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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Foto: © Roderich Reifenrath

Petits riens (IX)

Von Wolfram Schütte

»Petits riens«, nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge
Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine
Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen
als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen
Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.

»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

 

Horrorfamilien &-feste - Der Vater hasst Kinder & Hunde, die Mutter kümmert sich nicht um die drei schulpflichtigen Kinder & die zwei Hunde der Familie. Das besorgte bisher eine unterbezahlte aushäusige Bedienstete. Sie wusch, machte Essen für die Kinder & führte die Hunde aus, bzw. säuberte die Wohnung, wenn die nicht ausgeführten Tiere ihre Notdurft im Haus verrichtet hatten. Jetzt hat sie – lange genug finanziell ausgebeutet - den Bettel hingeschmissen. Die oft abwesende Mutter hat verfügt: ab jetzt solle jedes Familienmitglied für sich selbst sorgen: seine Wäsche waschen, sich essen machen; um die Hunde kümmere sie sich, der Vater könne seine schmutzige Wäsche selbst in die Reinigung bringen. Keine »verwahrloste« Familie am unteren Rand der Gesellschaft, sondern »Reiche Leute«, die in einer Villa leben & deren Kinder das Gymnasium besuchen. Auch keine Phantasie eines Romanciers, aber ein potentieller Stoff für einen Gegenwartsautor, der die mentale Verfassung unserer Gesellschaft ins Auge nimmt.

Ein anderer Fall: im »Speckgürtel« Frankfurts, in einer der Kleinstädte am südlichen Abhang des Taunus. Fast überall Villen mit großen Gärten, wenige Mehrfamilienhäuser, in denen zahlreiche Zweitwohnungen (als immobile Kapitalparkanlage) leer stehen. »Mittelständische« Mieter in fünfstöckigen Wohnanlagen in einem angenehm durchgrünten Wohn-& Lebens-Gelände, in dem jedoch die Millionärsvilla mit großem Garten das gewöhnliche Ambiente ist. Oft im Sommer feiern die reichen jungen Leute Feste bis in den frühen Morgen: lautstark. Denn die teuren Lautsprecherboxen werden in den Garten gestellt & beschallen nicht nur Heim & Garten der Feiernden, sondern nächtlich die Umgebung im weiten Umkreis. Beschwerden bei der Polizei sind fruchtlos. Falls die Beamten überhaupt noch ausrücken (& nicht schon längst resigniert haben), wird der Lärm nur kurzzeitig unterbrochen; sobald sie gegangen sind, ist er wieder da. Beschwerden bei den Verursachern sind auch folgenlos. Glücklich, wer nicht sogleich arrogant telefonisch abgebügelt wird, sondern auf die Eltern der lärmig Feiernden trifft. Kürzlich bat ein Vater hilflos den Anrufer um »Verständnis« für den lautstarken Sohn & seine Freunde.

Offenbar hat die brutale Rücksichtslosigkeit der jüngeren Reichen auch vor den älteren Familienmitgliedern nicht halt gemacht. Der Vater kann auf den Respekt des Sohns nicht mehr zählen, wenn er Wildfremde am Telefon um das Ein-Verständnis zu einem Tun bittet, das er als erster doch mit seiner Autorität hätte unterbinden müssen: allein schon aus Selbstachtung. Wo aber im Familiären noch nicht einmal die Serenität noch zählt, ist dem individuellen Selbstgenuss im öffentlichen Raum rücksichtslos Tür & Tor geöffnet. Nicht einmal der pragmatistische Gedanke, dass man dem andern nicht antue, was man selbst nicht erleiden möchte, zieht hier, weil man unter den Reichenpartyveranstaltern offenbar davon ausgeht, dass jeder, der es kann, es zurecht auch macht – gleichgültig für die akustischen Kollateralschäden im Umkreis. Da man sich selbst das Recht herausnimmt, das »bürgerliche Recht« zu ignorieren, nimmt man auch hin, selbst ggf. auch mal Opfer zu sein, wenn das ein anderer gleicher Art tut. Aber auf sozial adäquater Augenhöhe, sozusagen von SUV zu SUV, soll es sein. Denn die einzigen, die »das nicht verstehen«, also den lautstarken Genuss individueller Selbstherrlichkeit nicht akzeptieren wollen, sind doch nur jene, die derlei öffentliche Lärmbelästigung gewiss nicht selbst veranstalten wollen, würden & könnten.

                                               *

Fürsorgliche BelagerungDer Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll hat für einen seiner späten Gegenwartsromane, der den totalitären (Polizei-)Schutz eines reichen Verlegers gegen die terroristische Drohung zum Sujet hat, den wunderbar ironischen Titel der »Fürsorglichen Belagerung« erfunden. Was für eine Idylle war doch noch 1979 die von Böll systemkritisch betrachtete Bundesrepublik - als unter Terror noch nur die RAF gemeint war & der polizeiliche Personenschutz als Vorstufe eines Polizeistaats von Böll angeprangert & von ihm gemutmaßt wurde, dieser polizeiliche Cordon sanitaire, der um seinen Helden sichtbarlich gezogen wurde, diene nebenbei dem Staat auch zur Überwachung des Geschützten! Weder ahnte damals irgendwer, dass es einmal einen weltweiten islamistischen Terror noch ein Internet geben würde.

