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Über James Camerons Avatar  – Aufbruch nach Pandora

Von Peter V. Brinkemper

James Cameron kehrt als einer der wenigen unabhängigen Mega-Produzenten-Regisseure ins Kino zurück. Mit einer neuen HD-3-D-Technologie und dem Teil 1 des alle bisherigen Maßstäbe und Gattungen sprengenden Science-Fantasy-Spektakels: Avatar – Aufbruch nach Pandora (Lightstorm Entertainment  u.a. in Kooperation mit Jacksons Weta-Digital-Studios; 237 Millionen US-Dollar Produktionskosten).
Das Ergebnis: Ein hochsensibler Cameron fabuliert endlos ein Paradies im Nachbarsonnensystem aus, vom Grashalm bis zum Flugsaurier, und schildert den Verteidigungskampf der einheimischen Na’Vi gegen die Ausbeutung und Zerstörung ihres tropischen Planeten durch die menschlichen Kolonisatoren. Die Erzählung erfolgt aus der Perspektive des abtrünnigen Marines Jake Sully (Samuel Worthington, Terminator Salvation). Aliens und Terminatoren mutieren zum Versöhnungsfest im Stil von Herr der Ringe. Abgemischt mit einer wilden Mutation aus Pocahontas und Meuterei auf der Bounty entsteht ein Silent Running (1972) der neuen Dimension. Doch das ist keine Science Fiction mehr, sondern das ist Science Fantasy.
Detailreiche Darstellung, Assoziation und Einfühlung im Zeichen ökologischer Interaktion lösen im Herzen des Filmes das alte Überlegenheits-, Distanz- und Konflikt-Schema von Wissenschaft und Militär, Erkundung und Eroberung, Spekulation und Katastrophe auf. Die außerordentliche Begegnung ließ nur den Sieg der irdischen Rasse (oder ihrer Bakterien, Krieg der Welten) oder der erhabenen Außerirdischen, selbst in Kubricks 2001 und in Spielbergs optimistischem Close Encounters of the Third Kind, zu. In Avatar verwandelt sie sich in neue Koexistenz und Symbiose, auf dem schmalen Grat zwischen Bekanntem und Unerschlossenem, wie er auch in The Mission und 1492: Conquest of Paradise für kurze Zeit sich abzeichnete. Wenn man so will ist das Nietzscheanische Seil zwischen Affe und Übermensch über den Abgrund gespannt; kein Monolith soll es mehr über vier Millionen Jahre trennen.

Camerons Avatar ist eine visuell und emotional bewegende Hymne auf die einfühlsam-intelligente Vernetzung von Mensch und artverwandten Aliens in einer gar nicht so entfernten und doch andersartigen Natur. Und sie wird nicht nur das teure Privatvergnügen eines angeblichen 'Irren' (SZ) und weltfernen Tiefseetauchers bleiben. Dies kann ein weiterer Hit auf der Liste der kommerziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten werden. Schon jetzt ist Avatar ein technologischer Meilenstein des digitalen Kinos der Zukunft. Warum sollte er das nicht auch thematisch sein? Und zwar im Sinne der global erfolgreichsten Medien, die ältere Cold-War-Muster der Science Fiction hinter sich lassen?

