Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!

Petits riens (neunzehn)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Brecht/Trump – Wie haben wir gefeixt, damals selbst noch Schüler, als wir von Brechts früher Dialektik lasen. Als Schüler habe er einem schlecht benoteten Aufsatz eine ganze Reihe von vermeintlichen Fehler-Markierungen des Lehrers hinzugefügt. Dann habe er weinerlich den Lehrer mit dessen vermeintlichen Übereifer konfrontiert. Aus Scham habe der ertappte Lehrer nach der Korrektur seiner ihm unterschobenen Fehler zur »Wiedergutmachung« den Aufsatz besser benotet.
Fraglich ist, ob Brecht hier über seine selbstgelegten schulischen Kuckuckseier gelogen, also sein »hinterfotziges« Raffinement des gewieften Betrügers erfunden oder ob er wirklich derlei in seiner Augsburger Schulzeit praktiziert hat. Mir fiel die Brecht-Anekdote ein, als ich jetzt in der NZZ folgende Meldung las: »
Der designierte amerikanische Präsident Donald Trump unterstellt Unregelmäßigkeiten bei der Wahl. Millionen hätten illegal abgestimmt, schrieb er auf Twitter. Ohne diese Stimmen hätte er nicht nur die Mehrheit der Wahlmänner, sondern auch des Wahlvolks gewonnen, behauptete Trump, ohne Beweise vorzulegen. Seine Rivalin Hillary Clinton hatte zwei Millionen mehr Wählerstimmen erhalten«. Zuvor war bekannt geworden, dass die Kandidatin der amerikanischen Grünen die Neuauszählung der Stimmen in einigen Bundesstaaten beantragt & Clinton ihr zugestimmt hatte.
Was für eine amüsante Harmlosigkeit war doch die »Schlitzohrigkeit« des Schülers Brecht gegen die schamlose Unterstellung des designierten US-Präsidenten Trump, dem sein Biograph nachsagt, die Psyche eines Dreizehnjährigen zu haben!

                                             *

Self fulfilling prophecy – Walter Benjamins Diktum: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es ‚so weiter' geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.« Daran könnte man erinnert sein, wenn man an den gescheiterten Militär-Putsch in der Türkei & dessen nachhaltige Folgen denkt. Der heute zurecht nicht in Erdogans Machtbereich lebende türkische Journalist Yavuz Baydar hat immer wieder in seinen Kommentaren – die dankenswerterweise im Feuilleton der SZ auf Deutsch erschienen – danach gefragt, was in der Nacht vom 15.Juli 2016 in der Türkei wirklich passiert ist. Zuletzt hat er das unter dem Titel »Der Putsch und der Nebel« aufgrund der bisher offiziell bekannt gewordenen Fakten am 9.12. 2016 getan.

Wenn man als Leser seiner Recherchen den Nebel zu lichten versucht, der über dem 15. Juli in Istanbul, Ankara & beim Militär & Geheimdienst bis heute lagert & den auch der türkische Mitbegründer der Medienplattform P 24 in seinem SZ-Beitrag noch walten lässt, ergibt sich ein höchst wahrscheinliches Verschwörungsszenario, das umso evidenter erscheint, je mehr man es von heute aus rückblickend betrachtet.

Danach sieht es ganz so aus, als habe um den 15.Juli ein von Erdogan kontrollierter brutaler Endkampf zwischen zwei muslimischen Verschwörerbanden stattgefunden. Beide hatten anfangs das gleiche Ziel: die kemalistische Säkularisierung des türkischen Staats & seine laizistische Bewegung zu stoppen. Langfristig drohte eine repräsentative Demokratie im »westlichen« Sinne. Die Gülen-Bewegung unterwanderte mit ihresgleichen Mitgliedern oder Sympathisanten den Gesellschaftskörper; Erdogan mit seiner AKP ging den Weg der öffentlichen Wahl in der türkischen Demokratie.

Gemeinsam haben sie erst einmal die kemalistische Festung »Militär« geschleift. Denn das laizistische Militär hatte immer wieder geputscht, wenn ihm die Politik links oder religiös in die Quere kam. Das türkische Militär hat dann nicht gezögert, drakonisch gesetzlos & mörderisch gegen jene vorzugehen, die es zu Feinden erklärt hatte. Die Nato-Partner & westeuropäischen Demokratien haben diesen mehrfach vom türkischen Militär beschrittenen Sonderweg geduldet.

Offenbar brach der interne Machtkampf zwischen Gülen & Erdogan aus, als Gülen mit seinesgleichen publizistischen & gesellschaftlichen Kräften in Presse, Polizei & Justiz die Korruption innerhalb der AKP-Spitze zum Hebel machen wollte, um Erdogan & seine parlamentarische Bande durch die publizistische Denunziation aus dem Sattel zu heben. Bereits damit aber zog Gülen den Kürzeren. Erdogan hatte seine legale Macht im Staatsapparat als der gewählte Regierungschef bereits so gefestigt, dass er gewissermaßen »mit Notverordnungen« die ersten feindlichen Angriffe 2014 seines zeitweisen Mitverschworenen abwehren konnte & tausende Gülen-Anhänger in der Justiz & Polizei auf die Straße setzte. Er wusste aber – wie ein Mafiaboss nach einem abgewehrten Konkurrentenangriff -, dass er über kurz oder lang eine erneute Bedrohung zu gewärtigen hätte, wenn er nicht den Feind zuvor mit Stumpf & Stiel ausrotten würde.

