Weg zu einer Lichtung frei, wo wir die Chance haben, den Wald des Daseins zu hinterfragen. Sie setzt das Denken in Gang, denn sie gibt uns zu denken: Gabe gibt Denken. Das Glück ereignet sich schon auf dieser unfassbaren Ebene, vom »Sein des Seienden«. Gibt es eine heiterere (glänzendere, klarere und frohgemutere) Seinsauffassung und Lebenseinstellung als diese?

Anne Dippel


 

Der Essay als pdf-Datei

Derrida aus der Tube:


»What Comes Before The Question?«


Jacques Derrida - Crashkurs



D'ailleurs, Derrida (2000) 1/ 8



Derrida: Der Film


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