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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


 

Petits riens (24)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Wo ich nichts weiß, macht mich nichts heiß -. Der in Berlin-Neukölln geborene Intendant der Münchner Kammerspiele, Peter Lilienthal, äußerte am 29.6.2017 vin einem Interview des Wiener »Standard« zur derzeit prekären Resonanz seines Theaters: »Wir arbeiten mit einer Gruppe relativ junger Regisseure, und wir stellen die komplette Veränderung von Sehweisen fest. Die heute Zwanzigjährigen, die keine Zeitung lesen, kein Fernsehen gucken, die Bücher lesen unter anderen kulturellen Tätigkeiten – für die ist zum Beispiel Kino genauso museal geworden wie Theater. Film ist heute eine staatlich subventionierte Kunst, wenn man von ein paar Hollywoodschinken absieht«.

An dieser Annahme könnte einiges zutreffend sein, zumindest aber nachdenkenswert. Offenbar spricht der 57jährige Lilienthal sowohl von jüngeren Regisseuren als auch jüngeren Besuchern seines Theaters, das derzeit Schwierigkeiten habe, zwischen dem angestammten traditionellen »bildungsbürgerlichen« älteren & dem jugendlichen  Publikum eine gelungene Balance zu finden. Interessant scheint mir Lilienthals Eindruck von der »kompletten Veränderung von Sehweisen« zu sein. Er führt sie auf eine andere Lebensweise bei den »heute Zwanzigjährigen« zurück.

                                             *

Verlust-Anzeige – Ist schon mal jemandem aufgefallen, dass der Begriff (& das Faktum?) der »Öffentlichkeit« aus der politischen & kulturellen Diskussion & Agenda in Deutschland fast ganz verschwunden ist? Dabei waren Buchtitel wie Habermas' «Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1962) oder Kluge/Negts »Öffentlichkeit und Erfahrung«(1972) nicht nur leuchtende Signalements, sondern dank des Bestseller-Erfolgs beider Bücher so etwas wie semantisches Allgemeingut. Letzteres bezeichnet aber nicht nur geistige Wirkmacht von Begriffen, Gedanken oder Ansichten, sondern auch die virtuelle, juristische & materielle Existenz eines »öffentlichen Raums« (bzw. eines eben solchen Raums für die Existenz der »Öffentlichkeit«). Die (bürgerlich-demokratische) Gesellschaft hat damit Räume benannt, die per se nicht einem, sondern allen ihren Mitgliedern »gehörten«. Sie dienten als »Agora« für den gemeinsamen Verkehr unter- & miteinander. Ihr Tabu bestand darin, dass sie frei von  partikularen Interessen & privater Verfügungsmacht sein sollten.

Wie die öffentlichen Bürgersteige in unserem urbanen Leben mehr und mehr im Sommer zum Slalomkurs des Fußgängers um die von der Straßengastronomie privatisierten Teile der Trottoirs wurden, so verschwand das Apriori des Öffentlichen & seines Raums unter der Suprematie des allmächtigen Ökonomischen. Die dem Feudalismus mühevoll & konfliktreich abgerungene materialistische Idee & Praxis öffentlicher, will sagen: allen gehörender Räume, Lebensgrundlagen & Verkehrsformen etc. scheint auf dem Weg zur Kapitalisierung der Welt nur eine historische Phase gewesen zu sein. Brecht/Weills Oper »Mahagonny« mit dem allgemeinen Versprechen, dass »man hier alles dürfen darf (wenn man Geld hat)«, war 1930, als die beiden sie schufen, noch eine hellsichtig überzeichnete Utopie des Kapitalismus. Heute erst hat die gesellschaftspolitische Realität bei uns bis ins Detail die Utopie realisiert & im Gegengeschäft das Tabu von Öffentlichkeit & deren Raum kassiert.

