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Der Messias der Mittelschicht


Gedanken zu Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" und die Diskussion hierüber in 8 Segmenten


Von Gregor Keuschnig


I. Prolog

Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, als der Steuerzahler (und nur der!) von der politischen Klasse, die den Staat repräsentiert, zum Bürgen für dessen selbstgemachte und selbstgeduldete Fehler herangezogen wurde, entwarf der Philosoph Peter Sloterdijk in einem sehr kontrovers diskutierten Artikel eine Gegenwelt: "Die einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte, hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der 'Gesellschaft' zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden Hand." Eine Gesellschaft, in der fast ausschließlich der fluchtunfähige Einkommensteuerzahler den Staat und damit dessen Ausgaben erwirtschaftet, während die Kaste der Extremverdiener sich mit Hilfe der Politik längst aus der solidarischen Verantwortung entfernt hat und die Unterschicht zu Transferempfängern entmündigt werden, beschreibt Sloterdijk mit drastischen Worten: "So ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden. Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet, rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit für den sozialen Frieden - um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden Staats nicht zu reden."

Der "soziale Frieden" - Sloterdijk entlarvt dieses vorwiegend an links-intellektuellen Stammtischen kursierende Letztbegründungsargument. In Wahrheit ist eine menschenverachtendere Sicht als diese kaum denkbar. Leicht und locker konzediert, ja fordert man eine Anhebung der Hartz-IV-Sätze, eines erhöhten Kindergeld oder anderer sozialer Leistungen um damit am Ende Kratzspuren oder Schlimmeres an den eigenen Luxuskarossen unterbleiben. Tatsächlich ist der Zorn der jungen Männer in Deutschland anders als beim Nachbar Frankreich weitgehend ausgeblieben. Den Preis dafür bezahlt man gerne, falls man ihn denn überhaupt noch bezahlt und dies nicht weitgehend einer Mittelschicht überlässt, die von Steuerschlupflöchern und Investitionserleichterungen für Großunternehmen nur aus dem Wirtschaftsteil ihrer Zeitung erfahren.

Wie soll eine "Revolution der gebenden Hand" überhaupt aussehen? Die gebenden Hände sind ohne Spielräume in der platonischen Steuerhöhle gefesselt. Wie romantisch von Sloterdijk, seinerzeit die FDP als Mitregierungspartei zum Revolutionssprecher zu (v)erklären. In tapsiger Manier und unter Ignoranz aller Kommunikationstheorien versuchte sich Amateur-Soziologe Westerwelle tatsächlich im Frühjahr 2010 als Anwalt der Mittelschicht zu gerieren. Die hätte sich lieber jemand anders gewünscht und entzog der mediokren Schnöseltruppe die Zustimmung. Dabei ist tatsächlich seit der sogenannten Weltwirtschaftskrise ein wachsendes Unbehagen an der politischen Kultur festzustellen welches sich - entgegen der Weltuntergangsprophetien des beginnenden 20. Jahrhunderts - nicht so sehr an grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen manifestiert, sondern fundamentale Verteilungsfragen betrifft (freilich nicht im klassischen, sozialdemokratischen Sinn).

II. Der blinde Fleck und die ehrliche Sorge
Die Vorrede ist notwendig, um das Phänomen der Rezeption von Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" verstehen zu können. Sarrazin gelingt in dem Buch das Unbehagen an und - Freud lässt grüßen - in der Kultur die Mittelstandsängste nicht nur gekonnt zu artikulieren, sondern durch direkte, klare und jeglicher Elaboriertheit fast akribisch entkleideter Sprache Ausdruck zu verleihen. Wer beispielsweise die Kommentare unter den entsprechenden F.A.Z.-Artikeln (und deren Kommentarbewertungen) gelesen hat, muss erkennen: Hier spricht - bzw. schreibt - der Messias der Mittelschicht. Einer Mittelschicht, die Sloterdijk nicht verstanden hatte und Westerwelle - zu Recht - als Anbiederung empfand.

Sarrazin erläutert an einer Stelle im Buch, wie befreit er sich fühlt, endlich keine Reden mehr in verbrämendem, ausgewogen politisch-korrekten Politslang schreiben zu müssen. Dennoch will er sich nicht mit dem "einfachen Mann" gemein machen, attackiert auch die deutsche Unterschicht (wohl wissend, dass diese für die Sozialdemokraten eh verloren ist) und erklärt sein Buch zum wissenschaftlichen Werk (rein äußerlich durch Endnoten, Tabellen und Berechnungen) - inklusive garantiertem Sündenbock.

