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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Petits riens (X)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Die Konkurrenz schläft nicht.- Im Laufe der Geheimverhandlungen über TTIP & andere  Verträge zur Beförderung des beschleunigten Welthandels, vulgo: zur Globalisierung aller unserer Lebens-, Arbeits- & Konsumbereiche ist ja schon viel bekannt geworden, was jedem vernünftigen Menschen, bzw. Demokraten die Haare zu Berge stehen lässt. Aber er kann sie sich auch ausraufen, weil alles, was die Politiker da schon insgeheim getan haben, tun & vereinbaren werden, durch die »Öffentlichkeit« nicht verhindert werden wird, in die es immer wieder gebracht & publizistisch skandalisiert wird. Die Hunde bellen, schlagen an, geben Laut - & die Karawane zieht unbeeindruckt (wenn nicht sogar insgeheim grinsend) weiter. Solange bellende Hunde nicht beißen, wird das so bleiben. Wo sollen statt Hunden Wölfe herkommen, die in Rudeln sich die Karawane vornehmen & sie gemeinsam angreifen & »nachhaltig« zupacken?

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Kinospekulation.- Am 17.9. hat  ein FAZ-Redakteur, der sich  offenbar ebenso gut in der usamerikanischen Politik wie bei Hollywoodfilmen auskennt,darüber Gedanken gemacht, was, wann & warum der Präsident Jimmy Carter sich welche Filme im Weißen Haus angesehen hat. Der Amtssitz des US-Präsidenten hat einen eigenen Kinoraum, in dem der politisch glücklose Carter mehr als jeder andere Präsident während seiner nur einmaligen Amtszeit 400 Filme gesehen hat; in dem Jahr, in dem das kühne militärische Kommandounternehmen der USA, die von iranischen Revolutionsgarden  kassierten 52 Botschaftsmitglieder in Teheran zu befreien, aufs Blamabelste fehlgeschlagen war, hatte sich Carter allein mit 115 Filmen getröstet.

Unabhängig von den FAZ-Spekulationen über die an den gewählten Filmstoffen möglicherweise ablesbaren Gemütszustände des Präsidenten - erstaunlich genug ist es ohnehin, dass die Öffentlichkeit en détail erfährt, was sich Jimmy Carter da im Kino des Weißen Hauses auf damals noch Zelluloid-Kopien über 4 Jahre hin privatissime angesehen hat -, kann man sich Vergleichbares bei unseren hohen Politikern – z.B. Bundespräsident Gauck oder Kanzlerin Merkel – nicht vorstellen.

Weder gibt es, meines Wissens, auf Schloß Bellevue noch im Bundeskanzleramt ein Privatkino; und von DVD-Filmabenden in den Amtsbleiben der  höchsten deutschen politischen Repräsentanten, hat man auch noch nie etwas gehört. Noch nicht einmal der vermutbare TV-Konsum Gaucks & Merkels ist je in den Focus der Klatsch-oder Boulevardpresse gerückt. Wahrscheinlicher ist es, dass beide z.B. vom deutschen Film nicht die blasseste Ahnung haben – eine Ignoranz, die sie jedoch mit der überwältigenden Mehrzahl der Deutschen teilen.

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Reisebekanntschaften.- Wer viel beruflich oder touristisch in der Welt herumkommt, der könnte einem viel erzählen. Möglicherweise fielen ihm jedoch die Zeichen schleichender Verwandlungen des fremden oder fernen Alltags so wenig auf wie dessen Synchronitäten untereinander. Besser hat es da der selten Reisende, der durch die ungewohnte Ortsveränderung zur angespannten Aufmerksamkeit sich verpflichtet sieht, um nicht unter die Räder zu kommen oder nicht die Orientierung zu verlieren. Er nimmt womöglich das Neu- oder Andersartige in der Fremde des dortigen, jeweils fremden Alltags als exzentrisches Novum war (ob es wirklich eines ist, wüsste nur der Vielreisende zu sagen.)