                                               *   

Der kleine Unterschied – Wenn man den ironisch-kritischen, aber auch bitteren Nachruf liest, den der »New Yorker« (21.7.07) Sean Spicer widmet, dem nun zurückgetretenen ersten Sprecher des Weißen Hauses unter Trump, stößt man darauf, dass dieser politischen Figur unabweislich zutreffend vorgeworfen wird, öffentlich gelogen & zum Wohl des lügnerischen Präsidenten ins Angesicht aller Wissenden bewusst gelogen zu haben. Derartiges hat man noch nie in den Jahrzehnten nach Goebbels von irgendeinem Regierungssprecher gelesen; auch nicht über demokratisch gewählte Repräsentanten der westlichen Welt. (Saddam Husseins militärischer Pressechef wurde, wegen seiner lügnerischen Großmäuligkeit als »Lachnummer« betrachtet, aber nach Saddam Husseins Sturz hingerichtet.) 

Zugleich wird vom liberalen »New Yorker« gefragt, wann Trump die »rote Linie« überschritten habe, die auch seine bisherigen republikanischen Unterstützer zur Abkehr von ihm motivieren könnte. Ein verzweifelte politische Hoffnung – als sei die »rote Linie« nicht längst dann überschritten, wenn nachweislich das höchste politische Personal  routinemäßig, laufend & schamlos lügt. Goebbels hätte man in seinem Machtbereich derlei Wahrheiten natürlich nicht folgenlos entgegenhalten können; auch Erdogan in der jetzigen Türkei wohl nicht.

Ist es ein »Fortschritt«, dass der Autor des »New Yorker«, der das offen aussprach, nicht um Leib & Leben fürchten muss? Selbstverständlich! Wenn auch sein offenes Wort sowohl für ihn wie für den damit Identifizierten folgen- & konsequenzlos bleibt.   

                                              *

Kniefall Als die deutschen Studenten, kaum waren die Nazis »an der Macht«, überall in den deutschen Groß- & Universitätsstädten öffentlich Scheiterhaufen für Bücher errichteten, um erst einmal nur symbolisch den »undeutschen Geist« dem »Dritten Reich« auszutreiben, bat der urbayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf, der in die Emigration gegangen war, in einem international Aufsehen erregenden Offenen Brief : »Verbrennt mich auch!«. Lieber wollte der veritable »Volksschriftsteller« mit den Manns, Freud, Brecht, Tucholsky etc. verfolgt zu werden als von den landsmännischen Barbaren verschont worden zu sein.

An das heute wahrscheinlich weithin vergessene geniale Pamphlet O.M.Grafs fühlte ich mich jetzt erinnert, als ich den Brief las, den der seit März inhaftierte »Welt«-Korrespondent Denis Yücel aus dem Istanbuler Gefängnis schickte & den »Die Welt« publiziert hat. Unter dem ironischen Titel »Türkei-Korrespondent müsste man sein!« blättert der inhaftiert Türkei-Korrespondent in seiner Einzelhaft detailliert auf, womit sich seine noch nicht inhaftierten Kollegen journalistig beschäftigen müssten, um dem Erdogan-Regime & seinen dreisten Lügen offen entgegenzutreten.

Ebenso  kühn verhielt sich nun der Investigativjournalist Ahmet Sik, der das subversive Zusammenspiel von Gülen- & Erdogan-Gang recherchiert hatte, jetzt vor einem Istanbuler Gericht. Sik stand dort zusammen mit zahlreichen anderen Journalisten der kritischen Tageszeitung »Cumhuriyet« wegen »Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Beleidigung von Staatsorganen«. Die taz hat einen Teil seiner Rede publiziert, in der er furchtlos & zornig über die »Schweinerei« der  »mafiaartigen Regierung« spricht. Darin sagt er u.a. »Ich verteidige mich hier nicht. (…) Ich klage an«; als der Richter ihm vorhält: »Sie haben den Staat einen >Mörderstaat< genannt«, entgegnet Sik: »Ich habe untertrieben: der Staat ist ein Serienmörder!« Und er schließt seine Rede, mit der er die Gerichtsverhandlung zum Tribunal gemacht hat, mit den Worten: »Weder ich noch die Journalisten, die draußen sind, haben Angst vor euch, wer auch immer ihr sein mögt. Denn wir wissen, dass das, was Diktatoren am meisten fürchten, Mut ist«.

