Risse in der
Panoramischen Poesie Die
Kino-Zweitfassung von »Avatar« verstärkt den Spieleffekt auf Kosten
der Science Fantasy
von Peter V. Brinkemper
James Camerons »Avatar – Aufbruch nach Pandora« startete Dezember 2009 als
Geheimtipp und spielte in wenigen Monaten 2,751 Mrd. Dollar (wegen Hochpreise
und zahlungskräftiger Wiederholungszuschauer) ein, um sich damit über Camerons
eigenen »Titanic«-Erfolg (1,8 Mrd. Dollar, jetzt als 3D-Nachbearbeitung geplant)
an die Spitze der weltweit kommerziell erfolgreichsten Filme zu setzen. Auch als
DVD und Blu-ray wurde ein reißender Mega-Umsatz von 6,7 Mio. Scheiben erreicht.
Nun, zum September 2010, kehrt das ursprünglich 162 Minuten lange 3D-Spektakel
nach deutscher Pressemitteilung des Verleihs »um 8 Minuten verlängert« in die
Kinos zurück, also mit 170 Minuten.
Verwirrspiele Für Verwirrung sorgen allerdings abweichende Angaben. Die bereits
erhältliche DVD-Fassung ist gerade mal 155 Minuten lang. Das deckt überhaupt
keine der beiden Kinofassungen ab. Und »171 Minuten« werden für die Special
Edition auf der internationalen Site der Internet Movie Database (IMDB)
versprochen. Dann würde immer noch eine Minute im deutschen Kino fehlen. »Bild«
spricht tröstend von 9 Minuten Zugabe in den Filmtheatern.
Ca. acht Minuten also sind auch bei rund zweieinhalb Stunden Kinoepos keineswegs
eine kurze, unerhebliche Spanne. Alle diejenigen, die über den kommerziellen Gag
lächeln, »Avatar« nach dem abgefeierten Erfolg noch einmal mit
Miniverlängerungen ins Kino zu bringen, um den anhaltenden 3D-Hype mit dem
bisher besten Qualitätsergebnis weiter abzuschöpfen, sollten genauer hinsehen.
Einblick in die Poetik einer fremden Welt Camerons Werk ist vor allem eine gigantische Team-Arbeit. Jede kleinste
Veränderung im Netzwerk der 3D-Darstellung des Planeten-Mondes Pandora, seiner
Fauna und Flora, der Charaktere und der Handlung bastelt bereits wieder am Sinn
und am Rhythmus des Films (und des parallel vermarkteten Videospiels) herum.
Auffällig bei der Kino-New-Re-View ist, dass die Zusätze grundsätzlich über den
gesamten Film verstreut sind, als knappste, kaum erwähnenswerte Abweichungen,
Füllungen, Ergänzungen und Überbrückungen oder als dramaturgisch auffällige
Erklärungsmuster und in sich abgerundete Kurz-Szenen.
Auffällige Änderungen in Bild und Sinn So erscheint beim ersten botanischen Ausflug der Wissenschaftler in
Avatar-Gestalt mit dem Militärhubschrauber in den Dschungel vor der bekannten
Wasserfall-Szene (diese ab 23:23, alle Angaben DVD) eine Herde größerer
exotischer Dinorinder, ein wenig im »JurassicPark«-Stil, was aber die
anfängliche Undurchdringlichkeit des Dschungels durchbricht (den »Apocalypse
Now«-Tiger-Shock) und damit die spätere Überraschung der ersten stampfenden
Hammersaurier fast schon ausplaudert.
Vor dem Bioscan im Regenwald (25:24 DVD) treten die Wissenschaftler in
Avatar-Form in die verlassene Na’vi-Elementar-Schule von Grace Augustine.
Einschusslöcher in den Holzwänden verraten bereits die Bedrohung des Friedens
durch frühere blutige Auseinandersetzungen zwischen den Marines und
Kolonisatoren und den Na’vis und Wissenschaftlern.
Bei der ersten Reise zur Avatar-Außenstation erfolgt nach der Landung eine
Erklärung für die schwebenden Hallelujah-Berge: Sie beständen aus dem vom
Konzern abgebauten Unobtainium, einen kostbaren, auf der Erde nicht vorkommenden
Supraleiter. Danach betritt die Mannschaft den Forschungscontainer mit den
Avatar-Steuerungs-Apparaten (54:19 DVD).
Um zum Reservat der wilden Berg-Flugdrachen vorzudringen, steigen Jake (in
Avatar-Form) und die jungen Stammeskrieger über Lianen-Verbindungen immer höher
auf die schwebenden Berge. Zwischen Halbnaher Einstellung und Totale überqueren
sie als winzige Figuren im Breitwand-Panorama einen Abgrund zwischen Himmel und
Erde. (1:04:15 DVD). In diese beeindruckende Sequenz wird die Nahaufnahme von
Neytiri beim sichernden Geleitflug auf ihrem Drachen eingeschnitten. Auf diese
Weise werden die Gefahr für den Neuling Jake, die Spannung und das kosmisch
Erhabene dieser Szene erheblich reduziert. Das glückliche Ende der risikoreichen
Domestizierung eines eigenen Flugdrachens, der (später gemeinsame) Flug (zur
selben chorischen Musik) wird zu früh angedeutet. In der ersten Fassung
durchqueren die Krieger, die mit Jake heftig rivalisieren, schließlich
Wasserfälle und Höhlengänge bis zur wiedererlangten freien Aussicht auf die
Himmels-Berge und das Drachenrevier. Hier ist die Ankunft der heranfliegenden
Neytiri mit einem Überraschungsmoment verbunden, das in der neuen Fassung fehlt.
