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Die Mücke auf dem Grashalm

Der fünfte Band der Virginia-Woolf-Tagebuch-ausgabe (1936-1941) komplettiert die deutsche Übersetzung

Von Rolf Löchel


Viel zu oft sind es gerade die schlimmsten Befürchtungen, die sich erfüllen. Doch glücklicherweise manchmal nur in einer ganz unbedeutenden Form. So fürchtete etwa Virginia Woolf vor Erscheinen eines ihrer letzten Romane, es werde heißen, mit "The Years" habe sie "ein langes Buch über nichts geschrieben." Und tatsächlich höhnte der SF-Autor Philip K. Dick einige Jahrzehnte später, sie habe "am Ende über rein gar nichts schreiben" können. Eine ebenso haltlose wie auch einzigartige Bemerkung. Denn Woolfs Buch wurde vom Publikum ebenso wie von der Kritik (mit Ausnahme der kommunistischen Presse) sehr wohl die ihm gebührende Würdigung zuteil.

Wie man nun dem fünften und letzten Band von Woolfs die Jahre 1936 bis 1941 abdeckenden Tagebüchern entnehmen kann, war sie sich selbst ganz und gar nicht sicher, ob ihr das Werk gelingen würde. Während sie letzte Hand an den Text legte, zerrissen sie Zuversicht und vehemente Selbstzweifel geradezu. So notierte sie am 16. Januar 1936, am Vorabend sei ihr der Roman "dümmlich und geschwätzig - zwielichtig und klatschsüchtig" erschienen. Doch als sie "heute morgen" noch mal "kurz hineingesehen" habe, sei er ihr, "ganz im Gegenteil, reich und äußerst lebendig vor[gekommen]." Zwei Monate später hat sich an diesem inneren Zwiespalt nichts geändert. Hält sie den Roman an einem Tag für einen "völlige[n] Reinfall" und denkt daran, ihn "wegzuwerfen", so ist sie am nächsten überzeugt, dass ihr mit ihm "vielleicht mein bestes Buch" gelungen ist.

Doch je näher der Erscheinungstermin im März 1937 rückt, um so banger wird ihr, sicher werde es "ungeheuer deprimierend". Doch ebenso sicher ist sie, dass sie die Reaktionen auf das Buch "überleben kann". Das mag nach der schulterzuckend vorgetragenen und beruhigend klingenden Allerweltsphrase 'man werde etwas schon überleben' klingen. Bei Virginia Woolf ist es jedoch alles andere als eine façon de parler, sondern eine wörtlich zu nehmende Selbstversicherung und zudem eine dringend notwendige Selbstermutigung. Daher schreibt sie auch nicht, sie werde, sondern sie könne es überleben.

Entsprechend groß ist ihre Erleichterung, als schon die ersten Rezensionen positiv ausfallen und man bald "fast überall" sagt, "The Years seien ein Meisterwerk". Zugleich aber klagt sie, "dass niemand zu sehen scheint, worum es [in dem Buch] geht - mir geht".

Wie Woolf selbst im Tagbuch mehrmals anklingen lässt und Klaus Reichert als Herausgeber in der Vorbemerkung unterstreicht, hat sie den Roman vor der Publikation um Hunderte von Seiten gekürzt. Kaum jemand, der ihn kennt, dürfte nicht darauf brennen, auch diese zu lesen. Ob sie erhalten sind, verschweigt Reichert allerdings, der das Tagebuch ansonsten mit zahlreichen Fußnoten meist zu politischen Ereignissen oder Personen des öffentlichen Lebens und aus Woolfs Bekanntenkreis erläutert. Phasen, in denen Woolf kein Tagebuch führt, werden durch Zwischenbemerkungen des Editors überbrückt. Sie teilen mit, wie die Woolfs in dieser Zeit lebten und was sie unternahmen. Zwar unterläuft da schon mal ein kleiner Schreibfehler, so dass anstelle eines Januars ein Dezember tritt, doch erweisen sich diese Erläuterungen als ebenso hilfreich wie das ausführliche Register, das sich nicht nur darauf beschränkt, Orts- und Personennamen zu nennen, sondern auch angibt, in welchem Zusammenhang die Namen an bestimmten Stellen stehen.

Obwohl sich Virginia Woolf während der letzten Korrekturen geschworen hatte, keinen längeren Roman mehr zu verfassen, und sich unmittelbar nach Fertigstellung von "The Years" mit Elan und Freude an das Essay "Three Guinees" setzte, ließ sie doch bald noch ein weiteren Roman folgen: "Between the Acts", von dem sie selbst erklärte, er sei "wesentlicher als die anderen".

