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 Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik



Petits riens (35)
Von Wolfram Schütte

    


© R. Reifenrath

Romänchen - Der erste Satz lautet: »Lang Zeit habe ich darüber nachgedacht, dass unter allen öffentlichen Toiletten, die ich  im Laufe der letzten Jahre einigermaßen regelmäßig aufgesucht habe, mir die des Schwimmbads in Königstein am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben ist. Weil sie, wann immer ich sie betrat, gleichmäßig intensiv, um nicht zu sagen betörend, nach Himbeer-Parfüm roch«. Dem folgt der ungeschriebene Roman.

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Fernbedienung – Einem Bericht der FR entnehme ich die Behauptung, dass ein lukrativer Betrug, der seit geraumer Zeit in Großstädten wie Frankfurt epidemisch an der Tagesordnung ist, »in der Regel von türkischen Callcentern aus gesteuert wird«. Vermutlich basiert diese Behauptung auf polizeilichen Erkenntnissen.

In dieser Form des bandenmäßigen Betrugs werden zumeist alleinstehende ältere Menschen von vorgeblichen Polizisten angerufen, die sie auffordern, ihr Geld – zumeist größere Beträge -  von zuhause oder der Bank abzuheben & auf abenteuerliche Weise für den zugreifenden »Schutz der Polizei« bereitzustellen - & zwar im Öffentlichen Raum. Das kann dann z.B. eine von Geldscheinen pralle Mülltüte sein, die unter einer Parkbank oder neben einen Glassammelcontainer deponiert werden soll - oder, noch grotesker, in dem Korb eines  Fahrrads, das vor der eigenen Haustür darauf wartet, dass der sogenannten »Abholer« den dort deponierten Geldbetrag abgreift. Bei den jüngsten Fällen handelte es sich jeweils um Beträge zwischen 40.000 bis 140.000 € & um männliche wie weibliche Opfer zwischen 73 & 89 Jahren.

Das besondere Raffinement, um nicht zu sagen: der Witz dieser telefonisch vermittelten Betrugsfälle besteht darin, dass diese Kriminellen ihren böswilligen Fischzug ausführen, indem sie explizit vor sich, sprich vor der Bedrohung durch ihresgleichen Betrüger warnen & sich gerade dadurch umso suggestiver als schützende polizeiliche Retter ausgeben können. Diese Selbstreferentialität der betrügerischen Aktion scheint noch besser zu täuschen als der sentimentalistige Trick, einem angeblich verschuldeten jugendlichen Verwandten mit der diskreten persönlichen Geldspende aus der Patsche helfen zu können, womit ein anderes Geschäftsfeld angesprochen ist, das ebenso erfolgreich bislang von den Banden beackert wird.

Zu gerne wüsste ich, ob sich das Geschäft mit derlei Betrug an Senioren auf ganz Europa erstreckt; wo er besonders erfolgreich ist & wie die Betrüger zu ihrem Wissen über die finanzielle Potenz ihrer Opfer gelangen – speziell, wenn die Aktion von einem türkischen Callcenter aus gesteuert werden sollte. Da müsste schon eine ganze Menge Logistik, überzeugender Rhetorik & eine Vielfalt krimineller Energien zusammen kommen!

                                       *

Trübe Aussicht - Eine siebzigjährige international bekannte & angesehene Koryphäe der Sozial-Philosophie, ist ratlos, wenn es um die Zukunft ihrer mehrere tausend Exemplare umfassende Fach-& Belletristik-Bibliothek geht. Denn die studierenden Söhne, mutmaßt der weltbekannte Prof., hätten, weil sie »mit dem Internet aufgewachsen« seien »daran wohl nur geringes Interesse«. Wahrscheinlich ist das sogar noch eine geschönte Annahme, weil der Autor mehrerer Bücher bekennt, »mit Angst und Schrecken« an die absehbare Nicht-Zukunft seiner Bibliothek zu denken, da ja auch Antiquare - die sich noch in der »analogen Zeit« ob der Aussicht auf eine solche »Premium«-Bibliothek die Hände gerieben & Abnehmer gekannt hätten -  heute nicht mehr als vermittelnde Interessenten zur Verfügung stehen.

