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Fußabtreter
der Geschichte Die Vereinigten Staaten, Ende 1977. Ein bekannter Filmregisseur wird unter dem Pseudonym „Remo Woodehouse“ in ein kalifornisches Gefängnis gebracht. Angeklagt, ein dreizehnjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben, soll er sich psychologischen Untersuchungen unterziehen. Die folgenden sechs Wochen verbringt er mit einem mysteriösen Mitgefangenen, der nach einem Brandanschlag völlig entstellt ist, im Hochsicherheitstrakt von Choreo. Scott Maddox lautet der Name von Remos zwergwüchsigem Zellennachbarn. Von Kopf bis Fuß bandagiert, nach Wunden, Eiter und Tod stinkend und von düsteren Visionen verfolgt, entpuppt er sich schon bald als Mörder von Remos Frau Sharon, die im August 1969 einem bestialischen Attentat der rassistischen Sekte „The Circle“ zum Opfer fiel. Nachdem beide Männer während ihrer unzähligen Putzdienste in den Gängen des Gefängnisses die Masken fallen gelassen haben, entwickelt sich zwischen ihnen eine atemberaubende, von faszinierenden philosophischen Dialogen getragene, wenn auch teils gewaltsame und hasserfüllte Beziehung, in der Remo immer wieder versucht, mehr über die Motive von Scott „Charlie“ Maddox und seinen Jüngern, über „Helter Skelter“ und „Hurly Burly“, jenes von Maddox initiierte Blutbad zur Befreiung der weißen Rasse, zu erfahren. Was die beiden Protagonisten des Romans hingegen nicht wissen: Der Gefängniswärter Spiros Agraphiotis (eine Anspielung auf Agrafie?) — genannt „Der Grieche“—, der für das Zusammentreffen der beiden im Knast verantwortlich zeichnet, hält heimlich und göttergleich die Fäden in der Hand und verhilft Remo am Ende, dem Horror von Gefangenschaft und Strafe zu entfliehen.
Worum es wirklich geht im Roman ist bereits an den Eigennamen der beiden Inhaftierten abzulesen: So heißt die Hauptperson in Roman Polanskis Film „Rosemaries Baby“ aus dem Jahre 1968 ebenfalls Woodhouse (ohne e), Maddox ist der Mädchenname von Charles Mansons Mutter, Scott der Vorname seines potenziellen Vaters. A.F.Th. van der Heijden entwirft im „Scherbengericht“ also ein fiktives Aufeinandertreffen von Roman Polanski und Charles Manson. Hierbei stellt er Fragen nach Menschenwürde und Moral, nach Rassismus und Ressentiments und rekonstruiert die Hintergründe des Mordes an Sharon Tate und die Verhaftung Polanskis bis hin zu seiner Flucht aus den USA über London nach Paris sprachlich brillant und realitätsnah.
Das Buch selbst ist Teil des Romanzyklus „Homo duplex“. Als homo duplex charakterisierte Emile Durkheim den Menschen und meinte damit ein Wesen, das von Begierden und Rationalität gleichermaßen gesteuert wird. Das „Scherbengericht“ malt ein drastisches Bild dieser anthropologischen Prämisse, in dem auch Tibbolt Satink aus den „Movo-Tapes“ (Band 0 des Zyklus) wieder auftaucht. Tibbolt ist 1977 erst vier Jahre alt. Der „Grieche“ (vgl. QX-Q-8 in den Movo-Tapes) kehrt am Ende des Scherbengerichts in die Buchhandlung von Olle zu Tibbo „Movo“ Satink zurück und erweckt das pede-poena-claudo-Prinzip von Band 0 zu neuem Leben. Denn auch im „Scherbengericht“ spielt „die Strafe, die dem Fehltritt hinterherhinkt“ eine zentrale Rolle.
Der Titel des Buches ist ohnehin vielsagend: Das altgriechische Fremdwort für „Scherbengericht“ lautet Ostrazismus und weckt Assoziationen sowohl an Polanskis polnische Herkunft und die Behandlung seiner Person durch die USA als auch an Mansons wirre Rassen-Verschwörungstheorie. Das fortwährende Rededuell zwischen Woodehouse und Manson, Remos Erinnerungen und Tagträumereien in der Isolierzelle, machen dieses „Gericht“ trotz der fast 1200 Seiten zu einem überaus kurzweiligen und hoch spannenden Kriminalfall, der durch mehrere Perspektivenwechsel, durch das klaustrophobisch-surreale Set und die Souveränität von van der Heijdens Erzählstil zu einem kleinen Meisterwerk wird.
Die Movo-Tapes als auch das Scherbengericht
bilden nichtsdestotrotz nur einzelne Puzzleteile des Romanzyklus, der die Mythen
unserer Zeit in berauschender Originalität und einem nicht endenden Zitat der
Geschichte widerspiegelt. A.F.Th. formuliert darin seine eigene Anthropologie.
Denn in „Homo duplex“ erscheint der Mensch stets als „Fußabtreter der
Geschichte.“ |
A. F. Th. van der Heijden |
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