Tatsächlich finden sich in dem Buch informative Ausführungen zu demographischen Entwicklungen, dem deutschen Schul- und Bildungssystem, der Problematik, dass die sogenannten "MINT"-Studiengänge, die den ökonomischen Fortschritt der deutschen Exportindustrie garantieren, extrem rückläufig sind und einigen unleugbaren Äußerungen über die falschen Anreize unseres Sozialsystems. Auch die Einwürfe zur Gerechtigkeitsdiskussion, die zu einem Gleichheits-Mantra führt, das keinerlei Differenz und Unterschiede mehr zulässt, sind durchaus interessant. Den "ZEIT"-Chefredakteur zitierend weist Sarrazin darauf hin, dass der umfangreiche Sozialetat Deutschlands bezahlt werden muss und von wem dies geschieht. Da bekommt die Mittelschicht einen Schulterklopfer.

Aber dann fällt auch schon der erste blinde Fleck auf. Die Asozialität (Peer Steinbrück) einer Oberschicht, die sich immer mehr aus der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung beispielsweise durch (zumeist auch noch legale) Steuertricks entzieht, handelt Sarrazin in nur wenigen Sätzen ab. Kein Wort gegen Bankmanager, die ihre Institute an den Rand des Abgrunds gefahren haben und nun vom Steuerzahler aufgefangen werden sollen. Für jemand, der Deutschland "abgeschafft" sieht, ein erstaunliches Vorgehen. Aber seine Anhänger verzeihen ihm die Einseitigkeit seiner Wahrnehmungen. Sie hegen ja noch unterschwellig die Hoffnung, in die Oberschicht aufsteigen zu können, was natürlich zumeist eine Illusion bleibt. In Wirklichkeit spiegelt sich in der Vehemenz ihrer Zustimmung ihre amorphe Abstiegsangst. Hier hat Ulrike Herrmann in ihrem Pamphlet "Hurra, wir dürfen zahlen – Der Selbstbetrug der Mittelschicht" recht. (Freilich ist ihre Schlussfolgerung, die Mittelschicht sollte sich mit den Hartz-IV-Empfängern gegen die politische und ökonomische Elite in Deutschland verbünden, vollkommen unrealistisch).

Tatsächlich räumt Sarrazin mit altlinkem Sozialromantizismus radikal auf. Seine Thesen über Transferleistungen, die durch ihre nahezu bedingungslose Gewährung zur Entmündigung und Demotivation des Leistungsempfängers führen, sollten ernsthaft diskutiert werden. Seine skurril anmutenden Aussagen bezüglich der für eine vollwertige Ernährung ausreichenden ALG-II-Sätze oder die Anregung, man solle für Transferempfänger lieber Koch- und Hauswirtschaftskurse statt Suppenküchen anbieten, sind allerdings schon pure Provokation in einer Gesellschaft, die in Internetforen darüber diskutiert, ob ein Hartz-IV-Empfänger auch ein Anrecht auf Blumenerde habe. Geradezu emphatisch plädiert Sarrazin für ein Aussteigen aus dem in transferabhängiger Passivität halbwegs komfortabel dahindämmernden Geldempfänger, den er mit dieser Tort auf Dauer gedemütigt sieht. Dieses hier schlummernde Potential will er wecken, um über soziale, künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeit oder die Ausübung von Ehrenämtern Sinn und Struktur in das Leben zu bringen. Die Kritik hieran und an dem Gedanken, dass dauerhaft gewährte Sozialtransfers gewisse Gegenleistungen zur Folge haben könnten ist billige Profilierung, um potentielle Wähler nicht noch mehr in die Arme einer Linkspartei zu treiben, die vor den Herausforderungen einer globalisierten Gesellschaft mit einer Mischung aus vormodernen Abschottungsreflexen und philanthropischem Staatsmäzenatentum antwortet. Vieles spricht dafür, dass die Sorgen, die sich Sarrazin macht, ehrlich gemeint sind - und nicht so falsch.

