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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Petits riens (fünfzehn)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Aus zweiter Hand - Als mir jetzt der Alexander-Verlag sein Buch »Republik Castorf« zur Rezension anbot, das »Gespräche mit den wesentlichen Protagonisten  der Volksbühne« enthält, ist mir schlagartig bewusst geworden, das ich nie eine von Castorfs Inszenierungen gesehen habe: weder in der Berliner Volksbühne noch irgendwo sonst & auch noch nicht einmal als Adaption im Fernsehen.

Aber gelesen habe ich nahezu jede Kritik – ob Verriss oder Hymnus – in der Printpresse, die sich mit dem ostdeutschen Regisseur & seinem eigenwilligen szenischen Oeuvre beschäftigte. Auch ein ganzseitiges Interview in der SZ mit Castorf, in dem er vieles an- & aussprach, was mir außerordentlich gefiel, ist mir erinnerlich. Aufgrund des daraus erkennbaren Charakterbilds, der Ästhetik & Eigenart seiner Theaterarbeit, wie sie von den Kritiker-Kollegen dargestellt wurde, kann ich mir aus zweiter Hand mosaikartig eine wohl zutreffende Vorstellung von der »Republik Castorf« & ihren Protagonisten machen – ohne sie auch nur je auf einer Theaterbühne gesehen zu haben. Was zur Summa fehlt, sind »authentische« Theater-Erlebnisse mit wenigstens einer Castorf-Inszenierung.

Ich glaube, dass mein Verhalten zu Castorf nicht ungewöhnlich ist für den historischen Feuilletonleser der (Print-)Zeitungen. Nur die wenigsten Gegenstände, die im Feuilleton kritisch verhandelt wurden, hat man als dessen regelmäßiger Leser selbst erlebt oder kennengelernt. Umso weniger, wenn es sich um Ereignisse oder Gegenstände  außerhalb des eigenen lokalen Erlebnisraums & jenseits der eigenen Interessen handelte.

Es ist nichts Ungewöhnliches daran, dass auch ein Feuilletonleser der Printpresse (wie ein Leser von deren Wirtschafts-, Lokal- oder Sportteils) überwiegend Kritiken von kulturellen Ereignissen las & deren Information, Urteil, Darstellungsweise oder deren Autor schätzte - obwohl er nie & nimmer die Mehrzahl z.B. der Opern, Ausstellungen, Filme besucht oder die besprochenen Bücher gelesen hätte oder gar lesen würde. Die optisch-haptische gleichzeitige Präsenz auf der Zeitungsseite regte einen gewissermaßen »magisch« an, auf diesem feuilletonistischen Blumenfeld wie eine nach Nektar suchende Biene herum zu streifen.

Wir alle waren gewohnt, über die Feuilletons der überregionalen Zeitungen der BRD (FAZ, SZ, FR, ZEIT) & durch deren herausragende Autoren »auf dem Laufenden« über alle Entwicklungen in allen kulturellen Sektoren gehalten zu werden – ohne als Zuschauer       oder -hörer sich selbst ein eigenes Erlebnis-Urteil gebildet zu haben oder bilden zu können. Einlässliche Kritiken von z.B. Schulze-Vellinghausen, Günter Blöcker oder Joachim Kaiser – Autorenamen, die heute schon Schall & Rauch sein  dürften – waren auch generell Informationen über »den Stand der Dinge« in kulturellen Bereichen, in denen man sich möglicherweise selbst nie (& schon gar nicht als Kenner) aufgehalten & umgetan hatte. Das war unter uns »Produzierenden & Konsumierenden« der Kultur so selbstverständlich wie etwa die ausufernden Detailkenntnisse z.B. von Sportteillesern.

Der »Gebrauchswert« dieses kulturellen Interesses war gewissermaßen identisch mit dem »Tauschwert« aller unserer Kenntnisse, Urteile & Meinungen, die doch  überwiegend  aus zweiter Hand über das »Nicht-Authentische« stammten.
Wie auch anders?
War es das, was heute von der »Netzwelt« mit  pharisäerhaftem Stolz, »keiner von jenen mehr zu sein«,  als »bildungsbürgerlich« inkriminiert wird?                         