Trends im globalen Kinokommerz
James Cameron nimmt immer noch mit Titanic (1997), prämiert mit 11 Oscars, den Platz des kommerziell erfolgreichsten Blockbusters der Welt ein. Und irgendwo ist diese Bastion sogar ein Anachronismus, wenn man bedenkt, in welchem Kontext sie steht: Mit $1.835.300.000 vor Herr der Ringe, Teil 3 (2003); Pirates of the Caribbean, Teil 2 (2006); The Dark Knight, dem Teil 2 der neuen Batman-Serie (2008) und Harry Potter, Teil 1 (2001). Weiter nach unten abgedrängt sind Star Wars, Episode I (1999) und die alte Nummer 1 aus dem Jahre 1993: Spielbergs Jurassic Park, während auch typische Blockbuster wie Ice Age, Teil 3 (2009), Finding Nemo (2003) und Transformers, Neuauflage, Teil 2 (2009) deutlich aufschließen. König der Löwen (1994, Platz 27) zeigt an, dass sich die Genres und Genremischungen erheblich zu Beginn des digitalen 21. Jahrhundert verschoben haben. Schauspieler-betontes theatralisches Drama, psychologisches Kino und Real-Action sind zwar nicht völlig verschwunden, aber an der Blockbuster-Spitze deutlich in der Defensive bzw. nur noch Elemente in weiteren Kontexten. Humorvoll standardisierter  Zeichentrick im Pixar-Style, Fantasy, Mystery, ökologische Epen und Tier-Fabeln, eine Prise Science Fiction light als Action Kracher für die heutige Generation, all dies findet sich ganz vorne im führenden Kino-Konsum aus westlicher Sicht.
Daraus musste auch ein Titan wie Cameron seine Marketing-Schlüsse ziehen: Schon mit Titanic kündigte sich eine inhaltliche Wende an. Cameron verließ das harte Krieger-Szenario zwischen Zukunft und Gegenwart (Terminator  und T. 2), den Kampf kluger und kämpferischer Frauengestalten (Linda Hamilton als Sarah O’Connor in Terminator  und T. 2, Sigourney Weaver als Ripley in Aliens, Mary Elizabeth Mastrantonio als Lindsey Brigman in The Abyss). Cameron wandte sich einer weicheren romantischen Love- und Erinnerungs-Storyline zu, zwischen der bürgerlichen Rose (Kate Winslett) und dem proletarischen Jack (Leonardo di Caprio), allerdings vor dem krachenden Untergrund exakt recherchierter wissenschaftlicher und historischer Fakten und Möglichkeiten. Die an der Oberfläche völlig bekannte Katastrophe um den ausgelutschten Eisberg und das erkundete Original-Wrack im Atlantischen Ozean lief nun in allen schaurigen, längst noch nicht rekonstruierten Details einer leichtsinnigen Jungfernfahrt und des Untergangs, erster und dritter Klasse, ab, als brodelnde Revolution von Mensch und frostigem Wasser vor den weit aufgerissenen Augen der Zuschauer. Dann, zwölf Jahre Spielfilmpause: Cameron taucht wortwörtlich weg und meldet sich mit gelegentlichen Blubs, TV-Dokus und einem Disney-Film Aliens of the Deep.

Die Performance einfangen und gestalten
In Avatar – Aufbruch nach Pandora zieht Cameron alle Register seines logischen, wirtschaftlichen und filmischen Könnens. Er vereint Realfilm und Trickfilm auf einem neuen digitalen High-Definition-Niveau. Eine stereoskopisch dem menschlichen Augenabstand nahe kommende Video-Doppelobjektiv-Kamera (3D Fusion Camera System) nimmt neuartige 3-D-Bilder auf, in einer Art visueller Kunstkopf-Stereophonie, und integriert sie in ein neues Kino-Bild-System, dem RealD 3-D. Die phantastischen Trickumgebungen, die später im Studio nachbearbeitet werden, stehen bereits in Echtzeit der Regie als Monitorbilder zu Verfügung. Schauspieler können dabei frei agieren und in feinsten mimischen Details aus dem Probenraum mit dem Namen Volume eingeblendet werden, bis alles stimmt. Das alte Verfahren von Disney bestand darin: in den abendfüllenden Spielfilmen entweder unbekannt bleibende Schauspieler und Tänzer einzusetzen und dann von Hand zu übermalen, um sie zu geschmeidigen Trickfiguren zu machen, deren grafische Lebendigkeit doch der Realität entlehnt war (z.B. Schneewittchen); oder die Akteure als Realfilm-Komponenten mit dem Trickhintergrund zu kombinieren (Mary Poppins). Cameron führt beides weiter: in den digitalen Möglichkeiten des körpernahen und luziden Performance-Capture-Verfahrens und des digitalen Personen-Designs jenseits der alten Plastik-Masken mit biometrisch langweilig konstanten Augenpunkten (Star Trek).