III. Rekurs bei Enzensberger
Die hilflosen Zwangsabgabenknechte, die eigentlich das Rückgrat des Steuer- und Sozialstaates bilden, längst politisch desillusioniert und sich unrepräsentiert fühlend, haben in Sarrazin einen Diagnostiker ihrer Politdepression gefunden. Um auf die mangelnde Integrationsfähigkeit der dauerhaft bildungsfernen deutschen Unterschicht nicht weiter eingehen zu müssen, fokussiert sich dieser jedoch irgendwann auf die muslimischen Migranten. Ohne ihn zu erwähnen rekurriert Sarrazin dabei auf Hans Magnus Enzensberger, der sich 2006 in "Schreckens Männer" nicht nur der Psychologie des islamistischen Terroristen, des "radikalen Verlierers", sondern der Muslime generell annahm. Enzensberger psychologisierte "die Araber" als mehr oder weniger frustrierte Völker, die "in den letzten vierhundert Jahren [...] keine nennenswerte Erfindung hervorgebracht" hätten. Die politischen und gesellschaftlichen Eliten in den arabischen Ländern, so Enzensberger damals, hätten selbst Schuld an ihrer so empfundenen Bedeutungslosigkeit. Eine ähnliche Passage findet sich dann tatsächlich bei Sarrazin, der von einer narzisstischen Kränkung bei den islamischen Führungsschichten im Verhältnis zur abendländischen Moderne spricht. An Einzelbeispielen versuchte Enzensberger eine soziale und kulturelle Regression des Islam zu diagnostizieren – beispielsweise in dem er auf die stark unterentwickelte Buchkultur hinwies (nur 0,8% der Weltbuchproduktion werden in der arabischen Welt gedruckt) oder die mangelhaft entwickelten Frauenrechte thematisiert (wobei er sehr wohl auf die Studentinnenquote im Iran hinweist – gleichzeitig aber diese in Saudi-Arabien unterschlägt). Verblüffenderweise haben Enzensberger seine holzschnittartigen Vereinfachungen nicht besonders geschadet; man einigte sich wohl hinter den Kulissen das Buch nach kurzer Diskussion einfach zu "vergessen".

Hier wie dort ist nicht nur ein Ressentiment gegen vereinzelte Protagonisten und deren fundamentalistische Religionsinterpretation sichtbar, sondern es wird eine ganze Religionsgruppe vereinheitlicht dargestellt. In anderen europäischen Ländern sind die Kampfbewegungen gegen "den" Islam schon längst politischer Alltag. In den Niederlanden lässt sich eine Minderheitsregierung von einer solchen Partei dulden. Es gibt dezidiert antiislamische Parteien in skandinavischen Ländern, die an Einfluss gewinnen. In der Schweiz, Österreich und Frankreich springen rechtsnationale Parteien auf den Zug auf. Daher ist es erstaunlich, dass die antiislamischen Affekte so lange in Deutschland geruht hatten. Tatsächlich brodelte (und broderte) es zwar schon länger in der Bevölkerung - aber gut funktionierende Tabu-Baumeister in den Medien rückten jede auch nur ansatzweise kritische Äußerung sofort in die Region eines rechtsradikalen Gedankenguts. So blieb das teilweise militante antiislamische Bürgertum in der Schmuddelecke eines Internet-Weblogs.

Sarrazins Buch fokussiert sich von Beginn an auf die Gruppe der in Deutschland lebenden muslimischen Migranten, auch wenn die eigentlichen Kapitel hierzu erst auf Seite 255 beginnen. Muslimische Migranten sind für Sarrazin Migranten aus den Herkunftsgebiete[n] Bosnien und Herzegowina, Türkei, Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika. Unterschiede macht er nicht. Die überproportional guten Bildungsabschlüsse beispielsweise iranischer Migranten wischt er mit einem Federstrich als eine Art Ausnahme weg. Tatsächlich wäre dies mit der jüngeren Geschichte des Iran zu erklären: So emigrierten zuletzt Ende der 70er Jahre aufgrund der iranischen "Revolution" vorwiegend Hochgebildete und Intellektuelle, die in einem repressiven Gottesstaat nicht leben wollten. Dies könnte Sarrazin auf die türkischen Migranten in Deutschland gewandt durchaus verwenden, stammen diese jedoch zumeist aus eher ärmlichen Milieus aus Anatolien. Ein Faktor, der übrigens in den 60er Jahren von Wirtschaft und Politik in Deutschland gewollt war: Man wollte eine Zuwanderung nur für niedere Arbeiten, um das technologische Know-How bei den Deutschen zu lassen. Weil es nicht in den Kontext seines Thesengebäudes passt, verschweigt Sarrazin so etwas. Dies würde dann nämlich bedeuten, dass es nicht primär um ein Religions-, sondern um ein Schichtproblem handeln würde.