Möglicherweise gab es aber innerhalb der von Gülen & Erdogan weitgehend »entkemalisierten« Armee eine dilettantische Gruppe, die Erdogans offener Weg in die Diktatur zu einem verzweifelten Akt des putschistischen Widerstands motivierte. Durch Spitzel erfuhr Erdogans Bande davon jedoch rechtzeitig. Da sie sicher war, dass das »gesäuberte« Militär, dem das kemalistische Rückgrat gebrochen war, nur noch als Papiertiger existierte, ließ sie sich anscheinend auf ein riskantes Vabanquespiel ein.

Idealer, täuschender, mobilisierender konnte für Erdogan kein Vorwand sein (als der dilettantische Putschversuch), um mit einem Handstreich jegliche  Kritik oder jeden geistigen Widerstand als putschistisch oder von Gülen-Kräften initiiert, zu denunzieren. Erdogans erstes offenes Wort nach dem schon im Keim erstickten Putschversuch – dieser sei wie von Gott gesandt -, sprach diese insgeheime Wunscherfüllung aus. Fortan greift er mit demokratischer Maske & immer erneuten Verlängerungen des »Notstands« so autokratisch wie nur denkbar durch, um Zug um Zug alle nur mögliche Opposition mundtot & einzuschüchtern, zu enteignen oder arbeitslos zu machen.

Die pauschalen, teilweise kafkaesk-absurden Beschuldigungen gegen immer neue Gruppen der Gesellschaft (vor allem Intellektuelle, Schriftsteller & Journalisten) sind nicht einer paranoiden Angst geschuldet, sondern die logistisch perfekt exekutierte Eliminierung von Kritikern & die Neutralisierung demokratischer Institutionen oder Grundsätze, um ein permanentes öffentliches Klima der Angst, Willkür & totalitären Macht zu produzieren.

Die Parallele zur demokratisch camouflierten «Machtübernahme« der Nazis am Ende der Weimarer Republik 1933 sind auf eine nachgerade peinliche, komisch-grausige Art & Weise so evident, dass die türkische »Wiederholung« wie ein sklavisch ausgeführtes Imititat erscheint. Indem Erdogan Pässe einzieht, die Emigration verbietet, bzw. Emigranten mit der totalen Kassierung ihres Privateigentums bestrafen will, ist er endgültig auf Augenhöhe mit nazistischen oder stalinistischen Sanktionen gegen »Volks«- oder »Staatsfeinde«. 

Eben diese ins Auge springende Evidenz schützt paradoxerweise Erdogans »Machtübernahme« auf offener Bühne & vor aller Welt. Entweder traut ihm keiner diese politische Chuzpe zu, oder man will lieber als Erdogans Zeitgenosse seinen eigenen Augen nicht trauen, weil doch nicht »sein kann, was nicht sein darf« (Christian Morgenstern). Deshalb zerbrechen sich z.B. deutsche politische Journalisten den Kopf darüber, ob Erdogans »Präsidialsystem« eher an dem französischen oder usamerikanischen Vorbild sich orientiere (obwohl doch einmal vor den jüngsten Ereignissen einer seiner Vertrauten verraten hatte, dass man von Hitler zu lernen versuche). Offenbar muss man türkischer Journalist wie Bülent Mumay sein, der am  11. 1. 2016 in seiner FAZ-Kolumne das Kind beim Namen genannt hatte, als er den »Präsidenten alla turca« als den unumschränkten Gewaltherrscher an der Spitze des Staates uns vor Augen stellte.

So wird die europäische gesellschaftspolitische Erfahrung, aufgrund deren (zumindest bei uns) aus der eigenen Geschichte hätte gelernt werden können, fortlaufend zum Schweigen gebracht - & wir alle erleben, bzw. nehmen teil an einer »filmreifen« politischen Sequel, dessen Drehbuch uns bekannt ist, weil der Film schon einmal  1933  in Deutschland gedreht worden war.        

                                             *

Schadenfreude Bei einer Wiederlektüre von Arno Schmidts frühem Roman »Brand´s Haide« fällt plötzlich eine Passage auf, in der man den in seinen frühen Büchern besonders unsympathischen, weil arroganten Besserwisser Schmidt bei einem »Fehler« erwischt hat. Die Rede ist an dieser Stelle von Fouqué, an dessen Biographie AS damals gerade geschrieben hat, nachdem er & seine Frau Alice auf einem Tandem zu allerlei norddeutschen Orten geradelt waren, wo sie dort lagernde Akten, Briefe etc. des Dichters handschriftlich kopiert hatten. Der sich selbst erzählende Held, dem Arno Schmidt  so viel wie möglich von seiner eigenen literarischen Existenz mitgibt, kommt ins Gespräch mit einem natürlich herzlich verachteten, ignoranten evangelischen Pfarrer, der ihn beim Kopieren eines alten Autographen beobachtet.