In Matrix stellte das Motion-Capture-Verfahren bereits eine Revolution dar, wirkte aber in der Bewegungs-Punkt-Erfassung noch wie abstrakte geometrische Physik, die im Bullet-Time-Verfahren effektvoll eingefroren wurde. Camerons quicklebendige Detailstudien realer und virtueller Gesichter und ihre HD-Bearbeitung geben den Ausdruck lebendiger Physis wieder. Das Kino verliert seine abstrakte modernistische und postmodernistische Distanz, es wird zum Okular der greifbaren Natur, sowohl im Dschungel wie in der Zivilisation. Die Unterscheidungen von Einstellungsgrößen wie Close Up und Weit verlieren bei Großprojektionen fast ihren Sinn. Auf diese Weise werden auch ältere Kinobildwelten einer tiefgreifenden Veränderung unterzogen: Die dokumentarische Präzision der Dingumwelt und Technik, die dramatische Linie von klaren Handlungen und Konflikten, die epische Breite und Tiefe der Entwicklung und die poetische Montage der Bilder verlassen den alten technologischen Kino-Kanon und werden aufgeweicht. Frühere Filme, Gattungen und Geschichten verlieren ihren präzisen Vorbildcharakter. Die neuen Bildwelten lassen das Spiel mit ihren eigenen formalen und inhaltlichen Überraschungs-, Überwältigungs- und Fälschungsmöglichkeiten zu, lange, bevor das Game auf dem Markt ist.

Nebel umgibt diesen Film als Reklamegeheimnis, dann als Kinoerlebnis, und Nebel herrscht auch auf dem neuen Planeten Pandora, dem Ziel der Reise Jake Sullys (Sam Worthington). Jake Sully ist der junge einfühlsame und lebensfrohe Marine, dessen Augenaufschlag uns seit den Trailern von Avatar als Leitmotiv verfolgt. Aber die Frage stellt sich: Wo und wann schlägt hier wer die Augen auf? Und was ist wirklich zu sehen? Die Logik des Blicks ist in Avatar keineswegs nur die alte Logik des zweidimensionalen Kinos, obwohl der Film wahlweise in 2-D, vor allem aber in 3-D und im IMAX-3D-Format gezeigt wird. Der Blick selbst bekommt haptisch-tastende und interaktive Qualität, die Cameron schon lange vorbereitet hat: in den Grenzübergängen zwischen Mensch und Maschine, Technik und Leben, Bedrohung durch den Tod und Erwartung von paradoxen Schleifen der Wiedergeburt. Avatar bedeutet, ein Ersatzkörper, aber auch ein Stellvertreter aus bzw. in einer anderen Welt zu sein. Es geht um Inkarnation, Erscheinung und Manifestation, um Linien der territorialen Entgrenzung oder Re-Definition, um Flucht und Landung, alten und neuen Boden, zwischen Wirklichkeit, Täuschung und Irrtum, Linearität und Zirkularität.
In Matrix, der Filmtrilogie, verschanzten sich die realen, entkoppelten oder freigeborenen Personen in einer bläulichen Gegenwelt, Zion und den Hovercrafts in den Kanälen, und drangen nach ihrer Befreiung nur noch bewusst und auf Zeit in die virtuelle Welt der grün-stichigen Simulation und Manipulation des Bewusstseins ein. Die Verwirrung, in allen drei Teilen: Realität und Matrix scheinen klar voneinander geschieden und doch dreht sich alles um die Notwendigkeit, in die Matrix immer wieder einzusteigen, um dort die Herrschaft der Maschinen und vor allem die Willkür der Programme zu bekämpfen. Das Virtuelle wurde zur Schaltstelle hochstilisiert, von der die Rettung der menschlichen und apparativen Realität abhing.