Ist jemandem noch erinnerlich, dass komplette Programme von DDR-Verlagen »nach der Wende« auf den Müll geworfen & derart »entsorgt« wurden? Für uns Bibliomaniaks, für die seit den nazistischen Bücherverbrennungen Bücher wie die heiligen Kühe der Hindus unter dem Tötungstabu standen, wurde damals solche Beseitigung von angeblich wertlosem »Propagandaschrott« der DDR hingenommen. Keiner ahnte, dass ein Jahrzehnt später Buch & Literatur in toto obsolet werden würden & selbst hochrangig bestückte Bibliotheken vor ihrer totalen »Entsorgung« als Müll  nicht mehr sicher sein & der rabiaten Furie des Verschwindens anheimfallen würden. Hinterlassene Haustiere haben heute gewiss eine größere Überlebenschance als hinterlassene Bücher.

Ich warte auf den Tag, an dem bekannt wird, dass einer unserer Bücherfreunde verfügt hat, im Kreise seiner Bibliotheksschätze beerdigt zu werden. Solche sepulchrale Nachfolge der alten Ägypter oder Skyten erschiene mir dann doch dem Buch & seiner geistigen Würde & existentiellen Rolle in der Gutenbergzeit adäquater als seine brutal-banale Zerstreuung im Müll.

                                           *

Postumes Autodafé Willi Winkler hat jetzt in der SZ (23.7.19) dem Fall des Schriftstellers Michael Rutschky eine ganze Seite gewidmet. Zu einem Skandal-Fall & einem moralischen Ansehensverlust ist der 2018 gestorbene Autor jetzt durch die umgehende Publikation einer Auswahl seiner Tagebücher (»Gegen Ende«) geworden.

Mit seinem Essay »Erfahrungshunger« (1980) war Michael Rutschky schlagartig unter jüngeren bundesdeutschen Intellektuellen bekannt & zusammen mit seiner streitbaren Ehefrau Katharina (»Schwarze Pädagogik«, 1977) berühmt geworden. Das Paar sammelte in Berlin-Kreuzberg einen Freundeskreis um sich: Gleichgestimmte, die von der intellektuellen Brillanz der beiden fasziniert waren. Dazu gehörte auch der langjährige »Merkur«-Redakteur Kurt Scheel, der sich um den seit dem Tod seiner Frau 2010 vereinsamten Autor als engster Freund kümmerte & von dem todkranken Rutschky den Auftrag übernahm, dessen Tagebücher in Auszügen zu edieren. Kurz, nachdem er diesen letzten Freundesdienst absolviert hatte, brachte Scheel sich um.

Scheels Nibelungentreue & anschließender Suizid wurde von den ersten Rezensenten von »Gegen Ende« dann auch sofort mit den zahlreichen abfälligen, beleidigenden Tagebuch-Einträgen Rutschkys über seinen postumen Editor in Verbindung gebracht. Auch andere intime Selbstoffenbarungen des Diaristen irritierten die davon namentlich Betroffenen & andere Rutschky-Bewunderer. Ein weiterer Auswahl-Band von Rutschkys Tagebüchern, schreibt Winkler, werde nun nicht mehr erscheinen. Ob wegen des Personenschutzes der Beleidigten oder um weiteren Schaden am Andenken des vor einem Jahr verstorbenen Rutschky zu verhindern?

Es ist nicht das erste Mal in der jüngeren deutschen Literatur, dass (postum publizierte) Aufzeichnungen sowohl Lebende justiziabel zu beschädigen geeignet sind – als auch das bisherige öffentliche Charakterbild des Toten negativ tangieren. Die deutsche Justiz hat bisher im Zweifelsfall den Persönlichkeitsschutz der Lebenden über die Freiheit der Kunst (& was sie sich »erlauben« darf) gestellt.

Das war der Fall  sowohl bei einer postumen Schmähung der geschiedenen Ehefrau Uwe Johnsons durch den Autor, als auch bei Maxim Biller, der bei einem »Roman« damit renommierte, unter dem vermeintlichen Schutz des Kunstvorbehalts intimste sexuelle Details einer ehemaligen Geliebten ausgebreitet zu haben, wogegen die Betroffene geklagt & das Verbot des fingierten Romans erreicht hatte.

