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 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (41)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Traumparadoxe – Heute, beim Erwachen, erinnerte ich, dass ich geträumt hatte, geschlafen gehabt zu haben. Geweckt, bin ich zuerst im Traum aus dem Schlaf erwacht, bevor ich aus dem Traum, in dem ich dieses Erwachen geträumt hatte, erwacht bin.

Ein anderes Traumgespinst: Vor 7 Jahren haben wir ein Wochenendhaus, »am Fuße des Himmelreichs«(eines schmalen Mittelgebirgszugs, um den der Main so fließt, dass man ihn an einer Stelle zweifach sehen kann), nach knapp 40 Jahren aufgegeben & an einen Imker & Taubenzüchter verkauft. Bei drei gastfreundlich empfangenen Besuchen haben wir zu unserer Freude bemerkt, wie vielfältig & phantasiereich unsere Nachbesitzer das Häuschen & das gesamte kleine Grundstück, auf dem wir jahrzehntelang so gut wie jedes Wochenende verbracht hatten, mittlerweile umgestaltet haben.

Von nichts habe ich in den letzten Jahren – scheinbar ohne Anlass – häufiger geträumt,  als von diesem Häuschen. Ich kann mich überhaupt an keinen einzigen anderen Wiederholungstraum erinnern – außer an diesen. Wobei dieser Traum immer davon ausgeht, dass wir (meine Frau & ich) uns in dem Häuschen aufhalten. Jedoch plötzlich wird mir bewusst, dass wir uns illegalerweise dort befinden, weil es uns nicht mehr gehört & wir ihre neuen Eigentümer nicht gefragt haben, ob wir dort sein dürften. Möglicherweise hatten wir uns mit einem unserer alten Schlüssel Eintritt verschafft, jedenfalls sind wir nicht durch einen Einbruch dort, sondern »in aller Unschuld«& Freude.

Die sind aber hin, als mir plötzlich bewusst wird, dass wir hier nicht mehr sein dürften. (In einem der ca. 10 Wiederholungsträume wusste ich sogar plötzlich auch, dass wir schon einmal zu Unrecht uns in dem Häuschen aufgehalten hatten! Der Traum hatte also auch die Erinnerung an einen gleichartigen Vorgängertraum!)

Mit dem plötzlichen Bewusstsein der Illegitimität unseres Aufenthaltsortes schauen wir durch das Fenster. Wie früher blicken wir über ein grasbewachsenen Vorplatz, der bis zu einem hölzernen Gartenzaun sich erstreckte, hinter dem eine weitläufige Wiese bis hin zu einem betonierten Weg lag, über den man vom Dorf  her kommen musste, um zu unserem einsam gelegenen Haus im Landschaftsschutzgebiet & darüber hinaus zur Schleuse zu gelangen. 

In manchen dieser Träume befürchteten wir, auf den Weg blickend, dass jeden Augenblick die neuen Eigentümer vom Dorf her kommen könnten; in anderen aber sahen wir zu unserem panischen Entsetzen, dass auf dem Zugang vom Weg zu unserem Grundstück bereits Autos standen, denen wohl in jedem Augenblick die Eigentümer entsteigen würden. Dieser Peinlichkeit ebenso gebannt wie schuldbewusst entgegensehend, wachte ich glücklicherweise jedes Mal auf, bevor es im Traum zum befürchteten Treffen kommen konnte.

Zweifellos deutet die Wiederholung dieser Traumsituation am immer gleichen Ort in seinem alten Zustand auf ein Trauma hin. Der Ort & sein Interieur hatten sich tief ins Unbewusste gesenkt, buchstäblich ist es ein Eindruck wie ein Brandzeichen. Die zwei-, drei Male, bei denen wir die vollständige wohnliche Umgestaltung bewundernd gesehen haben, hatte nicht die Kraft, sich über das Wahrnehmungsmuster verändernd zu legen.

Das freundschaftliche Verhältnis, das wir mit unseren Nachbesitzern entwickelt hatten, wirkte im Augenblick der Selbsterkenntnis der skandalösen Situation zurück in doppelter Weise: wir hatten unsere Nachbesitzer betrogen, indem wir hinter ihrem Rücken wieder dort waren, wo wir nicht mehr sein durften & die drohende Aufdeckung unseres irreparablen Betrugs stürzte uns in eine tiefe Scham. Das anfängliche Glück, wieder in dem doch sehr geliebten Häuschen zu sein, war plötzlich zu einer schrecklichen persönlichen Katastrophe geworden – aus der nur zu entkommen war durch die rettende Flucht ins Aufwachen.

                                      ***  

Teddies Schatten - Soweit ich mich erinnere, wird in keinem (west)deutschen Nachkriegsfilm je der Name Theodor W. Adorno ausgesprochen. Soll das ex negativo darauf verweisen, dass Drehbuchautoren & Regisseure des Neuen deutschen Films nicht in die »Frankfurter Schule« gegangen sind, also nichts mit dem links-liberalen intellektuellen Milieu der BRD zu tun hatten? Aber selbst der »Kopf des neuen deutschen Films“, der von Fassbinder ebenso ironisch-spitz wie sympathetisch-liebevoll so genannte Dr. Kluge, hat meines Wissens in keinem seiner zahlreichen Kino-Filme den Namen Adornos erwähnt, obwohl er den ihm persönlich bekannten Philosophen ja dazu gebracht hat, sich für die »Oberhausener«, die filmische Alternative zu »Opas Kino«, öffentlich zu erklären & der weltbekannte Philosoph seinem alten Freund aus kalifornischen Emigrationsjahren, Fritz Lang, den jungen Kluge als Hospitant empfohlen hatte.

