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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Petits riens (zwanzig)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Zeit haben - Immer öfter denke ich an »Schubumkehr«. Wie beim Landevorgang die Jets ihre Düsenkraft umpolen, wenn sie Bodenberührung haben, damit die Düsen dabei helfen, die Schubkraft abzubremsen, um die Landung abzukürzen, überlege ich, ob ich nicht häufiger & konsequenter den vielfältigen Internetangeboten mich widersetzen sollte. Ich erinnere noch, dass es in meiner frühen Jugend, z.B. während der Schulzeit, heftige Diskussionen unter uns Klassenkameraden (aber auch mit Eltern) darüber gab, ob es erlaubt, sinnvoll oder gar notwendig sei, während der Hausaufgaben »das Radio nebenher laufen zu lassen«. Im Laufe der Zeit gaben wohl auch jene diese Dopplung auf, die zuerst behauptet hatten, »ohne Radio gehe bei ihnen gar nichts«. Sie hatten wohl erfahren, dass dadurch weder die eine noch die andere gleichzeitige Tätigkeit nachhaltige Ergebnisse brachte.

Wenn ich heute an die Zeit »vor dem Internet« zurückdenke, scheint mir diese quasi zur zweiten Natur gewordene »Dauerberieselung« unserem heutigen Umgang mit dem Internet (ob mit Computer, Tablet oder Smartphone) als Alltagsverhalten am nächsten gekommen zu sein. In beiden Fällen sind wir es, die an einer Aufmerksamkeitsdroge hängen: als Konsumenten, die sich als interessierte »Nutzer«, sprich: Nutznießer der verschwenderisch & weitläufig angebotenen »Informationen« gerieren. Würde der Verkehr im Internet mit jedem Klick etwas kosten, wäre die Surfer-Welt mit einem Schlag von Grund auf verändert: es gäbe dann das Massenphänomen der hochverschuldeten Internetjunkies ebenso wie die sozialdemokratische Klage über die finanziell bedingte »undemokratische« Exklusivität des Surfens, das sich nicht jeder unbegrenzt »leisten« könnte… 

                                               *        

Nachtmahlen - Es soll ganz normal sein, hört man immer wieder, dass man heute in Spanien frühestens um 21 Uhr, besser aber erst ab 22 Uhr (z.B. in Madrid) zum Abendessen in ein Restaurant geht. Umso erstaunter dürfte jeder sein, der in dem viktorianischen Roman "Barchester Towers" eine  Passage liest, in der ein neu ernannter Bischof der Anglikanischen Kirche für die Honoratioren der  Englischen Landstadt ein Abendessen gibt & der Autor Anthony Trollope schreibt: "Die Gäste sollten um zehn Uhr eintreffen, das Abendessen von zwölf bis eins dauern, und um halb zwei sollten alle wieder weg sein." Diese späte Zeit wird vom Autor nicht als eine Bosheit oder charakteristische Exzentrizität des einladenden Bischofs ausgegeben, sondern als etwas Übliches, Normales. Ohne den Zufall der Lektüre dieses Romans hätte ich nichts über diese Erstaunlichkeit der Viktorianer gewusst. Heute wäre sie wohl selbst in Spanien unmöglich, bzw. undenkbar; erst recht bei uns. Das (österreichische?) Wort vom "Nachtmahlen", das ich als Hauptwort zum ersten Mal in Kafkas Tagebüchern gelesen habe, träfe wohl auf diese Spezialität des Viktorianischen Englands zu. Wüssten wir derlei historische & lokale Eigenheiten überhaupt, wenn es nicht realistische Romane gäbe?

                                               *

Späte Erkenntnis - Jetzt erst, bei einer erneuten Lektüre des »Siebenkäs«, fällt's mir wie Schuppen von den Augen, warum Rainer Werner Fassbinder mich einmal darauf ansprach, ob ich ihm nicht das Drehbuch zu einer Verfilmung von Jean Pauls Ehe-Flucht-Roman schreiben wolle. »JP ist für mich ein Sprach- & kein Plot-Ereignis«, glaubte ich damals RWF belehren zu müssen. Dabei hatte ich doch schon mir immer wieder Zeichen im Buch gemacht, wann immer die Darstellung des Freundschaftsverhältnisses Siebenkäs/Leibgeber semantisch ins (heute so erscheinende) "Schwule" zu weisen schien. Dass die beiden über ihren Namenstausch hinaus & ihre satirische Ader inniger zusammenhängen als der Armenadvokat mit seiner angetrauten einfältigen Lenette, ist jedem Leser bald klar. Der Seismograph RWF hat hier wie dann später in Döblins "Berlin Alexanderplatz" die homoerotische Anziehung der männlichen Helden (Franz & Reinhold) erkannt. jetzt erst habe ich einen Zipfel davon zu greifen bekommen.