Hatten noch einige Bloßgestellte gegen die rücksichtslosen Sottisen & »Offenbarungen«, die der »März« Verleger Jörg Schröder in seiner 1972 ersterschienenen Autobiographie »Siegfried« in die Welt gesetzt hatte, juristisch erfolgreiche Schritte unternommen, so unterblieb dergleichen, als der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz in 2 Tagebüchern ((2010/2014) seine Schatztruhe der Indiskretionen & üblen Nachreden zur hämischen Schadenfreude der Zaungäste des deutschen Literaturbetriebs aufmachte & derart noch aus dem Klatsch seines gelebten Lebens skandalisierend pekuniären Gewinn als pfiffiger Denunziant zog.

Was Rutschky zum Verwundern, Kopfschütteln & vor allem Entsetzen gerade seines engsten Bekannten- & Freundeskreises über sie alle, seine  Frau & sich selbst notiert hat, ist wohl in der Tat das, was er »Das Wahre Buch« nannte (wie Winkler berichtet.).

Sehr gut kann ich alle verstehen, denen nun die Haare zu Berge stehen angesichts dieses postumen literarischen Selbstporträts & der Coolness, mit der Rutschky seinen (Lebens- & Gedanken-)Stoff registriert, notiert, be- oder verurteilt. (Ähnliches werden auch manche, die sich für FJRs Freunden hielten, von Raddatz »Opfern« gedacht haben.)

Der Freund Jörg Lau mutmaßt im »Wahren Buch« Rutschkys präsumtives »Hauptwerk«. Irgendwann muss dem brillanten Essayisten klar geworden sein, dass er es (wie Tom Wolfe) zum Romancier nicht bringen würde, so sehr er sich das auch wünschte. Der Essayist, dessen stilistisches »Alleinstellungsmerkmal« die (ironische) Distanz zu sich u.a. in der Reduktion von Namen auf Initialbuchstaben sich darstellte, hat womöglich & vielleicht die literarische Quadratur des Kreises im rücksichtslosen Hunger nach der Erfahrung mit sich selbst zu finden gehofft.

Seit Rousseaus »Bekenntnissen« träumt die Literatur, wenn ihre Autoren besonders verzweifelt radikal & authentisch sein wollen, immer wieder davon, einzig & allein ohne moralische Tabus vom Menschen (»wie er ist«) zu berichten. Nietzsche hat gefragt: »Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist?« Als Ethnologe des eigenen Ichs mit »moralinfreier« (Nietzsche) Kühle sich und andere dabei zu protokollieren, wie sie »leben«, könnte ich mir als imperativen Vorsatz einer exemplarisch sich verstehenden literarischen Existenzweise vorstellen – umso mehr, als nach »Erfahrungshunger« z.B. mit »Wartezeit« (1983) oder »Mitgeschrieben« (2015) bereits einige »Sittenbilder« & »Sensationen des Gewöhnlichen« von diesem Autor vorliegen. Insofern könnte man in »Gegen Ende« die ultimative Aufdeckung der enggeführten, auf sich & seinen Lebens-& Personenkreis fokussierten  mitleidlosen Selbstdarstellung sehen.

Wäre es so, wäre der emotionale Instant-Gewinn für den Autor gewesen, insgeheim als Diarist in seinem Mut wie in seiner Wut zu schwelgen & zugleich eben dadurch als einziger Gott gleich sich über die von ihm protokollierten  Zeugnisse des Ecce homo  zu erheben. Wäre das eine ästhetizistische Deutung von Rutschkys  Notaten & Urteilen? Oder ist es viel einfacher? Hat die Verbitterung über die Verfehlung eines zu hoch angesetzten Ehrgeizes den über sich selbst enttäuschten Schriftstellers zumindest aus der Niederschrift der Schmähung aller anderer jeweils wenigstens temporär Trost-Genuss ad se ipsum  gezogen? Der klandestine Selbstgenuß durch die niedergeschriebene Erniedrigung (auch der nächsten Menschen) wäre dann wohl so stark (intensiv), dass die damit dokumentierte ethische Selbstbeschädigung vom Autor billigend oder gedankenlos hingenommen würde, bzw. gar nicht in Betracht käme.

Denn die jetzige Empörung über Rutschkys Tagebuch-Gemeinheiten ist mir zu reflexhaft moralisierend. Dabei gehörte die empirische Person Michael Rutschky gar nicht zu jenen intellektuellen Zeitgenossen, mit denen ich gerne näher bekannt gewesen wäre.  

Artikel online seit 14.08.19
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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