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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Petits riens (zwölf)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Privatissime, öffentlich - Eine einhellig von der Kritik gefeierte Thalheimer-Inszenierung von Kleists für nahezu unspielbar gehaltenem Drama »Penthesilea« Anfang Dezember fand sofort reißendes Interesse beim Frankfurter Schauspielpublikum. Innerhalb kürzester Zeit waren die nächsten Vorstellungen (samt einem eingeschobenen Zusatztermin) bis in den Februar des nächsten Jahres ausverkauft.

Glücklich, wer sich schnell noch einen Platz ergattert hatte, was nicht ohne Zeit & Mühe gegangen war. Stolz, es mit Glück & Anstehen doch geschafft zu haben, noch vor Weihnachten die vierte oder fünfte Vorstellung des sensationellen Darsteller-Meisterstücks besuchen zu können.

Es waren mehr als 600 Glückliche, die von einem exzeptionellen Abend geträumt hatten & womöglich sogar angereist gekommen waren. Aber vergeblich hatten sie sich die Mühe gemacht & ihren schönen Traum geträumt. Denn die Vorstellung fiel aus - & die vermeintlich fast ersten Theaterenthusiasten werden sich nun ganz hinten, nämlich erst im Februar, anstellen müssen, um sich ihren Wunsch erfüllen zu können, falls sie dann nicht etwas anderes vorhaben.

Was war passiert, das den Ausfall einer der ausverkauften Vorstellungen unmittelbar vor deren Beginn herbeigeführt hatte? Keiner der bloß drei Schauspieler, auf die der Regisseur Thalheimer das dionysische Drama Heinrich von Kleists heruntergekürzt & verdichtet hatte, war krank geworden oder verunglückt. Aber die Ehefrau des Darstellers des Achill, der von der Amazonenkönigin Penthesilea im gemeinsamen Liebesrausch auf der Bühne getötet wird, war just zur Zeit der abendlichen Vorstellung von einem Baby in einem Frankfurter Krankenhaus entbunden worden & der Vater wollte unbedingt bei der Geburt dabei & nicht zur gleichen Zeit auf der Bühne sein. Man habe den ganzen Trag gehofft & angenommen, der Sprössling werde hinlänglich vor der Vorstellung auf die Welt & sein glücklicher Vater damit noch rechtzeitig auf die Bühne kommen, erklärte der Intendant den verdutzten Besuchern.

War aber nicht so, das Baby ließ sich Zeit. Deshalb wurden die über 600 erwartungsfrohen Besucher, die sich über ihr Glück & auf den projektierten Schauspielabend gefreut hatten: wieder nachhause geschickt.

Gerne wüsste man, wie sie ihre Düpierung aufgenommen haben, wer Verständnis für den Fall hatte, dessen Opfer er war & wer darüber empört war. Oder wie die lächelnden Verständigen & die verbitterten Kopfschüttler unter den Geschlechtern & Altersgruppen verteilt waren. (Wahrscheinlich hatten mehr Frauen als Männer für den Vater in spe Verständnis; und unter den Frauen wohl die älteren eher als die jüngeren.) Man selbst wüsste ja auch nicht, was man davon halten würde, bzw. wie man sich selbst als betroffener Zuschauer verhalten hätte.

Zu leicht würde man es sich machen, wenn man die Entscheidung vom Grad der Liberalität bestimmen ließe, die man entweder hat oder zu der man sich in diesem Augenblick bekennt. Aber das wäre kein Verhalten, das sich dem moralischen Dilemma des Falles stellen würde. Auch hat der Darsteller nicht mit einer eigenen Erkrankung (& wäre es auch nur die persönliche Nervenbelastung in diesem Augenblick) sein Fernbleiben vom theatralischen Spielort begründet, sondern mit seinem persönlichen Willen, bei der Geburt seines Kindes in der Nähe der Mutter zu sein. Er stellte seinen intimen Wunsch über die Verpflichtungen seines Berufs nicht nur, sondern auch gegen die Vielzahl der Erlebnis-Wünsche jener mehr als 600 erwartungsfrohen Theaterbesucher & kündigt damit den unausgesprochenen, jedoch de facto bestehenden Vertrag, der mit dem Kauf einer Eintrittskarte zwischen dem Schauspielhaus & seinen Besuchern geschlossen wurde. Er könnte nur »durch höhere Gewalt« (wie z.B. individuelle Krankheit der Darsteller) aufgehoben werden. Diese »höhere Gewalt« würde Darsteller wie Besucher gleichermaßen zu »Opfern« eines »Schicksalschlags« machen. Der Wunsch & Wille des Darstellers, bei der Geburt seines Kindes »dabei zu sein«, ist keine höhere, i.e. gewissermaßen metaphysische Gewalt. Gewalt ist es gleichwohl, weil der Darsteller des Achill die Theaterbesucher zu den Opfern seiner persönlichen Willkür macht. Hätte er den wahren Grund seines prekär-egoistischen Verhaltens durch die Lüge einer persönlichen Erkrankung verschleiert, wäre wohl allen mehr gedient gewesen. Indem er die Wahrheit sagte, hat er die über 600 davon Betroffenen düpiert, weil er ihnen seine »Souveränität über den Ausnahmezustand« demonstrierte & ihnen ihre Ohnmacht vor Augen stellte. Zugleich aber offenbarte, dass er nicht willens war, die Kunstfertigkeit über die Akzidenzien seines Lebens zu stellen – wie es die höchste Ehre des Künstlerberufs geboten hätte.