>»Fouqué«, sagte ich kurz um des lieben Friedens willen (obwohls ihn nischt anging!) »Ah« leuchtete er gönnerhaft auf: »Undine: Ozean, Du Ungeheuer…« und nickte beruhigt; ich sah ihn von der Seite an, sagte aber höflich: »Lortzings Text und Musik hat mit Fouqué persönlich allerdings nichts mehr zu tun.« » Ist es denn öfter komponiert worden?!« wunderte er sich majestätisch: »davon weiß ich ja gar nichts…!« Nun langte es mir; er schien sich für allwissend nicht nur gehalten zu haben: nein: zu halten! »Doch!« erwiderte ich sparsam und arbeitete weiter.<

Wenn ich diesen Dialog richtig interpretiere, meint der »sich für allwissend haltende« Pfarrer, ihm falle zum Fouquéschen Undine-Märchen  »gönnerhaft« sofort Lortzings gleichnamige Oper ein. »Höflich« – wie es seine angeberische Art ist – erklärt ihm der besserwisserische Ich-Erzähler, dass Lortzings Oper mit Fouqués Erzählung »nichts mehr zu tun hat«, vulgo der vermeintliche Kenner im Vergleich zu dem Icherzähler selbstverständlich nichts weiß. Freilich weiß in diesem Fall einmal der Leser, dass auch Schmidts gleichnamiger Besserwisser nicht weiß, dass »Ozean, du Ungeheuer…« eine Sopran-Arie aus Carl Maria Webers Oper »Oberon« ist (& nicht aus einer »Undine« stammt). »Ozean, du Ungeheuer« war in den musikalischen Wunsch-Sendungen der ARD genauso beliebt wie  «Vater, Mutter, Schwestern, Brüder« oder »O kehr zurück« aus Lortzings »Undine«. Die Verwechslung könnte Schmidt deshalb unterlaufen sein, weil er natürlich das Versepos »Oberon« des Fouqué-Zeitgenossen Wieland kannte. 

Es ist natürlich völlig unerheblich, den Vielwisser Schmidt einmal als sein Leser bei einem seiner Irrtümer ertappt zu haben. Die Beiträger des »Bargfelder Boten«, der sich der lustvollen oder fanatischen Schmidtologie widmet, haben ihren Heros schon mannigfach beim falschen Besserwissen oder Flunkern oder Plagiieren »erwischt«. Dergleichen Irrtümer sind ja kein Beinbruch, passieren jedem.
In diesem Falle aber, muss ich gestehen, habe ich eine unbändige Schadenfreude empfunden. Nicht darüber, dass ich´s nun mal besser weiß, sondern dass hier zwiefach  Hochmut vor demn Fall kommt: Schmidts auftrumpfende Besserwisserei & die sich lässig gebende Intellektomanie, mit welcher der gleichnamige Schriftsteller-Held von »Brand´s Haide« meint, bei seiner begehrten Lore überwältigenden Eindruck schinden zu können.

Es ist eine der Zentralstellen unfreiwilliger Komik im Oeuvre Arno Schmidts Ohne solche ungewollten humoristischen Durchsäuerungen wäre der positivistische Erzählteig vornehmlich des frühen Schmidt ziemlich ungenießbar.

Artikel online seit 17.01.17
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

Petits riens (IX)
Horrorfamilien &-feste - Fürsorgliche Belagerung - Wert, Schätzung
Text lesen


Petits riens (x)
Die Konkurrenz schläft nicht - Kinospekulation - Reisebekanntschaften - Café de France, trocken
Text lesen

Petits riens (elf)
Text lesen
Erhellung - Appell -
Calvinisten-Lehre - Fundamentales hier & dort

Petits riens (zwölf)
Text lesen
Privatissime öffentlich / Was tun?
Ahnungslose Nachfolge
.

Petits riens (dreizehn)
Text lesen
Die kleine Differenz - Literarische Bodenlosigkeit - Sprich, Erinnerung, sprich - Mit Mozart zu Boeing


Petits riens (vierzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Weniger ist mehr - Raumflucht - Flensburgisches Berchtesgaden - Wo steht das Klavier? - Tot zu Lebzeiten

Petits riens (fünfzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Aus zweiter Hand - Alla Calabrese - Noli me tangere - Fanpost

Petits riens (sechzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Landläufig - Die verlassenen Bücher - Ortsfetischismus

Petits riens (siebzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Eingeweide-Mahnung
- Hase & Igel mit Pedalen - Nachhilfe-Kommentatoren

Petits riens (achtzehn)
Von Wolfram Schütte
Text lesen
Merkel semper triumphans -
Erkennbare Missgeburt - Kino-Vision - Findlingstückchen

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten