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Hommage an die Wetterau

Über Andreas Maiers Roman »Das Zimmer«

Von Gregor Keuschnig

Spätestens in den Kolumnen, die Andreas Maier für »Volltext« geschrieben hatte und die im Frühjahr gesammelt unter dem Titel Onkel J. erschienen waren, konnte man den »Heimatdichter« Maier in der Tradition eines Hermann Lenz, Peter Kurzeck oder Arnold Stadler entdecken. Maier als der Dichter der Wetterau, die inzwischen nur noch aus Ortsumgehungsstraßen zu bestehen scheint (dagegen hatte offensichtlich nie jemand demonstriert und auch das Fällen der Bäume erregte keine Gemüter). Dabei war der elegische Abgesang auf die Wetterau (und den Wichsbusch!), pointiert und fast ein bisschen polemisch vorgebracht, auch ein Ausdruck der Trauer um die Unmöglichkeit, wie jener Onkel J. zu altern. Das waren Protokolle der verpassten Gelegenheiten, Artikulationen eines vorenthaltenen Weiter-Lebens. Aber es blitzte auch ein virulentes Gefühl der Ausweglosigkeit auf, das sich dann zuweilen in eine Thomas-Bernhard-ähnliche Ironie stürzte, um die drohende Melancholie zu bannen. Natürlich konnte Maier in der kleinen Kolumnenform keinen großen epischen Entwurf vornehmen. In »Das Zimmer« holt er das nun auf verblüffende Weise nach. Den in einem solchen Projekt lauernden Bedrohungen (sentimentale Hingabe oder beißender Zynismus) erliegt Maier glücklicherweise nicht.

Onkel J., die Zangengeburt, geistig zurückgeblieben und somit das alte Kind, ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Beschwörungserzählung (weniger die Eltern, die nur am Rand eine Rolle spielen). Jahre nach dessen Tod bezieht ein Ich-Erzähler (es dürfte sich wohl mit den üblichen Abgrenzungen um Andreas Maier handeln) das Haus, in dem der Onkel gewohnt hatte und dessen Zimmer, dieser Höllenhort, einst Terra Incognita (nicht zuletzt aufgrund des vom Onkel ausgehenden infernalischen Körpergeruchs), der nun zum Genius loci wird. Das Haus hat einige Merkwürdigkeiten. So hatte man dem Onkel im Haus eine Werkstatt eingerichtet, was vollkommen absurd war, denn zu jeglicher feinmotorisch-handwerklichen Arbeit war J. nicht in der Lage. Die selbstgestellten Aufgaben beschränkten sich im Auseinandernehmen von mechanischen Apparaturen, die dann entsprechend verwaist in der Werkstatt liegenblieben.

Maier imaginiert einen Tag im Leben des Onkels im Mondlandejahr 1969, als dieser schon fast auf die vierzig zugeht (also in etwa so alt ist, wie Maier jetzt). Er geht nicht strikt chronologisch vor, sondern mäandernd, in Vor- und Rückblenden auf des Onkels Jugend und auch unter Vorwegnahme der Umstände seines Todes. Dabei wird der Idiot niemals denunziert, auch wenn der Bruder als 12jähriger mit einfachster Rhetorik den Onkel zur Weißglut bringt und überfordert. Der Humor in diesem Buch ist von feiner Eleganz, ohne sich auf Kosten anderer zu delektieren. Innig und fast zärtlich wird Maier, wenn von den Eigenheiten J.s erzählt wird, etwa vom Zusammenstehen, Rauchen und Trinken mit anderen Arbeitern und seiner Sehnsucht dazugehören, sich aufgehoben zu fühlen (dabei das Biertrinken dieser Arbeiter imitierend, um auch nichts falsch zu machen).

Oder seine Sehnsuchtsgebiete im Fernsehen, der Heimat- und Naturfilm (Luis Trenker vor allem). Schließlich das Motorengeräusch - sein Lebensgeräusch - des nazibraunen VW-Variant (er hatte irgendwann die Fahrprüfung gemacht und der Wagen war sozusagen ein Erbe seines früh verstorbenen Vaters, der eine Firma besaß). Er benutzt den Wagen nur um zu seiner abgelegenen Lieblingskneipe, dem Forsthaus Winterstein, zu fahren (und um – wie immer murrend - gelegentlich Botenfahrten für die Familie zu unternehmen). Seit der Schwiegersohn in der Familie den Ton angibt, arbeitet J. im Schichtdienst bei der Paketausgabe der Post. Es gibt ihm ein Gefühl der Wichtigkeit. Schön erzählt Maier die Zugfahrt früh morgens nach Frankfurt, vorher die Pornoheftchen am Bahnhofkiosk, die er sich vielleicht zeigen lässt (fast eine kleine Pornoheftchenkulturgeschichte über die damals vergleichsweise geringe Auswahl der Magazine und die Unmöglichkeit des verschämte[n] Herumstehen[s] in der Ecke wie heutzutage). Dann die Arbeit in der Paketpost. J. fühlt sich dort als zentrale Schaltstelle der Welt. Ohne ihn funktioniert gar nichts, denn er ermöglicht den Warenverkehr, also den gesamten Zivilisationsprozeß, oder, wie sie auf der Poststation gesagt hätten: Die Pakete müssen halt ans Ziel. Am Feierabend winken die Verlockungen (und Bedrohungen) des Frankfurter Hauptbahnhofs (in den 1960er/70er Jahren, so Maier, ein Paradies wie heute [das] Internet). Fast hätte sich J. auf eine der Prostituierten eingelassen; wunderbar, wie hier der Gestus und die Gedankenwelt des Onkels imaginiert wird. Schließlich fährt dieser doch noch pünktlich zurück, denn die Mutter hatte gekocht.

Aber es geht nicht nur um Onkel J., den Schmerzunempfindlichen, was seine Peiniger aus der Schulzeit (einige von ihnen später Honoratioren) immer noch wütender machte. Dieser ist nur die Folie, auf der sich immer wieder Maiers Kindheit spiegelt. Die skurrile Figur wird dabei zum Gedächtnisanker. Es ist die Zeit der Hochphase der Filterzigarette. Und es wird von nahezu allen am Arbeitsplatz getrunken. Maier phantasiert das Büro seiner Mutter, die die Geschäftsführung der Firma übernommen hatte, in dem er wohl ab und zu verbracht wurde und erzählt beinahe gefühlvoll über diese heute nirgendwo mehr existente Büroform von damals bestehend aus Bleistiften und Spitzern, Klebestiften und Briefmarkenschwämmchen. Eine Welt, in der das Wort »Computer« im Zusammenhang mit der ersten Mondlandung immerfort gehört wurde, ohne dass man wusste, was es bedeutete und welche Auswirkungen damit verbunden sein sollten.

Der Herbsttag 1969 wird sogar zum Auslöser für die Veränderung in der Wetterau herbeigedichtet. Indem J. in seinem VW auf der Friedberger Kaiserstrasse im Stau seine Schwester chauffiert und die Leute voller Verblüffung dieses Verkehrschaos (welches freilich nur ein paar Minuten anhält) bemerken, entwickelt sich irgendwie das Bedürfnis nach einer »Umgehungsstraße« und so wird diese Szene zum Ausgangspunkt eines Umgehungsstraßenwahnsinns, der bis heute anhält und die Wetterau planiert hat. 

Aus der Melange aus Onkel J.s Leben und der eigenen Kindheitsevokationen entsteht fast spielerisch (in Wirklichkeit: gekonnt) eine Kultur-, Mentalitäts-, Arbeits-, Orts- und Lokalgeschichte der Bundesrepublik der 1960er/70er Jahre aus hessischer Regionalperspektive. Die drei Handlungsebenen, die in diesem Buch auf fabelhafte Weise miteinander verbunden werden, markieren auch Maiers Verlustempfindungen: Die Kindheit ist vergangen, Onkel J. tot, die Wetterau verschandelt und das Hessische exorziert; die Fernsehserie Familie Hesselbach ist eine Art ethnologisch-dokumentarisches Fossil. In diese melancholische, aber keineswegs depressive Stimmung hinein ist es fast störend, wenn Maier auch noch Parallelen aus der NS-Zeit hervorholt, die der Onkel als Jugendlicher mitgemacht hatte. Den bereits angesprochenen nazibrauen Wagen verzeiht man ja noch (er ist auf dem Umschlag zu sehen – und die Assoziation ist tatsächlich unverkennbar), aber die SA-Haube und J.s Rommelgedanken wirken ein wenig aufgesetzt.

Zum Epiker wird Maier dann am Schluss, als der Onkel nach vollbrachtem Tagwerk zum geliebten Forsthaus fährt und im inzwischen nicht mehr existierenden Frauenwald (Umgehungsstraße!) einen Zwischenhalt einlegt. Hier ist J. ein besonderer Mensch und wird - ohne das eine Kitschgefahr aufkommt - zu einer Art Franziskus (auch so ein «Idiot«): Die Dinge redeten immer zu ihm, die Waldtiere und die Pflanzen, als gehörte er eher zu ihnen als zu uns, den Menschen. Maier will lauschen; er beneidet den Onkel: Die Äpfel, von was reden sie? Wie lautet ihre Sprache? Und dann das Rotkehlchen, es sitzt da und mustert ihn und fliegt nicht weg. Schaut ihn einfach nur an, und er das Rotkehlchen. Sein Onkel geht ohne zu rauchen durch den Wald; das brauchte er dort nie. Er sah dort im Wald immer etwas, wo andere nichts sehen. Dagegen sah er unter den Menschen nie etwas, das sahen dann nur immer alle anderen.

Andreas Maier hat seine Kindheit, die Jahre des Übergangs von der Zeit des großen 'noch' ('noch' fuhren die Züge pünktlich) bis hin zur dann aufkommenden Schneller-Höher-Weiter-Religion wiederbelebt. Er hat seinem Onkel J., dem einsame[n], kleine[n] Waldgänger, ein literarisches Denkmal errichtet. Und er trauert um die verschwundene Wetterau. Einmal steigt der Onkel vom Johannisberg herab, nach einem Sonnenaufgang, den er beobachtete. Ein Sonnenaufgang, den einem niemand mehr nehmen kann. Andreas Maier hat ein solches Buch geschrieben. Ein Buch, das einem niemand mehr nehmen kann. Ein großartiges Buch.
Gregor Keuschnig

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

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Andreas Maier
Das Zimmer
Roman
Suhrkamp
203 Seiten
17,90 €
ISBN: 978-3-518-42174-1

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