Eben jetzt fiel mir das Faktum ein, als ich bei arte Mia Hansen-Loves Film »Alles, was kommt« (L'avenir, 2016) sah. Darin spielt Isabelle Huppert eine Pariser Philosophie-Lehrerin. Einmal hält sie, gut sichtbar, die französische Übersetzung der »Minima Moralia«in der Hand & neben Schopenhauer, Rousseau oder Pascal fallen im Verlauf des Films die Namen Adorno, Horkheimer & »die Frankfurter Schule«. Zugleich wird von dem Film aber auch der historische Moment fixiert, in dem die Wirkungsgeschichte der »Frankfurter Schule« in Frankreich endet. »Teddie«(Horkheimer) verdankt seine Erwähnung in »L'avenir« der biographischen Tatsache, dass die Mutter der Drehbuchautorin & Regisseurin Philosophie-Lehrerin war - eine französische wohl gemerkt.

                                      ***

Beggar's Opera Im Auto sitzend ist der beste Voyeursplatz zur Beobachtung der alltäglichen Straßenszene »auf Augenhöhe“. (Wie das Wild im Wald zum Hochsitz nicht aufblickt, so nehmen die Fußgänger meist den im parkenden Auto hinterm Steuer Sitzenden nicht wahr.) Wartend habe ich nun schon mehrfach etwas zufällig beobachtet, was mich fasziniert. Wiederholt am selben Platz vor dem Eingang eines Postamtes parkend, sah ich immer wieder den gleichen jungen Bettler, der seit einigen Tagen immer am Fuß eines kopfhohen viereckigen Briefkasten sitzt, sogar auch in der eisigen Kälte.

Einmal sah ich, wie er sich erhob. Dabei konnte ich erkennen, wie er »installiert«war. Er saß nicht auf dem Boden, sondern auf einem dunklen Untersatz, wahrscheinlich mehr als bloß einem Kissen. Hinter seinem Rücken, gelehnt an den Briefkasten, hatte er eine flache Umhängetasche, die zwischen seinem Rücken und dem eisernen Briefkasten geklemmt worden war, um die Kälte vom Rücken her abzuweisen. Vor allem aber schützte den Sitzenden eine dunkelblaue Decke. Sie war etwa so groß, wie man früher einen Plastik-Umhang hatte, den man als Fahrradfahrer bei Regen zwischen dem Lenker & dem eigenen Körper aufspannte, um beim Fahren nicht durchnässt zu werden. Die Größe dieser um ihn weit ausgebreiteten Schutzdecke sammelte hermetisch die Körperwärme des Bettlers rund um ihn.  Als der Sitzbettler seinen privilegierten Arbeitsplatz verließ, verstaute er seinen Untersatz in der Umhängetasche, legten den quadratischen Umhang, unter dem er seine »Arbeit«verrichtet hatte, säuberlich zusammen, legte den kleingemachten Umhang über den Bügel der Umhängetasche & verschwand aus meinem Blickfeld, wobei ich bemerkte, dass er eine dunkelblaue Winterjacke anhatte, die auf ihrer Rückseite den Schriftzug von Mercedes Benz trug.

Einmal sah ich ihn gleich dreifach, da hatte er sich mit genauso ausgerüsteten & gewandeten jungen  Kollegen vor dem Postamt getroffen. Alle drei gingen davon & wenn man sie so sah, dachte man an eine unauffällig uniformierte Kleintruppe, keine Spur von auffälligen Bettler-Ärmlichkeiten.

Spätestens in diesem Augenblick assoziierte ich zum ersten Mal »Beggar´s Opera« & dort Mr. Peachums Professionalisierung des britischen Bettlerwesens im 17.Jahrhundert.

                                   ***

Corona-Karpfen - Wenn man im Herbst & Winter durch Franken fuhr, waren die meisten Dorf-Teiche ohne Wasser - & ihre Bewohner, die Karpfen, nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern auch während der Monate mit »r«verspeist worden. Die besondere fränkische Spezialität des halben gebackenen Karpfens mit Kartoffelsalat war ein, zwei Extra-Reisen im Herbst oder Winter wert.

In Corona-Zeiten ist dieses kulinarische Vergnügen selbstverständlich nicht möglich. Öfters denke ich nun an die fränkischen Karpfenteiche. »Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall“. Will sagen: Ihre das Jahr über angefütterte Besatzung wird ahnungslos älter werden, ahnungsvoller aber werden die Teichwirte sein, weil die nächste Karpfen-Ernte mit größeren & fetteren Brocken zum Verzehr aufwarten wird.

Werden sie nun auch außerhalb von September bis März angeboten werden, etwa das ganze Jahr 2021 über? Wenn die fränkischen Restaurants & Hotels wieder geöffnet sein werden – sofern sie, wie die Karpfen in ihren Teichen, die Corona-Zeiten überlebt haben?

Artikel online seit 02.03.21
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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