In Bezug auf die Türkei ignoriert der Autor noch einen zweiten Aspekt. Für ihn handelt es sich um einen durchweg religiös beeinflussten, toleranzlosen Staat. Als Beleg zieht er den aktuellen türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan und dessen sogenannte Assimilations-Rede heran. Den Spagat, den Erdoğan zwischen seinem religiös-fundierten Nationalismus im Inneren und der Öffnung der Türkei zur EU hin erbringt, erwähnt er nicht. Desweiteren suggeriert Sarrazin, dass die Türkei ein religiöser Staat per se sei wie alle anderen "islamischen Länder" auch. Zwar wird einmal nebenbei erwähnt, dass die Türkei immerhin das einzig islamische Land sei, das die politischen Maßstäbe einer westlichen Demokratie halbwegs erfüllt, aber er verschweigt dem Leser, dass der durch Kemal Atatürk in den 1930er Jahren eingeführte Laizismus eine Kontrolle der Religion durch den Staat verfechtet. Damit ist - zumindest formal - die Türkei säkularer als die Bundesrepublik, auch wenn dies durch die Politik von Erdoğan und seiner AKP aufgeweicht zu werden droht, was übrigens durchaus Widerstand in der Türkei hervorruft. Entwicklungen, die Sarrazin ausblendet. Auch die Tatsache, dass die türkischen Einwanderer, die seit den 1960er Jahren nach Deutschland gekommen sind, keine strenggläubigen Muslime waren, kommt bei ihm nicht vor. Er macht sich gar nicht die Mühe, die zweifellos in den letzten Jahrzehnten zunehmende Religiosität der zweiten und dritten Generation der türkischen Migranten in Deutschland (aber nicht nur hier) zu untersuchen.

IV. Der verlorene Muslim
Um nicht ins offene Messer des xenophoben Verdachts zu laufen, wendet Sarrazin zwei Techniken an: Er differenziert da, wo es zu differenzieren seiner These Nahrung gibt. Und er differenziert da nicht, wo es dem Theoriegebäude widersprechen würde. Er differenziert, wenn er die Integrationsfortschritte asiatischer und osteuropäischer Migranten und die hohe Abiturquote bei Vietnamesen und Koreanern hervorhebt. Diese Einwanderung schätzt er. Er differenziert nicht mehr, wenn es um die unterschiedlichen Generationen türkischer Einwanderer geht und wenn er den Begriff des Islam pauschal setzt und negativ konnotiert (bis auf eine Ausnahme).

Für Sarrazin ist jeder Muslim a priori unrettbar verloren. Daher wendet er auch nur sehr eingeschränkt soziologische Erkenntnisse an. Hier (und nur hier) weicht Sarrazin vom sozialdemokratischen Idealbild des sozialen Aufstiegs durch Bildung ab. Die Verlorenheit des Muslims dokumentiert sich für ihn in einer genetischen Determination, die er im Buch sukzessive, aber schleichend entwickelt. Seine Adepten folgen in ihrer Kulturdepression auch dieser These des Autors. Die Versuchung ist zu groß. Schließlich wird seit vielen Jahren in den (populär)wissenschaftlichen Diskursen für nahezu jedes Vorkommnis ein "zuständiges" Gen entdeckt, welches die Verantwortung des Individuums auf behagliche Art minimiert. So gibt es zum Beispiel ein Alkohol-Gen, ein "Schwulen-Gen", natürlich ein Alters-Gen und ein Schlaf-Gen. Nichts bleibt vor der genetischen Vereinnahmung durch halbseidene Dispositionsschwadroneure verschont, die zudem hartnäckig Korrelation mit Kausalität verwechseln. Das wird ihnen gestattet, solange sie mit ihrem Vulgär-Biologismus auf dem Niveau der "Apotheken-Rundschau" bleiben. Sogar der freie Wille gilt inzwischen als Schimäre wie Neurobiologen mit bunten Bildchen von Probantengehirnen belegen möchten. In einer vollkommen verwissenschaftlichen Welt wird gerne alles auf mechanisch-medizinische Vorgänge reduziert. Fast könnte man von einer Reanimation des Schicksalsglaubens sprechen.

V. Mediale Verwirrung
Da kommt Sarrazins Diktum zur rechten Zeit. Wer ihm pauschal Rassismus vorwirft übersieht, dass er sein Fremdeln mit biogenetischen Implikationen nur für die Diagnose des Problems einsetzt - nicht für die Problemlösung selber. Auch sein Mantra, die Intelligenz sei zu 50-80% genetisch bedingt, ist bei genauer Sicht etwa so aussagefähig, als beschreibe jemand die Körpergröße eines mutmaßlichen Diebes mit "zwischen 1,50 und 2,00 m". Die Beteuerungen der Humangenetiker, man sei in Wirklichkeit viel weiter als diese Aussage suggerierten, verpuffen allerdings medial im Nebulösen. Da hat man fast den Verdacht, dass man es so ganz genau dann doch nicht wissen möchte. Oder es nicht weiss.