                                            *

Alla Calabrese. Sooft ich in einem italienischen Restaurant oder einem Pizza-Laden im Rhein-Main-Gebiet während der letzten Jahre nach der Herkunft der Kellner (oder Besitzer) fragte, immer bekam ich dieselbe Antwort: Kalabrien. Nie kam einer aus einer anderen Region Italiens, immer alle nur aus »Kalabrien«. Kürzlich erst erzählte uns einer dieser »Kalabresen« in einem ebenso vorzüglichen wie mit gut gelaunten Kellnern reich gesegneten großen Innenstadt-Italiener, dass er seinen dreiwöchigen Urlaub nicht in seiner Heimat  (an der Stiefelspitze Italiens), sondern in »einem seiner zwei Häuser in der Umgebung von Ferrara« (Emilia- Romagna) verbringen werde. Zum Geburtsort habe er keinen Kontakt mehr. »Seit wann«, fragte einer von uns sich & uns, »kann man als italienischer Restaurant-Kellner in Deutschland sich in Italien Häuser bauen?«.

Gute Frage?!. Geht man davon aus, dass vor allem das italienische Gaststättengewerbe in Deutschland von der Kalabresischen Spielart der Mafia, der Ndrangheta, »kontrolliert«, wenn nicht gar teilweise organisatorisch gemanagt wird, um vornehmlich zur »Geldwäsche« benutzt zu werden, wären einige rätselhafte Fragen zufriedenstellend zu beantworten.

Die sogenannte »Schutzgelderpressung«, mit der uns vornehmlich Martin Scorseses New Yorker Mafiafilme bekannt gemacht haben, träfe auf diese deutschen Lokalitäten längst nicht mehr zu. Oder heute nur noch für  jene Lokale, die in privatem Besitz sind. Aber nicht für jene, die bloß de jure einem Strohmann gehören, de facto aber Eigentum der Organisation selbst sind. Deren Strohmann & sein Personal wären dann Gehaltsempfänger der Ndrangheta. Das Restaurant oder die Pizzeria  hätte gar nicht den primären finanziellen Zweck, lokal Gewinn zu erwirtschaften; sondern das Geschäft machte seinen primären (verdeckten) Gewinn, indem es »Schwarzgeld« in den legalen Kreislauf einfüttert (z.B. dadurch, dass es, pro forma, nicht reale Umsätze mit fiktiven Gästen fingiert.)

Das hieße aber auch: ein solches Lokal wäre von der profitorientierten Haushaltsführung halbwegs »befreit«; es könnte dadurch in vielerlei Hinsicht der Marktkonkurrenz überlegen sein (& doch auch noch Profit machen): indem es seinen Angestellten bessere Gehälter als die private Gaststätten-Konkurrenz zahlt & damit qualifizierteres Personal beschäftigt, dessen ökonomische Zufriedenheit für ein »lockeres« oder »familiäres« Betriebsklima vor allem im Servicebereich sorgt. Es könnte aber auch eine bessere gastronomische Qualität & Quantität durch den finanziellen »Zuschuss« zum Zweck der Geldwäsche zu »attraktiven« Preisen anbieten, die eine bestimmte bürgerliche Klientel zur Stammkundschaft macht: mithin eine »Spitzengastronomie« ohne deren Spitzenpreise.

Unklar ist mir nur: ob bei dieser Reverie die Gäule meiner eigenen  kriminellen Energie mit mir durchgegangen sind; oder ob meine Spekulation über die Gründe mancher Ungereimtheiten unter den »Kalabresen« (die mittlerweile schon in der dritten Generation hierzulande leben) mich halbwegs in die Nähe des organisierten klandestinen Geschäftsmodells mancher gastronomisch hoch respektabler italienischer Restaurants im Rhein-Main-Gebiet geführt hat. Die allermeisten Kunden, die es sich bei ihrem Duz-»Italiener« gastronomisch gut gehen lassen, wollen es so genau auch nicht wissen.        

                                             * 

Noli me tangere - Es gab in meinem beruflichen Umgang als Kritiker mit Büchern & Filmen immer mal wieder den einen oder anderen Fall, dass ich die Lektüre abgebrochen oder das Schreiben einer Kritik unterlassen habe. Manchmal wusste ich, warum ich lieber schweigen sollte, als »unter allen Umständen« mich kritisch zu äußern; öfters wusste ich es nicht, obgleich ich davon ausging, dass das in Frage stehende Werk von hoher Qualität war. Nur blieb sie mir & meinem kritischen Zugriff verschlossen. Das zu erkennen, schien mir das einzig Adäquate; nebenbei: auch das Fairste – um dem unzweifelhaft künstlerisch Gelungenen den nötigen Respekt, wenn auch in der Distanz zu erweisen.