                                               *          

Das Gefäß bestimmt den Inhalt - »Die Stimmung ist gehässiger geworden. Wir stellen – etwas zugespitzt – fest: Wo früher Leserinnen und Leser kontrovers miteinander diskutiert haben, beschimpfen sie sich immer öfter. Wir werden zunehmend als »Systempresse« oder »Propagandaschleuder« betitelt statt auf inhaltliche Fehler aufmerksam gemacht. In vielen Kommentaren wird nicht mehr Information ausgetauscht, sondern in einer Absolutheit doziert, die andere per se ausschließt«.

Mit dieser Begründung hat im vergangenen Monat die »Neue Zürcher Zeitung« – eines der ältesten europäischen Blätter – ihre Kommentarspalte geschlossen. Künftig will die konservative Zeitung ihre Leser täglich nur drei Artikel zur Diskussion & Debatte stellen & einmal die Woche soll sich ein Redaktor der Leserkritik aussetzen. »Initiiert, moderiert und begleitet werden die Debatten in unserem Newsroom«, schreibt die NZZ.

Natürlich gewinnt sie damit wieder die Kontrolle über das, was von allen Zuschriften unter dem Dach der NZZ geäußert wird. Dazu hat sie nicht nur das Recht, sondern womöglich auch die Pflicht – nicht nur, um justiziable Meinungsäußerungen zu verhindern. Das Recht, weil sie entscheiden kann, wer auf ihrer Domain sich aufhält; die Pflicht, die Überzahl & den Übermut der Spreu vorab vom diskutablen Weizen zu trennen. Denn der Schlusssatz von Spinozas »Ethik« gilt natürlich auch für  Leserzuschriften: »Alles Vortreffliche ist ebenso schwierig wie selten«; und vortrefflich sollte schon sein, was zur Publikation vorgezogen wird, auch im ureigensten Interesse der interessierten, kritischen Leser. Sie sind dankbar, wenn & dass es ihnen erspart bleibt, sich durch Müll – der meist nur durch Gehässigkeit auffällt – wühlen zu müssen. Die Aufgabe eines Scouts, dem man vertraut, kann auch in der Mülltrennung & -entsorgung bestehen.

Die NZZ hat ein treffliches Bild für das falsche Versprechen einer demokratisch-sinnhaften Kommunikation gefunden: »Wer eine leere Wand errichtet, sollte sich über Graffiti nicht wundern. Und wer auf das Graffiti nicht reagiert, sollte sich nicht wundern, wenn die Kritzeleien überhandnehmen«. Genau diese Situation war für jeden abzusehen, der einmal beruflich mit den Leserbriefen einer Zeitung in den Printzeiten zu tun hatte.

Gerade weil damals dafür eine vielfache psychisch-physische Energie aufzuwenden war, bis ein solcher Leserbrief  die Zeitung erreichte, tummelten sich hauptsächlich dort Geschaftlhuber, Wichtigtuer & Besserwisser, die mit Arroganz & Aggression einen Typus von kontinuierlichem Leserbriefautor kreierten. Aus dessen massenhaftem Auftreten ragten wenige »kundige«, »qualifizierte« Leserbriefschreiber hervor, die in der anstehenden Kontroverse etwas Produktives beitragen & argumentativ formulieren konnten.

Als mit dem Internet sowohl diese individuellen Anstrengungen als auch Schleuse & Filter der Redaktion wegfielen & zu Jedermanns Eitelkeit hinzukam, sich selbst zu allem & jedem nach eigenem Gusto anonym äußern zu können, war zu befürchten, dass dieser soziale Typus sich epidemisch verbreiten würde. Wo immer eine »leere Wand« war, kam die Kritzelei zu ihr wie das Amen in der Kirche vom Priester.

Dagegen hält die NZZ, wenn sie resümiert: »Das Gefäß bestimmt den Inhalt, nicht umgekehrt«. Man muss überhaupt nicht konservativ sein, um dieser Metapher zuzustimmen, mit der die NZZ vom falschen Versprechen demokratischer Egalität sich verabschiedet & zur restriktiven, qualifizierten, präzisierten Debattenkultur aufgebrochen ist.

Artikel online seit 08.03.17
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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