Gibt es noch anderswo auf der Welt einen Bahnhof, in dem an einem Platz zwischen dem Bahnsteigsbereich & dem Vorraum, durch den die angekommenen Massen hetzen & die Abfahrwilligen langsam herumschlendern, ein Klavier postiert ist – wie im Kopfbahnhof Saint Charles von Marseille? Allein die Anwesenheit eines »normalerweise« in einem Zimmer oder geschlossenen Saal beheimateten musikalischen Gegenstands wie ein Klavier an diesem wahrhaft öffentlichen Ort ist so wunderlich, dass man sie zuerst womöglich übersieht: weil nicht sein kann, was nicht sein darf (Morgenstern). Zwar las ich den französischen Satz, »das steht für Sie da« & sah auch das Klavier, sah es aber erst wirklich, als ich es hörte, weil jemand mit dem Rücken zu uns Bahnhofsbesuchern darauf spielte. Die zarte Klaviermusik war nämlich so verwunderlich wie die surrealistisch erscheinende Existenz des Instruments an diesem Ort. Der Aufforderung, an bzw. mit ihm zu spielen, entsprachen immer andere anonyme Pianisten, so oft wir in den paar Tagen, die wir dort waren, an ihm & ihnen vorbeikamen. Jeder spielte, was er konnte & wollte: Jazz, Tanzmusik, Klassik. Spielte für sich & vor allen, die vorbeigingen oder am Morgen als Pendler zu ihren Arbeitsplätzen hetzten; und weil keiner stehenblieb, sich keine Zuhörergruppe um den Spielenden bildete, blieb auch Applaus aus. Zumindest habe ich keinen gehört, so oft ich an dem mit gebeugtem Rücken über das Piano gebeugten Spielern vorbeikam, denn auch meine Aufmerksamkeit war die eines Vorübergehenden, der nur staunte über diesen exzentrischen akustisch-gestischen Moment im Gare Saint Charles. Wer mag auf diese wunderbare Idee gekommen sein, wer hat sie in die Tat umgesetzt & wer sorgt sich darum & dafür, dass das Klavier, das da in der zugigen Kälte steht, von Zeit zu Zeit neu gestimmt wird?

Noch eine Entdeckung im Zentrum von Marseille, in der Nähe der berühmten La Canebière. Wer nicht nur mit offenen Augen, sondern auch mit neugierigem Blick  durch unsere einheimischen oder mitteleuropäischen Klein-, Provinz- oder auch unsere Großstädte geht, wird nicht umhingekommen sein, immer öfter auf die sich beschleunigende Anzahl leerer Verkaufsräume zu stoßen. Wo früher noch z.B. ein Schuster, Metzger oder Papierladen war, ist heute plötzlich Leerstand. Wo gestern noch ein Videoverleih seine Kassetten anbot – auch er jedoch schon ein Zwischenzustand im Verfall –, herrscht heute »gähnende Leere«. Was lehrt sie uns? Die galoppierende Schwindsucht des städtischen Einzelhandels, dessen Untergang unsere Straßenbilder durch die Hinterlassenschaft seiner Abwesenheiten hässlich macht. Ist es nicht so, dass diese leeren Geschäfte, in die wir von der Straße mit einem gewissen horror vacui blicken, metaphorisch an das immer lückenhaftere Gebiss eines ländlich-armen Greises gemahnen, der in einer Zeit lebte, als es noch keine staatlichen Krankenkassen gab & er  nicht einmal das Geld hatte, durch ein Gebiss den erbarmungswürdigen Zustand seiner altersbedingten Zahnlücken zu kaschieren?

Zumindest hat das ersatzlose Verschwinden zahlreicher bislang klassischer Berufe, die in einer bunten, abwechslungsreichen Ansammlung von kleineren oder größeren Einzelhandelsgeschäften in den Straßen aller unserer Städte ihre Dienste anboten, nicht nur materielle, sondern auch allgemein ästhetische Folgen für unsere Straßen – und zwar durchaus im Zentrum!