Sarrazin konnte lange Zeit die mediale Verwirrung, die er antizipiert hatte, ausnutzen um stammtischparolenhaft die bereits durch das föderalistische Bildungssystem ausreichend (und konzise) beschriebene drohende Verdummung des Volkes durch die fortlaufende Senkung der bildungspolitischen Anforderungen mit dem "genetischen" Zusatzargument zu bekräftigen. Blieb die deutsche Unterschicht dumm bzw. wurden die Deutschen immer dümmer, so blieb der muslimische Migrant sozusagen "doppel-dumm". Sarrazins Regression auf die Eugenik des beginnenden 20. Jahrhunderts fiel dem Gelegenheitsleser kaum auf. Es bedurfte eines Frank Schirrmacher, der "Deutschland schafft sich ab" sortierte wie ein Wertstoffsammler den gelben Sack. So ganz kam die Empörung Schirrmachers (und dann später auch des SPD-Vorsitzenden und Hobby-Biopolitikers Gabriel) nicht an. Hat doch Eugenik über diverse Hintereingänge längst Einzug in die Moderne gefunden: Eltern können aufgrund der Resultate von pränatalen Untersuchungen bestimmen, ob sie ein eventuell behindertes Kind haben wollen oder nicht. Der aktuelle Vorstoß der Bundeskanzlerin, dies bei der künstlichen Befruchtung aus ethischen Gründen zu untersagen (die sogenannte Präimplantationsdiagnostik), ist arg weltfremd, da damit die Zahl der Abtreibungen steigen wird. Tatsächlich gilt die (vermeintlich) psychische Belastung der Schwangeren durch ein behindertes Kind längst als ausreichender Indikationsgrund; übrigens eine heuchlerische Verbrämung der Wahrheit. Adoptionsverfahren bei kinderlosen Eltern werden nach Maßstäben durchgeführt, die durchaus eugenische "Dimensionen" besitzen. Samenbanken in den USA bieten Frauen, hetero- oder homosexuelle Paare an, ihren Nachwuchs nach ihren Wünschen (Aussehen, Intelligenz, künstlerische Begabungen) zu "designen". Es gibt also längst Auswahlverfahren für bzw. gegen Menschen, die gesellschaftlich akzeptiert sind und umgesetzt werden. Freilich sind wir von umfassenden "Regeln für den Menschenpark" (abermals Sloterdijk), die Grenzen und Möglichkeiten in einer Art Charta festschreibt, noch weit entfernt, da dies zwangsläufig zu einstürzenden Weltbildern führen würde. Warum sich Sarrazin auf das rutschige Terrain der biopolitischen Argumentation begeben hat und beispielsweise nicht die "Mogelpackung" über Richard Dawkins' Meme gegangen ist, mag in seiner Provokationslust einerseits und in der Uneinigkeit in diesen Fragen in der Wissenschaft andererseits zu suchen sein. Vor allem scheint es jedoch mit fundamentalen Missverständnissen zu tun zu haben.

Die Rezeption des Sarrazin-Buches ist bis auf wenige Ausnahmen kein Ruhmesblatt. Die fast inquisitorischen Fernsehauftritte bei "Beckmann" und "Hart aber fair" förderten in ihrer Unkultiviertheit das Interesse an dem Buch. Mit gleicher Inbrunst, wie sich eine Generation den bösen Einflüssen der Welt durch die Flucht in den Musikantenstadl entzieht, griff auch das linksintellektuelle Bürgertum nach der ersten Schockstarre zum ultimativen Verklärungsinstrumentarium: Man leugnet schlichtweg die dargestellten Probleme, deklariert sie zu "Einzelfällen" um dann seinerseits mit Einzelfällen das Gegenteil zur Regel herbeizumogeln. Die Lektüre des inkriminierenden Buches ersparte man sich weitgehend nonchalant und beließ es bei Zitaten. Das Bad im Drachenblut der richtigen Gesinnung genügte. Eine Frau, die anläßlich einer Lesung Sarrazins protestierte und gefragt wurde, warum sie dies mache, entblödete sich nicht zu sagen, er habe mit dem, was er "über die Juden gesagt" habe, eine Grenze überschritten. Deutlicher kann man seine Ignoranz dem Buch gegenüber nicht artikulieren: Sarrazin erläutert darin, dass Juden in den 1920er Jahren bei Intelligenztests in Deutschland einen IQ von 15 Punkten über dem Durchschnitt aufwiesen. Auch die eher unglückliche Aussage in einem Interview in der "Welt" war von Sarrazin eher philosemitisch gemeint; in keinem Fall jedoch anti-jüdisch. Mit dieser affektgesteuerten Einstellung, von jeglicher Ahnung befreit, kultiviert man seinen Blumenkasten, der dann einfach zum Garten Eden erklärt wird. Die zum Teil hysterischen Debattenbeiträge, die Sarrazins generalisierende Sicht durch Einzelfallbeispiele widerlegen wollten verfingen zunächst nicht. Die Vorzeige-Muslime und -Muslima tingelten eine Zeit lang durch alle möglichen Talkshows. Dabei wurde gerne übersehen, dass diese Leute längst das modern-säkulare Diktum der Trennung zwischen Religion und Kultur praktizierten. Einem Depressiven hilft der Hinweis darauf, dass die meisten Menschen glücklich sind, nicht weiter.