Netzlogik der Avatare zwischen Kontrolle und Übergang
In Avatar ist die Spannbreite zwischen Wesen und Erscheinung, Kontrolle und Spontaneität komplexer angelegt, obwohl Cameron die verbalisierbare Story zunächst schlicht anlaufen lässt. Es gibt keine Besserwisser, Strippenzieher, keine völligen Experten, die sich hinter Programmen und Orakeln verstecken, wie Morpheus, Apoc und Trinity, die irgendwie definitiv zu wissen meinen, wo Kern und Hülle, Original und Kopie, Sein und Schein zu finden sind. Das Verhältnis zwischen Aufwertung und Entwertung, Puppenspieler und Puppe ist durch einseitige Dominanz, Kontrolle, Gewalt und Entfremdung nicht so recht zu begreifen. Nur Arbeits- und Gewaltenteilung, behutsames Zusammenleben und einfühlsame Übersetzung lassen den spektralen und vibrierenden Netzcharakter der Wahrheit auf Pandora aufscheinen. Mensch und Na’Vi sind genetisch verwandt, die Avatare sind eine biotechnische Kompromissbildung. Sie bieten sich an als Einsatzpuppen und Spielfiguren für die Spionage und Kontrolle, aber auch als Figuren der Überbrückung und Versöhnung zwischen den Species zwischen Taming, Training und Rewildering. Damit ist Rivalität nicht ausgeschlossen, doch der entscheidende Punkt ist die Epik der Evolution, der Umschlag vom Ersatz zur Hauptperson. Das ist auch in einem Film oder in einen Game nicht zu erschöpfen. Die Autorenschaft im Hintergrund, das unausgesprochene Drehbuch der Balance von Technik und Natur, von Plan und Konstellation ist unverzichtbar. Gerade beim missbrauchbaren Instrument eines Avatars kommt es darauf an, ob der Beobachter das Leben der Anderen einseitig, asymmetrisch oder interaktiv, verständnisbereit rezipiert. Der Avatar ist also eine Übergangsfigur, ein immer weiter ausziehbares Teleskop, mal als Ausdruck des Vorrechts auf eine Welt, oder für das Zusammenspiel mehrerer Partner und Welten. Avatar  zielt nicht bloß auf Konfrontation, nicht auf einmalige Grenzüberschreitungen, Kontrollgänge und Raubzüge, im Sinne klassischer Turning Points und Twists, die sich nach bestimmten Schlägen mit der Festigkeit von Mauern doch wieder zufrieden geben. Insofern ist die sich abzeichnende Kritik an der „unsatisfying story“des opulenten und dabei doch nur andeutungsweise das gesamte Labyrinth erschließenden Einführungs-Films von 162 Minuten nur die halbe Wahrheit. Vielmehr geht es um die vielfache Veränderung und Verlagerung von Sinn und Bewegung im Raum der Koexistenz, um modulare Verdichtung und spiralförmige Bahnen in der Erweiterung disparater Welten. Und um die korrespondierende Mehrdeutigkeit und Vielfalt immer wieder neu lesbarer Bilder.