Ich habe mir schon einmal an anderen Stelle über diese mich schon geraume Zeit sowohl beunruhigende als auch architektonisch beschäftigende Alltagshässlichkeit – z.B. zwischen durchaus lebendigen, lebensfähigen älteren Bausubstanzen – den Kopf zerbrochen. Ich kam, als »blutiger architektonischer Laie« nur auf die Idee, solche Parterre-, bzw. Geschäfts-Leerstände zwischen bewohnten Häusern gewissermaßen durch erkennbar künstliche Hausimitate zumindest optisch sowohl kenntlich zu machen, als auch zu kaschieren, damit der Straßenzug nicht durch die offensichtliche Hässlichkeit der Lücken & Leeren zu sehr lädiert erscheint.

In Marseille nun sah ich etwas, womit das häufig vorhandene Problem auf großen, repräsentativen Einkaufsstraßen zwar nicht generell gelöst worden war, aber denn doch an einigen Stellen mit einem verblüffenden »Trompe-l'oei«–Effekt vertuscht wurde, wobei die die (barocke) Augentäuschung durch einen gigantischen Fotorealismus erzielt wird.

So waren vor einigen riesigen Schaufenstern in deren ganzen Größe (!) Farbbilder platziert, die sogar noch vom gegenüberliegenden Trottoir aus den Einblick in einen dreidimensional erscheinenden Verkaufsraum überwältigend »echt« simulierten. Nur wenn man ganz nahe an das gestochen scharfe Bild herantrat, auf dem keine Menschen waren, erkannte man seine täuschende Flächigkeit.

Ob es eine optische Erinnerung an das ehemalige dortige Geschäft war, wer es installiert hat – die Stadt oder der Hausbesitzer -, wer dieses raffiniert räumliche Tiefe suggerierende Foto wo aufgenommen, entworfen & vergrößert hat: diesen & anderen Fragen bin ich nicht nachgegangen. Möglicherweise gibt es aber längst einen Spezialisten, der solche Trompe l'oeil-Plakatwände, je nach Bedarfs-Größe & mit unterschiedlichen Motiven herstellt. Zukunftsfähig wäre ein solches Geschäft gewiss: länderübergreifend.

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Café de France, trocken. - Noch eine erst einmal schockartige Alltagserfahrung in Marseille: Im viel besuchten, gewissermaßen typischen französischen »Café de France«, wo wir morgens in der Nähe des Zentralbahnhofs Saint Charles unseren Tee/Kaffee mit dem Croissant von der Bartheke zu uns nahmen, wurden wir mittags, als wir einen Pastis verlangten, beschieden: Alkohol gebe es hier nicht. Kaum zu glauben, doch wohl ein Mißverständnis? Es hätte uns womöglich auffallen sollen, dass der morgendliche Tee nicht nur sehr süß, sondern auch aus der Höhe mit Eleganz aus einem kleinen Kännchen in eine Tasse mit Minzblättern gegossen wurde – wie z.B. im muslimischen Marokko. Auch nachmittags im alten Marseille, auf einem schönen Platz mit einladenden Tischen & Stühlen, wurde bei einem der drei, vier neben einander liegenden Lokale der Wunsch nach einem alkoholischen Getränk nicht erfüllt; gleich nebendran dann aber.

Man wird sich daran gewöhnen müssen, dass das einst Selbstverständliche in einer alltagskulturellen homogenen Gesellschaft, in der zu einer Bartheke automatisch Alkoholika gehören, heute passé ist: selbst im Café des France. Sich darüber zu wundern oder es »shocking« zu finden, zeigt nur, dass man noch nicht à jour ist.

Artikel online seit 21.09.15

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

Petits riens (IX)
Horrorfamilien &-feste - Fürsorgliche Belagerung - Wert, Schätzung
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