Bewies Sarrazin mit seiner Verweigerungshaltung einer differenzierteren Betrachtungsweise schon beträchtliche Argumentationsresistenz, so lieferten die Verfechter des "Es-ist-doch-alles-gar-nicht-so-schlimm" ein fast noch erbärmlicheres Bild. Erst musste die geballte Ladung politisch-korrekter Schöndarstellung zur besten Radio- bzw. Fernsehzeit abgefeuert werden. Inzwischen ist der wohlige Effekt der Stigmatisierung der Sarrazin-Leser wieder konsensuelles Gemeingut des linken Bourgeois, der am liebsten nach einer Lesung ihrer Reizfigur das entsprechende Sitzmöbel in einem separaten Castor-Behälter hätte entsorgen lassen. Ernsthaft gibt es schon wieder besonders progressive Kommentare, die erklären, dass die Beherrschung der Landessprache für Migranten nicht unbedingt so wichtig sei und stimmen das hohe Lied der Parallelgesellschaften an.

Nachträglich ist es für das linksintellektuelle Milieu ein Glücksfall, dass nicht Kirsten Heisigs Buch "Das Ende der Geduld" Gegenstand des Diskurses war. Sarrazin bot viel mehr Angriffsfläche. Weil er sich in einigen Punkten verrannt hat, konnte man in einem Schwung sein ganzes Buch als Sondermüll behandeln. Das wesentlich fundiertere aber in der Sache nicht weniger eindeutige Buch der Jugendrichterin aus Berlin, die, wie es heißt, aus persönlichen Gründen Hand an sich gelegt hatte, hätte zu viel interessanteren Diskussionen führen können. Diese blieben jedoch weitgehend aus. Immerhin stimmten Heisig und Sarrazin im wesentlichen in der Diagnose der Probleme überein, aber die Hau-druff-Rhetorik des ehemaligen Berliner Finanzsenators war viel besser geeignet, Realitäten zu leugnen, die längst nicht mehr zu leugnen sind. Selten versuchte man Sarrazins sozialpolitisches Theoriegebäude argumentativ zu begegnen. Dies geschah teilweise aus Unvermögen, teilweise jedoch aufgrund der beschriebenen Verdrängungsmechanismen. Zumeist begnügte man sich einer großen Portion rhetorischer Empörung (dabei offenbarte sich zuweilen durchaus ein erschreckender Meinungsautoritarismus) und versuchte Sarrazins fragile Statistikgebäude mit reziprok getürkten (!) Werten zu beantworten.

VI. Verirrungen des Bundespräsidenten
Olivier Roy hatte in seiner furiosen religionskritischen Schrift "Heilige Einfalt" auch die Adepten des Multikulturalismus entlarvt. Multikulturalismus sei, so Roy "keineswegs die Anerkennung ursprünglicher Unterschiede, sondern nur Ausdruck dessen, dass sich Kulturen und Religionen an einem gemeinsamen Paradigma ausrichten, und zwar dem Paradigma des kleinsten gemeinsamen Nenners". Praktisch entstünde eine Art "Kommunitarismus, reduziert auf den Zugewinn". Multikulturalismus ist also "eine Illusion, denn er zielt auf Gemeinschaften, in denen die Ablösung von religiösen und kulturellen Markern bereits stattgefunden hat: Beim Multikulturalismus wird künstlich etwas als kulturell definiert, was nicht mehr zur Kultur gehört".