Einige Augenaufschläge – früher oder später
Der noch menschliche Ich-Erzähler schlägt irgendwann im 22. Jahrhundert die Augen auf, mit Bildinserts zwischen Hospital und Dschungel, Apocalypse 3-D, dabei ortlos und zeitlos in einer dunklen Röhre. Am Ende von Avatar werden es wirkliche Na’Vi-Augen sein, die dem Zuschauer entgegenblicken. Es folgt ein Panorama von schwerelosen Passagieren, eine an 2001 erinnernde schöne Bildwelt, die Riesenfassung eines Skylab-Containers des interstellaren Riesen-Raumschiffs ISV Venture Star, ein über ein Kilometer langes Konglomerat mit Shuttles, Anti-Grav- und Gravitationssektionen, in dem die kryogenisch eingefrorenen Passagiere wieder aktiviert werden und aus ihren Wand-Kabinen-Containern wie  Cornflakes zum Frühsport herausschweben. Plötzlich im Close Up fast dasselbe Gesicht, der Zwillings-Anblick des Todes. Jake Scully hatte einen eineiigen Zwillingsbruder, der aus ungeklärten privaten Gründen starb und den er nun ersetzen soll. Das Versprechen der Ankunft in einer neuen Welt in Kontrastmontage mit dem Ritual der Verbrennung einer menschlichen Leiche.
Ziel des Fluges: Pandora, ein erdähnlicher Himmelskörper, planetengleich in der Gravitation, in den Meeren und Kontinenten, der Bewölkung und dem dichtem Nebel, hinter dem sich eine paradiesische Welt versteckt, mit tropischem Dschungel, mit gefährlichem Raubtieren, Mischwesen aus Meer und Land mit polyploiden Ausbuchtungen und Extremitäten (im Stil von Frank Franzetta), eine Welt voller merkwürdiger geologischer Formationen, Kratern, Canyons, Gebirgen, vom Bergbau, Magnetismus und vermutlichem Meteoriteneinschlag entwurzelten fliegenden Felsen (Magritte) und riesigen Steinernen Bögen, die allesamt über wuchernde Lianen wie in einem Freiluft-Zirkus miteinander verbunden sind. Ein Planet mit einer giftigen Atmosphäre (Atemmasken für Menschen), der wiederum als Mond um einen riesigen, jupiterförmigen Gas-Planeten Polyphemus (mit Wirbelstreifen und rotem Fleck) und um Alpha Centauri-A kreist. Diese rätselhafte Konstellation von Groß- und Kleinplanet, angefressener magnetischer Geologie und extrem transformativer Biologie wirft bereits ihre Schatten auf eine umfassendere kosmische Handlung in den nächsten Teilen voraus, in denen Cameron noch zur Kubrick-Form auflaufen könnte.
Während der Landung mit einem der Shuttle, dem Valkyrie TAV, zeigt sich das andere, entstellte Gesicht Pandoras: Hell’s Gate, ein Grubenpanorama mit Tagebau, Raffinerien und Wachtürmen. Ein industrieller und militärischer Komplex der Minenkorporation, der Resource Development Agency (RDA), ein menschliches Fort, wie in der Alien-Serie. Ein Militärflughafen mit Kampf- und Arbeits-Robotern, sogenannten Ein-Mann-Anzügen (Amplified Mobility Platform, AMP, Suits), mit zwei Seitenrotoren angetriebenen Hueys (Scorpion Gunships) und anderen stärker gepanzerten und armierten Flugzeugen. Hochgerüstete Marines mit Atemmasken werden aus dem Bauch des Shuttle gespuckt. Jake erweist sich als genau beobachtender Nachzügler im aufklappbaren Rollstuhl: ein junger vitaler Veteran, dem die Beine versagen. Interessant dazu, dass James Camerons mittlerweile wuchernde Netz-Videoclip-Politik die gleiche Szene in verschiedenen Länder-Versionen mit und ohne Rollstuhl zeigt. Dabei gibt keine Variante den vollen Sinn der Kinofassung preis. Der Held überquert den Flugplatz und sieht Pfeile stecken in den vorbeirollenden Reifen eines Riesenlasters. Die Zuordnung Jakes zum militärischen und industriellen Bereich ist jedoch noch nicht völlig ausgemacht.