                                            *

Was tun? – Zu Sylvester haben wir entfernt wohnende Freunde mit dem Taxi besucht. Auf der Hinfahrt hatten wir einen schon 16 Jahre in Deutschland lebenden, lachfreudigen Afrikaner aus Sierra Leone als Fahrer. Auf der Rückfahrt war es ein sympathischer junger Mann mit einem fusseligen Bart, wie er häufig von Salafisten getragen wird. Er erzählte, dass seine Eltern aus Kaschmir stammen, er aber in Deutschland geboren sei & ein begonnenes Studium aus finanziellen Gründen habe abbrechen müssen & deshalb als Taxifahrer arbeite. Es war die Bartform & die Selbstaussage von der Herkunft seiner Eltern, die ihn uns »verdächtig« erscheinen ließen. So sehr, dass wir uns offenbar noch nicht einmal getrauten, ihn (wegen seines Bartes) zu fragen, ob er Salafist sei. Weder erweckte er durch sein sonstiges Verhalten diesen Eindruck, noch suchte er ein Gespräch, wie wir es schon oft mit muslimischen Taxifahrern über Religionen geführt hatten. Offenbar – so überlegte ich im Nachhinein – waren wir mit Ängstlichkeit gewiss, einen muslimischen Fundamentalisten vor uns zu haben, der insofern ein angenehmer Zeitgenosse zu sein schien, als er nicht versuchte, uns mit seinem religiösen Eifer zu belästigen oder als »Ungläubige« zu beleidigen. Eine gleichaltrige Bekannte, die kürzlich mehrfach südlich von Frankfurt »auf dem Land« Taxi fahren musste, hatte vor ein paar Tagen von Gesprächen mit muslimischen Taxifahren erzählt, die ihr vom »Respekt« für die »Reinheit« der Muslimas geschwärmt & voller kalter Verachtung über die »dekadent« gekleideten, »nuttigen« nicht-muslimischen jungen Frauen gezetert hatten.

(Werfen solche moralistische Rigiditäten nicht schon ein Licht auf die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof in der Sylvesternacht? Denn das Hohe Lied auf die »Reinheit« der eigenen »Unberührbaren« wird begleitet vom Jagdfieber auf das nuttige »ungläubige« Freiwild, dessen viriler »Gebrauch« ja ohnedies nur dessen angeblicher versucherischen Aufforderung entspreche.) 

Hätten wir unseren Taxifahrer befragen sollen? Und wenn er unsere Vermutung bestätigt hätte, was dann? Sind wir unserem Vorurteil gefolgt, das durch die zwei Anzeichen das Ergebnis einer privaten Rasterfahndung gewesen wäre? Immerhin hat diese Bartform ihre grundsätzliche Ambiguität verloren & wird bei Muslimen als Erkennungszeichen von Fundamentalisten gebraucht; wer sich zu ihr entschließt, weiß damit, dass er als Fundamentalist angesehen wird, falls er nicht sogar als solcher erkannt werden will!

Gesetzt also, mein Vorurteil habe zugetroffen & der Mann sei wirklich Salafist gewesen: was hätte das für mich bedeutet? Hätte ich auf seine Taxidienste verzichten sollen? Hätte ich ihm darstellen, bzw. erklären müssen, warum ich ihn zurückweise  & zugleich eine Diskussion über Religion, die mit Fanatikern sinnlos ist, verweigern dürfen? Ist ein am Bartwuchs erkennbarer Salafist automatisch ein potentieller Terrorist? Wie wäre mit einem solchen potentiellen »Schläfer« umzugehen?

Kurzum: ist der Alltag noch links-liberal leb- & tolerierbar, wenn er alltäglich nicht mehr ist?

                                             *

Ahnungslose Nachfolge - »Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen - der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe«, behauptete André Breton in seinem »Zweiten Manifest des Surrealismus«.

Er hat diese Sätze 1930 in Paris geschrieben. Sie gehören der europäischen Literaturgeschichte an & blieben ästhetische Fiktion. Der im gleichen Jahr entstandene zweite Film des auch in Paris lebenden spanischen Surrealisten Luis Bunuels (L'Age d'Or) kam (u.a. mit seiner Vorstellung einer de Sadeschen Orgie unter der Jesu' Beteiligung) dem skandalisierenden & provozierenden Impetus der surrealistischen Künstler-Träume um Breton näher als je ein anderes Werk.

Aber erst 85 Jahre später ist »die einfachste surrealistische Tat« – und zwar in Paris! – in blutige Wirklichkeit umgesetzt worden, ohne dass die islamistischen Täter ahnten oder gar wussten, dass ihr Hass dem Hass André Bretons gleichsam aufs Wort gefolgt ist.

Wer auf den derzeitigen Weltzustand blickt, könnte verzweifelt stöhnen: »BeiGOtt, wir leben in surrealistischen Zeiten!«


Artikel online seit 07.01.16
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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