Diese Aussage ist bedeutsam, wenn man sich Bundespräsident Wulffs Diktum vom 3. Oktober vergegenwärtigt. Wulff sagte, der Islam gehöre zu Deutschland. Abgesehen davon, dass Wulff und Sarrazin übereinstimmend von "dem" Islam als homogene Einheit reden, die so gar nicht gibt, gleichen sich die beiden auch noch auf eine andere Weise: Beide ignorieren die kemalistisch-laizistische Tradition der Türkei. Der eine malt die (Re-)Islamisierung der in Deutschland lebenden Türken als eine mögliche Schreckensvision an die Wand - der andere treibt die gleichen Türken erst in die Arme der Religion. Statt den Satz "Die bei uns lebenden Türken gehören zu Deutschland" zu sagen, islamisiert Wulff diese und setzt damit die säkularen Türken ohne Not unter Religionsdruck. Dies entspricht Roys Darstellung des Multikulturalismus - hier wird etwas "künstlich…als kulturell" definiert - nämlich der Islam. Wulffs Rede ist ein Beispiel, dass gut gemeint manchmal das Gegenteil von gut gemacht bedeutet (geradezu anmaßend dann vice versa in der Türkei das Christentum einzuklagen). Noch gravierender offenbart sich die politische Inkomptenz bei der Kanzlerin: Einerseits stimmt sie Wulffs Aussage zu. Andererseits will sie am rechten Rand ihrer verunsicherten Wählerklientel fischen und erklärt "Multikulti" für gescheitert. Im Licht von Olivier Roy sind beide Aussagen unvereinbar. Nur gut, dass keiner nachgedacht hat.

Macht Sarrazin noch (zusammen mit Heinz Buschkowsky) vernünftige (wenn auch nicht durchgängig neue) Vorschläge was die Bildungs- und Schulpolitik angeht (besonders interessant: homogene Lerngruppen in der Schule, die nach Neigung und Leistung zusammengesetzt sind statt starrer Klassenverbände), so muten seine Ideen zur Integrationspolitik eher bescheiden an. Er möchte, dass die aufnehmende Gesellschaft eine klare Erwartungshaltung vermittelt. Angelsächsische Aufnahmemodelle, die nach strengen Kriterien ihre Einwanderer auswählen, stehen hier Pate. Einlass in die Sozialtransfers (beispielsweise für sogenannte Importbräute) will er verunmöglichen, in dem eine längere Zeit nach Einwanderung in die Bundesrepublik keine Leistungen bezahlt werden. Sarrazin nimmt - diese Sicht vermag überraschen - die Feststellung "Deutschland ist ein Einwandererland" ernster als diejenigen, die seit Jahren den ungehinderten und nahezu voraussetzungslosen Familienzuzug goutieren. Seit 1973 hat sich der Zuzug von Migranten weitgehend vom Arbeitsmarkt entkoppelt. Sarrazin will dies aufheben. Sein zwischendurch immer geäußertes Credo, dass Einwanderung die demografischen Probleme nicht löst, ist nur ein scheinbarer Widerspruch: In Wirklichkeit ist er nur an der Zuwanderung ungelernter Kräfte nicht mehr interessiert.

Die gerne vorgebrachte aktuelle Statistik, wonach es derzeit mehr Auswanderer als Einwanderer gibt, widerlegt nicht Sarrazins generellen Befund, dass die Fertilität unter Migranten wesentlich höher ist als in der deutschen Mittel- und Oberschicht. Die verbale Vehemenz, mit der Sarrazin gegen muslimische Transferbezieher vorgeht, lässt er bei der Betrachtung der deutschen Unterschicht vermissen. Dort liegt die sogenannte Nettoreproduktionsrate vermutlich ähnlich hoch (genaue Statistiken gibt es nicht, weshalb Sarrazin Ableitungen vornimmt). Wie bereits erwähnt, tangiert sein Negativbefund in Bezug auf die Zukunft Deutschlands überhaupt nicht die deutsche Oberschicht und deren Verhalten.