Während der fürsorglich-autoritäre, kraftstrotzende Sicherheitschef Colonel Miles Quaritch (Stephen Lang, auch in Public Enemies) seinen gestressten Marines in der Kantine eine zünftige Ansprache über drakonische Abwehrmethoden auf diesem Planeten gegen lästig-feindliche Ureinwohner hält, wird Jake vom relaxten Norm Spellman (Joel Moore) vorbei an endlosen Reihen martialischer Roboter in einen weiteren Bezirk geleitet: Das biologisch-genetisch-neuronale Forschungszentrum mit dem AVTR-Programm. Hier stehen die blauen Tanks, mit den traumlosen Avataren, aus Misch-DNA gezüchteten drei Meter großen Hybrid-Wesen zwischen der Gattung Mensch und den humanoiden Bewohnern von Pandora, den Na’Vi. Und Jake erkennt, dass eines dieser Wesen, trotz seiner großen Cats-Augen, Raubtiernase sowie Elbenohren seinem Bruder und ihm selbst ähnlich aussieht. Dies ist also jetzt sein Avatar. Solch ein Wesen ist durch neuronale Datenübertragung im Controller aktivierbar - eine Erweiterung der Matrix-Idee für den Realraum, Gehirn-Channeling zwischen Empathie und Telekontrolle.
Dr. Grace Augustin, die Forschungsleiterin (ihr eigenes Denkmal: Sigourney Weaver) behandelt Jake wie eine zu beanstandende Lieferung: Ein solcher Jarhead, grober Marine, sei nicht das, was man ihr versprochen habe, er sei zur Forschung der Xenobotanik und zum Experimentieren mit den Avataren keineswegs so qualifiziert wie sein Bruder. Dann wird Jake schließlich doch wegen seiner bloßen genetischen Identität eingesetzt, vor allem, um Kosten zu sparen, und den entwickelten Avatar nicht ungenutzt zu lassen. Der Druck, der auf dem Forschungsteam lastet, wird in der Kommando- und Kommunikationszentrale des Unternehmens mit seinen beeindruckenden dreidimensionalen Holo-Modellen deutlich. Dort drängt der Indoor-Golf-spielende Minen-Manager Parker Selfridge (Giovanni Ribisi) auf Erfolge im Avatar-Projekt. Der Zielkonflikt deutet sich an: Priorität für den Konzern hat die ungehinderte Ausbeutung Pandoras, dessen Boden reich ist an hochmagnetischem supraleitendem Unobtainium, einem wertvollem Mineral, das von vitaler Bedeutung für die Erde ist. Augustin soll nach wie vor eine sogenannte diplomatische Lösung für die Wirtschaft und das Militär liefern, um den Widerstand der Na’Vi gegen die irdischen Ausbeuter und Kolonisatoren zu unterlaufen. Durch den Einsatz von Avataren  als V-Leute sollten die Einheimischen friedlich und kontrollierbar bleiben.

Neuro-Controlling und Empathie
Als Jake und sein Kollege Norm Spellman (Joel Moore) sich in die Neuro-Transmitter-Röhren legen, werden die zugeordneten Avatare  im Operationssaal aktiviert und schrittweise angepasst.  Jurassic Park und Einer flog übers Kuckucksnest erleben ein schräges Crossing over. Der Film setzt eine erste Fluchtlinie in das Reich der Science Fantasy an: Alptraumhafte Perspektiven von humanoiden Riesenviecher mit Löwenschwanz. Sie erheben sich, Jake ist noch nicht in der Körperbewegung synchronisiert. Wesen mit nachtblauer Haut und großen Katzenaugen, drei Meter hoch, torkeln und rennen durch die Station und hinaus in den Garten. Jake erlebt seine erste vorläufige Wiederauferstehung, als Avatar  kann er einfach loslaufen, mit seinen neuen überlangen Beinen, in der Sonne schwitzend, mit zugekniffenen Augen, die Zehen als Klauen in der Erde. Auch Grace Augustin hat einen Avatar. In der äußeren Einscheinung erweist sich das medizinische Forschungszentrum als eine Dschungelmission, ein Lambaréné-Hospital für Mensch und Na’Vi im 22. Jahrhundert. Grace Augustin ist hier wiederum eine Diane Fossey, die ihre Gorillas schützt und am liebsten unter ihnen lebt und für sie auch zu sterben bereit ist.
Während Colonel Quaritch Jake Sully wiederholt auf einen militärischen Auftrag der Ausspionierung der Na’Vi einschwört und ihm im Gegenzug für eine erfolgreiche Mission die Wiederbeschaffung seiner intakten Beine anbietet, beschäftigt sich das Forschungsteam von Grace Augustin mit den tropischen Wundern in Fauna und Flora. Eine Herde Hammerdinos und ein Superdoberjaguar (Thanator) treibt Jake in seiner noch tollpatschigen Avatar-Kondition durch den Regenwald. In der nächtlichen Bioluminiszenz der Natur wird er still und heimlich von Neytiri, der Na’Vi-Jägerin aus dem Omaticaya Clan (hervorragend Zoë Saldana), als Dreamwalker und Vertreter der fremden Skypeople beobachtet.
Sie will ihn zunächst
mit einem Pfeil töten, wird aber durch ein magisches Zeichen davon abgehalten.
Sie beschützt ihn vor einem Rudel angreifender Viperwolves. Wie Göttin Artemis persönlich bewegt sich Neytiri mit tänzerischer Eleganz durch die Wildnis, mit atemberaubender  instinktiver Wendigkeit wechselt sie die Ebenen und Richtungen, zwischen Abwehr und Zuwendung, Flucht und Angriff, unbewusster Geschicklichkeit in einer Unschuld des Werdens, vereint mit ihresgleichen im hellen Herzen der Natur. Als sie den angreifenden Nantang getötet hat, verrichtet sie ein Schamanen-Gebet, um Frieden mit der Tierseele zu schließen. Die schwebenden Federn des Secret Tree, in dem sich die Erinnerungen der Ahnen wie auch in den rhizomatischen Sporen und Geweben befinden, die sich zum Beispiel auf dem Avatar-Körper von Jake versammeln, führen zu Verwirrung und erster Annäherung zweier durch Lichtjahre getrennter Individuen, deren zukünftige Liebe nie vollends auf der Kinoleinwand gezeigt sondern immer als verschwiegenes Zentrum einer pantheistischen Naturerfahrung in einem riesigen Kosmos dargestellt wird. Die Na’Vi residieren in Kelutral, in der Höhlung eines riesigen alten Baumes und können sich in den endlosen Spiralstrukturen eines energetischen Netzwerkes mit jedem einzelnen Lebewesen und der gesamten Natur auf Pandora verbinden.