Die wechselseitige Beziehung dieser beiden Newcomer im neuen Jahrtausend – mehr als 30 Jahre nach Bölls Roman – hat dessem Titel eine ganz neue Bedeutung gegeben. Als durch den Mut des Whistleblowers Edward Snowden die ersten Erkenntnisse über die geheimen Aktivitäten des NSA in Deutschland bekannt wurden, sprach zwar keiner mehr von einer »fürsorglichen Belagerung« des NSA (weil keiner den Romantitel mehr kannte), aber gemeint war die angebliche Fürsorge der USA,  islamistischen Terroristen auch im deutschen Netz auf die Spur zu kommen. Die Kanzlerin - als alle Welt erfuhr, dass auch ihr Handyverkehr von der NSA überwacht wurde – war über diese peinliche Offenbarung so empört, dass sie mit der Würde eines ehrlich gebliebenen Skatbruders erklärte: »Ausspähen unter Freunden: das geht gar nicht«. Das Gegenteil war der Fall.

Da die Kanzlerin aber mit der deutschen Sprache so auf dem Kriegsfuß steht wie ihr Vorvorgänger Helmut Kohl, von dem sie klammheimlich den praktizierten Zynismus des »Aussitzens« adaptiert hat, hatte Angela Merkel ihrer Empörung ahnungslos jeden  imperativen oder optativen Sinn vorweg entzogen. Geblieben ist Merkels magischer  Nominalismus, sprachlich das Gegenteil dessen zu behaupten, »was der Fall & Fakt ist«.

Mit jeder weiteren Enthüllung der NSA-Umtriebe im deutschen politischen & wirtschaftlichen Internet wird die angeblich »fürsorgliche Belagerung« der USA zur Kenntlichkeit einer totalisierten Spionage im Hause des deutschen Satrapen. Über dessen mögliche Aktivitäten oder aktiven Möglichkeiten will sich der Hegemon USA vorab & insgeheim auf dem Laufenden durch Datenabschöpfung halten. Nichts lächerlicher als die gespielte Empörung der Überwachten & Ausspionierten, die – wie's die Diplomatie des 18. bis 20. Jahrhunderts als symbolische Protesthandlung vorsah – »den Botschafter einbestellt«. Aber das für die bürgerlich-demokratische Öffentlichkeit inszenierte Rührstück über die Beleidigung »unter Freunden (!)« wird noch nicht einmal zuende gespielt & der Botschafter zur »persona non grata« erklärt. Offenbar muss man sich diese Inszenierungs-Mühe nicht machen, weil alle Beteiligten ohnehin an die Wahr- & Echtheit ihrer inszenierten Empörung so wenig glauben - wie die demokratischen Öffentlichkeiten, die damit hinters Licht geführt werden sollten. Längst wissen alle über des »Kaisers neue Kleider« besser Bescheid, als sie zugeben dürfen.

                                                        *

Wert, Schätzung - Ein Freund erzählte neulich, dass durchs Internet auch das Schenken, bzw. das Geschenk & womöglich auch der Beschenkte sich selbst verändert habe. Denn wenn das Geschenk nicht ganz & gar von ausgefallener Natur ist, kann der Beschenkte via Google-Suche durch einen Klick z.B. den Preis der Flasche Wein oder der Pralinen etc. sich vor Augen holen & damit »feststellen, was ich dem Besucher wert war«.

Erinnerlich ist mir noch, welche Mühe in der Internetlosen Vergangenheit darauf verwandt wurde, das Preisschild z.B. auf den geschenkten Süßigkeiten zu annihilieren: als sollte das Gast- oder Geburtstagsgeschenk vom Makel der geldpreislichen Äquivalenz  befreit werden & jenen »Urzustand« simulieren, der dem archaischen Tauschritual einmal eigen war. Wer als Beschenkter das Geschenk sich nicht später selbst noch einmal besorgen wollte, interessierte sich auch nicht für dessen Anschaffungspreis. Denn das »Mitbringsel« bei einem Besuch, als Gabe aufgrund einer Einladung oder als Geburtstagsgeschenk trat – so sehr es  als treffend empfunden, erwünscht oder erhofft worden war – hinter das Ritual & den Akt des Schenkens zurück. Deshalb sollte ein Preisschild, das die Werthaltigkeit des Geschenks in der Ökonomie annonciert, sich nicht illusionszerstörend dazwischen schieben & das Geschenk pekuniär beschädigen. Tempi passati.

Artikel online seit 19.08.15
 

 


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