VII. Ein sozialdemokratischer Reflex
Sarrazins Sprach- und Hilflosigkeit dem demographischen Phänomen gegenüber ist neben der Ausblendung der gesellschaftsschädigenden Verhaltensweisen der autochthonen Eliten die zweite Enttäuschung des Buches. Nach der Aufzählung gängiger Vorschläge wie bessere Betreuungsangebote für Kinder, Reform des Familienlastenausgleichs, der höheren Wertschätzung dauerhafter Partnerschaften, der Verkürzung von Ausbildungs- und Studienzeiten und der steuerlichen Höherbelastung von Kinderlosen holt Sarrazin zu einem wuchtigen Schlag aus: Gebildeten deutschen Frauen soll eine Art Kinderprämie von 50.000 Euro gezahlt werden. Dieser Vorschlag ist von Gunnar Heinsohn, dem Nestor der deutschen Biopolitik, geklaut. Dieser wollte sogar 130.000 Euro bezahlen (inzwischen ist er von diesem Vorschlag abgerückt). Mit diesem Gedanken ist Sarrazin dann durchaus wieder in einem typisch sozialdemokratischen Reflex aufgesessen: Seit jeher glauben ja Politiker der fünf sozialdemokratischen Parteien mittels Geld jeden und alles steuern zu können – und dies im Guten wie im Schlechten. Dieses Märchen zeigt sich bis in die Umweltgesetzgebung hinein, obwohl man eigentlich wissen müsste, dass wenigstens die Natur unbestechlich ist: Egal wie hoch der Preis für das CO2-Zertifikat ist: der Dreck schert sich nicht darum, ob er teuer war oder nicht - er ist da. Gerade dieser Prämienvorschlag Sarrazins ist unsinnig. Zum einen ist ja mit einer "deutschen", "gebildeten" Mutter nichts über den Vater des Kindes ausgesagt (Sarrazin widerspricht sich in seiner Abstammungstheorie hier selber) und zum anderen lässt der Vermerk im Buch, der Staat bezahle für ein Kind schätzungsweise 55.000 Euro Kindergeld, den Schluss zu, dass dieses Kindergeld dann nicht mehr gezahlt werde. Die umworbene Akademiker-Mutter hätte keinen Gewinn mehr.

Interessanterweise konzediert Sarrazin allerdings sehr wohl, dass Geld nicht durchgängig der problemlösende Faktor ist. Er weist darauf hin, dass die deutschen Bundesländer mit den höchsten Prokopfausgaben im Bildungswesen die schlechtesten Resultate bei PISA-Tests erreichen. Auch hinsichtlich der demografischen Problematik ist er, was die soziale Versorgung mit Transferleistungen angeht, skeptisch. So hat Frankreich mit einem ähnlichen Sozialsystem eine Nettoreproduktionsrate von 0,91 (im Vergleich Deutschland: 0,67). Die USA und England (konsequent wird die Bezeichnung 'Großbritannien' verweigert), Länder mit einer wesentlich restriktiveren Sozialpolitik, weisen den Faktor 1,01 bzw. 0,75 aus.

In einem anderen Punkt ist Sarrazin wieder der typische Volkswirt. Er fragt unverhohlen, welchen volkswirtschaftlichen Nutzen die bisherigen Einwanderer der Bundesrepublik Deutschland erbracht haben. Der Vorwurf, er betreibe damit einen unzulässigen, ja menschenverachtenden Utilitarismus, ist absurd. Wie bereits erwähnt, schimmert in solchen Überlegungen der Gedanke an einer konzisen Einwanderungspolitik durch (beispielsweise wie in Kanada). Er ist aber Realist genug, um zu erkennen, dass Deutschland für die wirklichen Fachkräfte derzeit nicht genügend attraktiv ist. Zu Problemlösungen in dieser Hinsicht schweigt er sich allerdings ebenfalls aus.

VIII. Was bleibt?
Sarrazins Strohfeuer hat einen erschreckenden Blick auf eine hilf-, sprach- und argumentationslose politische Öffentlichkeit aufgezeigt. Hilflos war man, in dem man dem Buch eine gewisse Souveränität gegenüber hätte zeigen müssen. Sprachlos waren vor allem die Politiker, die in ritualisierten Ablehnungsaffekten verfielen. Die übereilten und repressiven Reaktionen, die sich gegen den Autor richteten (vorzeitige Pensionierung; SPD-Ausschlussverfahren) offenbaren erhebliche Defizite in der politischen Auseinandersetzung auch unangenehmer Problemfelder.

Die Kanzlerin bezeichnete das Buch als "wenig hilfreich" - obwohl sie es nicht gelesen hatte. Dennoch dürfte sie in dieser Einschätzung auf eine andere Weise recht behalten: Wenig hilfreich dürfte es sein, weil es zu einer weiteren Domestizierung des Diskurses um die Themen Sozialpolitik, Demografie, Integration und Einwanderung führen wird.

Das aktuell kontrovers diskutierte Interview des türkischen Botschafters in Wien kann als Gegenstück zu Sarrazins Buch gelesen werden. Ich stimme beiden in vielen Punkten nicht zu. Aber eine öffentliche Diskussion zwischen den beiden Protagonisten, zwischen Thilo Sarrazin und Kadri Ecved Tezcan, zwei Stunden zur besten Sendezeit im Fernsehen, ohne Moderator - das wäre ein Wunsch in den Zeiten, als das Wünschen schon lange nicht mehr geholfen hat. Gregor Keuschnig

 

Thilo Sarrazin
Deutschland schafft sich ab
Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
DVA
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
464 Seiten
ISBN: 978-3-421-04430-3
€ 22,99


 


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