Jake Sully dringt in seinen Avatar-Sitzungen immer tiefer in die Lebenswelt der Na’Vi ein, nimmt Teil am Leben von Neytiris Stamm und fügt sich dem Entschluss der königlichen Mutter Mo’at (CCH Pounder) die Sprache, Kultur, Lebens- und Kampftechniken zu erlernen. Aus dem Dschungel erhebt sich Jakes Abenteuer bis in den Himmel, zum Initiations-Ritual der Zähmung eines Flugsauriers (Mountain Banshee) auf den schwebenden Felsinseln der Hallelujah-Mountains, einem mitreißenden The-Misfits-Rodeo und Wettfliegen mit Neytiri über dem Abgrund, bei dem die Symbiose zwischen Mensch, Na’Vi und Tier das Konzept der einseitigen Avatar-Steuerung beim Filmhelden und Zuschauer endgültig hinwegfegt.

Im unausweichlich sich anbahnenden Konflikt wechselt Jake die Seite und stellt sich nun als Mitkämpfer der Na’Vi den Rodungs-Maschinen der Minen-Firma und dem Präventivschlag des ungeduldig gewordenen Militärs entgegen. Wie aber kann Jake als Avatar in seinen zeitbegrenzten  und kraftraubenden Sitzungen seiner Rolle als Rebellenführer gerecht werden, wenn ihm und seinen Mitstreitern jederzeit in Hell’s Gate die Controller-Röhren abgeschaltet werden können und er in Gestalt des Avatars wie eine aufblasbare Puppe in sich zusammenfällt? Oder gibt es eine Möglichkeit, die Apparatur an einen unangreifbaren Standort zu verlegen, um von dort aus den Krieg mitzusteuern? Gelingt es, sich ins Netz der Natur einzuspeisen? Und kann das magische Wissen sich mit dem modernen Wissen der Exobiologen verbinden? Welche Zusammenhänge bestehen eigentlich
zwischen den Neurotransmittern und dem Netzwerk um den Secret Tree?
Gelingt am Ende vielleicht sogar der Sprung vom Menschen zum Na’Vi, in einen Zustand kriegerisch-naiver Unschuld? Mehr dazu im Kino, offenen Auges und offenen Herzens: „Oel ngati kameie.“ – „I see you.“
 

Avatar - Aufbruch nach Pandora.
USA 2009 - Originaltitel: Avatar
Regie und Buch: James Cameron Darsteller: Sam Worthington, Zoë Saldana, Sigourney Weaver, Stephen Lang, Michelle Rodriguez, Giovanni Ribisi, Joel David Moore, CCH Pounder


Avatar - Aufbruch nach Pandora

 

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Brinkempers Gebrauchsanweisung für Camerons »Avatar«
 


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