Vor der Sequenz des »großen Jäger-Flug-Drachen« Toruk (1:12:06 DVD), der Jake
und Neytiri auf ihren etwas kleineren Berg-Ikranen verfolgt, wird eine große
Jagd auf Tapir-Bison-Steppentiere eingeschnitten. Die Helden schießen den
flüchtenden Tieren mitten ins Auge und erlegen sie. Zwar wird so ein
indianermäßiges Jagdleben vorgeführt. Aber wiederum wird das Geheimnis des
Dschungels zu stark gelüftet. Andererseits wirkt so die finale Stampede der
Fauna gegen die Kolonisten überzeugender, obwohl die neuen gemütlichen
Tiersorten im Finale des Raubtierangriffs natürlich fehlen.
Nach dem Ritual der Aufnahme in den Stamm, also der letzten, für Jake so
wichtigen Zeremonie (1:17:12 DVD) erfolgt in Überblendung (1:18:06 DVD) der
nächtliche Ausflug mit Neytiri zum Eywa-Baum-der-Seelen. Beide schließen ihre
sensiblen Haar-Enden an die hell-leuchtenden Verbindungen des Baumes an. Neben
dem bereits bekannten Kuss (1:20:32 DVD) und dem danach angedeuteten Liebesspiel
schließen sie sich (in der neuen Kino-Fassung) direkt miteinander kurz, mit
ihren kontaktfreudigen Haarenden. Die natürliche erotische Verschmelzung wird
komplett. Beide sind Liebende, Pferde, Bäume, Schmetterlinge, Drachen. Neytiris
Herzensgeheinnis: »Ich gehöre jetzt zu dir. Wir sind vereint fürs Leben.« Dass
das Leben im Avatar mehr Leben erhält als das Leben als behinderter Marine, ist
Jake längst bewusst.
Neu ist auch der Brand der Bagger und Räumfahrzeuge nach dem ersten massiven
Angriff auf das Stammesgebiet der Omaticaya. Im Vordergrund Leichen der Soldaten
und Konzernmitarbeiter. Diese Szene motiviert das erste feindliche Eingreifen
von Colonel Quaritch (1:25:54 DVD), wenn er zur mobilen Avatar-Zentrale in den
Hallelujah-Bergen fliegt und die Avatare abstellt, indem er die Menschen mitten
aus der Sitzung in den Steuerungs-Geräten herausreißen lässt.
Nachdem Neytiri den erbarmungslos aggressiven Colonel Quaritch im Showdown
getötet und den humanoiden Jake in der mobilen, stark ramponierten
Avatar-Station gerettet hat (2:26:14 DVD), wird in der Kino-Erstfassung die
erzwungene Abreise der überlebenden Kolonisatoren unter Aufsicht der siegreichen
Avatare und Na’vis gezeigt. In der Zweitfassung wird zuvor noch der sterbende
Na’vi-Rivale und Verbündete Tsu’Tey am Boden im Dschungel präsentiert. Er
übergibt Avatar Jake endgültig die Führung des Stammes, dieser tötet den
Sterbenden rituell mit dem Messer, wie anfänglich die gejagten Tiere. Eine
bewegende, jedoch ambivalente Parallele (Wer ist der bessere Indianer, der
maskierte Weiße Mann oder der Farbige, Blaue?), sie relativiert aber die
unvergessliche Zeitlupen-Poesie des Ikarus-Absturzes von Tsu’Tey im Kampf gegen
die Soldaten im Bomber-Shuttle. Damit wird auch ein umständliches Hin-und-Her in
der Erzählung der übrig gebliebenen männlichen Hauptfigur Jake geboten, das die
unbefangene Verwunderung und das Staunen über die Transformation zum Neo-Na’vi
am Ende abbremst.
Mehr Mut zur Lücke Fazit: Die Veränderungen beweisen, dass der Film selbst auch ein
ausgeklügeltes Netzwerk aus 3D-Weltdarstellung und evolutionären
Handlungsschritten zwischen Kontinuität und Sprung ist, bei dem Feinschnitte,
Erweiterungen, Ergänzungen und neue Szenen die Logik des Ganzen schlagartig
unter Spannung oder gar in Frage stellen. Vielleicht ist die erste Fassung,
trotz ihrer coolen Einrahmung durch Wissenschaft und Wirtschaft, bereits ein
relativ redseliges Fantasy-Produkt. Das war, was ich »Mehr Science Fantasy als
Science Fiction« nannte. Die zweite Edition vertieft an einigen Stellen diesen
Trend, gerade auch durch ihre motivischen Parallelen zu anderen Filmstellen. Die
Lücken und Sprünge der ersten Fassung hatten noch etwas vom Rätsel der Science
Fiction, die nicht alles darstellen kann und will. Science Fiction setzt nicht
vollkommen auf hochauflösende Sinnesreize, sondern auch auf den schroffen
abstrakten Begriff, auf das spekulative, verfremdende Modell. Die digitale
Spiele-Industrie setzt auf die möglichst totale und anthropomorphe
Darstellbarbeit. Und Cameron lässt sich in diese Richtung locken, wie Avatar
Jake, der wie ein Kind immer alles im Dschungel anfassen muss, bis es leuchtet
oder schrumpft. Weniger ist aber meistens doch mehr. Der Dschungel und Pandora
sollten ein Geheimnis bergen, die Handlungslogik und die Psychologie der
Charaktere ein Stück weit auch. Die panoramische Distanz der ersten Fassung
bewahrte etwas Science Fiction, das Geheimnis einer fremden Welt, die nicht zu
sehr ins Verstehbare und Konsumierbare gerückt wird.