Bei Filmen war diese Entscheidung zur Zurückhaltung leichter zu treffen – weil man das in Frage kommende Werk in eineinhalb bis zwei Stunden überblicken & erfahren konnte, um zu wissen, ob es einen zu einer abstrahierenden kritischen Beschäftigung anregen, reizen, provozieren könnte; oder ob es einen so gleichgültig ließ, dass es absehbar war: es würde in einem nichts Nennenswertes auslösen oder eine intensivere Beschäftigung mit ihm Lust bereiten. Wenn man das erkennt/erfühlt, ist es besser, sich nicht als der große Zampano aufzuspielen, der als Kritikerpapst aller Welt verkündet, was er davon hält – bzw. seine folgsame Leser informiert, was sie davon gefälligst zu halten hätten.

Bei Büchern, deren Lektüre erfahrungsgemäß mehr Zeit verlangen als ein  Film – wobei ein Film, dessen »Lektüre« nahezu ebenso lang dauerte wie die eines Buches, immer provozierend wäre - , entscheidet der Beginn darüber, ob man als Kritiker von ihm zu einem möglichen/denkbaren Urteil gereizt wird. Wenn man den Autor von früheren oder anderen Bücher her kennt (& deshalb schätzt), ist es umso verwirrender/verwunderlicher, wenn man auf eines seiner Bücher trifft, das einen abzuweisen scheint oder mit dem man auf Anhieb nicht warm wird. Auch, wenn man mehrfach vergeblich versucht hat, seine Bekanntschaft zu machen, um mit ihm intim zu werden, irritiert einen seine vermeintliche kategorische Zurückweisung selbst dann noch, wenn man längst resigniert das eigene Scheitern akzeptiert & endgültig resigniert hatte.

So ist es mir nun mit G.K. Chestertons  Sammlung »Vier verehrungswürdige Verbrecher« leider gegangen. Allein der Titel scheint ein gedankliches Vergnügen am Paradox zu annoncieren, dessen Aussicht mir umso gelegener kam, als mich bisher der englische Katholik mit keinem seiner vielfältigen Werke erzählerischer oder essayistisch-polemischer Natur enttäuscht hatte. Er gehört sogar zu meinen Lieblingsautoren; übrigens ohne dass ich seine Ansichten immer teile. Aber sein Sprach- oder Gedankenwitz ist gewissermaßen von »Lichtenbergscher« Qualität – quicklebendig, unvorhersehbar, überraschend, brillant. 

Soweit ich aber zu den »Vier verehrungswürdigen Verbrechern« auch immer vorgestoßen war, habe ich derlei autoreigene Qualitäten nicht entdeckt, bemerkt oder wahrgenommen, so dass ich nun – nach drei Versuchen – mit Bedauern (über mich, versteht sich) das einst erwartungsfroh aufgeschlagene Buch für immer geschlossen & Kopf schüttelnd ad acta gelegt habe. Andere Leser mögen damit glücklicher sein oder werden.

                                              *

Fanpost Der wegen 77fachen Mords vornehmlich an Kindern zu lebenslanger Haft verurteilte Anders Behring Breivik habe schon Tausende Briefe erhalten, schreibt eine des Norwegischen mächtige Lokalredakteurin der Frankfurter Rundschau am 5. Jahrestag des »größten europäischen Massakers nach dem zweiten Weltkriegs«. (l). Darunter seien zahlreiche Liebesbriefe von Frauen – nicht nur aus Norwegen, sondern auch aus Polen, der Ukraine, Kroatien, Schweden, Belgien, Finnland, Deutschland & Russland, wo eine Breivik-Community 3800 Mitglieder haben will, während die englischsprachige »nur« 150 Mitglieder zählen soll.

 »Hybristophilie« sei der medizinische Fachbegriff für dieses seltsame perverse weibliche Psycho-Phänomen, schreibt die junge Journalistin, von dem man dies & auch das übrige ihrer aufs gruselige Schaudern versessenen Recherche zu den weiblichen »Fans« & ihren »Liebesbriefen an einen Massenmörder« nicht erfahren hätte, wenn die FR ihr nicht bereitwillig Auslauf gegeben hätte: auf dem Boulevard einer verschwenderisch farbig illustrierten Doppelseite.   



Artikel online seit 10.08.16
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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