Allein diese beiden – Denis Yücel & Ahmet Sik – haben die Ehre ihres Berufsstandes nicht nur in der Türkei auf das Ermutigendste gerettet. Der Schillersche »Mut vor Königsthronen«: hier kehrt er beispielhaft & bewundernswert wieder. So »postheroisch«, wie das die jüngsten politischen Opportunisten & Renegaten der »Macht des Faktischen« predigen, sind unsere Zeiten doch noch nicht; zumindest nicht in der Türkei.

                                             *

Die Verwandlung – Als ich eines Morgens zur »Süddeutschen Zeitung« griff, fand ich sie zu einer ungeheuren Mercedes-Benz-Anzeige verwandelt vor. Wo gewöhnlich auf Seite 2 das Thema des Tages ausgebreitet & auf Seite 3 das große, oft literarisch ambitionierte Feature zu finden war, erstreckte sich zweiseitig die Farbanzeige für die neue S-Klasse der Luxuslimousine. Erst danach setzte sich die Paginierung der SZ mit den Seiten 2 & 3 fort.

Ich mutmaße, dass es über diese bislang in der deutschen Printpresse einzigartige werbliche Aufsprengung des zentralen redaktionellen Raums zwischen Verlag & Redaktion zu heftigen Debatten gekommen ist. Denn traditioneller Weise gehören diese ersten 4 Seiten zum tabuisierten Kernbereich jeder deutschen Qualitätszeitung, auf denen keine Anzeigen stehen, schon gar nicht solche Anzeigen-Mammuts. (Nur Springers »Welt« hat schon einmal ihre Erste Seite an einen Werbekunden verkauft.)

Da ich aus Erfahrung weiß, dass derartige Demonstrationen der eigenen Präpotenz immer zugleich an mehreren Stellen des gleichen Umfelds platziert werden, habe ich einen FAZ-Leser gefragt, ob er die gleiche Anzeige am gleichen Platz gesehen habe. Der erste Befragte verneinte generell, habe aber auch nicht darauf geachtet. Ein anderer FAZ-Abonnent jedoch hat die riesige Doppelseiten-Anzeige in der FAZ bemerkt, wenn auch irgendwo im Blatt positioniert.

Die Resonanzunterschiede sind nicht verwunderlich. Indem der SZ-Verlag dem Wunsch der Mercedes-Benz-Werbestrategen nachgegeben hatten, haben sie durch den Tabubruch für die maximale Aufmerksamkeit der Anzeige gesorgt – wohingegen deren Platzierung trotz ihrer exorbitanten Größe dem einen (geübten Anzeigenverdränger?) gar nicht & dem anderen nur beiläufig aufgefallen war.

Selbstverständlich waren beide Zeitungsverlage dankbar für den damit verbundenen finanziellen Großgewinn auf dem ausgetrockneten Anzeigenmarkt für Tageszeitungen der Printpresse. Interessant zu wissen wäre allerdings, ob der SZ-Verlag durch seinen demonstrativen Tabubruch, der zugleich blamabel für die Redaktion war, wenigstens entschieden mehr von dem Automobilunternehmen dafür erwirtschaftete, als die FAZ, die womöglich das gleiche Ansinnen für die ungewöhnliche Platzierung erfolgreich  abgelehnt hat. Wenn das nicht der Fall war, würde das gegen die Geschäftsleitung des SZ-Verlags, jedoch für das Werbemanagement von Mercedes-Benz sprechen.

Ohnehin ist diese Doppelseitenanzeige eine schiere öffentliche Machtdemonstration des Autokonzerns - mit der Aufforderung an die entsprechende Kundschaft, Teilhaber dieser exquisiten Macht zu werden durch den (steuerlich abgesegneten Dienstwagen-) Kauf im »Premiumsegment«. Demnächst also bloß »einsteigen und bei sich selbst ankommen«, wie der Begleittext annonciert.     

Artikel online seit 01.08.17

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen dieser flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

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