Die Reflektionen über ihre schriftstellerische Tätigkeit nehmen in den Tagebüchern der Jahre 1936 bis zu ihrem Tod breiten Raum ein. So begleiten die Tagebucheintragungen nicht nur die tägliche Arbeit an den jeweiligen Projekten. Woolf klagt zudem gelegentlich darüber, wie schwer es ihr überhaupt falle zu schreiben ("Kaum jemand wird das Schreiben so sehr als Folter empfinden wie ich."). Auch reflektiert sie über die "Absicht", mit der sie "fortwährend diese Tagebücher schreib[t]. Nicht zur Veröffentlichung. Eine Überarbeitung? Erinnerungen an mein Leben? Vielleicht."

Wesentlich seltener hält sie ihre Lektüreerlebnisse fest. Welchen Eindruck bestimmte Bücher bei ihr hinterlassen haben, erfährt man kaum. Doch empfindet sie ihren "Geist" beim Lesen "wie ein[en] Flugzeugpropeller unsichtbar schnell und unbewusst - ein Zustand, den man selten erreicht."

Auch über Menschen äußert sie sich eher selten und meist nur kurz. So etwa über den "genial[en] aber untalentiert[en]" Thomas Hardy, über "die Beschaffenheit von [Whyston Hugh] Audens Egoismus" oder über Sigmund Freud. Woolf lernt den Begründer der Psychoanalyse als "zusammengezogene[n], eingeschrumpfte[n] sehr alte[n] Mann" kennen, der an "gelähmte[n], krampfhafte[n] Bewegungen" und aufgrund seines Gaumenkrebses an "Artikulationsschwierigkeiten" leidet, sich aber "helle[r] Affenaugen" erfreut und "ganz wach" ist. Seine Schülerin Melanie Klein charakterisiert Woolf als "eine Frau von Charakter & Kraft & einer unterschwelligen - wie soll ich sagen - nicht Schlauheit, sondern Subtilität: etwas, was unter Tage arbeitet."

Und natürlich werden Politik und Zeitgeschehen immer wieder mit kommentiert; bis in die späten 1930er-Jahre hinein oft nur in fast beiläufig hingeworfenen Bildern, die allerdings von beindruckender Klarheit sind. So beginnt der Eintrag des 12.3.1938 mit den Sätzen: "Überfall Hitlers auf Österreich: das heißt, seine Armee hat gestern abend um 10 ohne Widerstand die Grenze überschritten [...]. Diese Tatsache verbindet sich mit den russischen Prozessen, wie schmutzige Wassertropfen, die sich mischen".

Hitlers Rede auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP hört sie ihm Radio. "Hitler hat geprahlt & gedonnert, aber noch keinen echten Bolzen geschossen. Nur gewaltige Tiraden & brach dann ab. Wir haben es uns bis zum Schluß angehört. Ein wildes Gebrüll, wie jemand der gefoltert wird; dann Brüllen aus dem Publikum; dann ein gemessenerer & maßvollerer Satz. Dann wieder ein Bellen. Jubel, den ein Stock regiert. Beängstigend, wenn man sich die Gesichter vorstellt. & die Stimme war beängstigend. Doch als es so weiterging, sagten wir (und stützten uns auf ein Wort oder zwei) Antiklimax. [...] Wie können Menschen diesen Unsinn ertragen?"

Mit dem Ende des Jahrzehnts werden die politischen Bemerkungen häufiger, beginnen das Tagebuch geradezu zu prägen. Denn das Bewusstsein der Kriegsgefahr bestimmt Woolfs Leben und somit auch die Tagebucheinträge spätestens seit Anfang 1938 immer stärker. So fürchtet sie im Mai des gleichen Jahres, dass "ganz Europa vielleicht bald in Flammen steht". Es werde ein "hoffnungsloser Krieg", in dem "Gewinnen bedeutungslos" sein werde, da er sie und die ihren "bis an unser Lebensende öffentlichem Elend" aussetzen und zugleich den "vollständige[n] Untergang der Zivilisation in Europa" heraufbeschwören werde. Angesichts des Gefühls völliger Machtlosigkeit gegenüber dem übermächtig drohenden Unheil des heraufziehenden zweiten Weltkriegs notiert Woolf in einem ihrer zahlreichen Momente tiefer Niedergeschlagenheit am 17. August 1938: "Man hört auf, darüber nachzudenken - das ist alles. Spricht weiter über das neue Zimmer, den neuen Sessel, die neuen Bücher. Was kann eine Mücke auf einem Grashalm anderes tun."

Mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt am 23.8.1939 wurde Woolfs Kriegsfurcht zur Gewissheit. Aber selbstverständlich hörte sie auch nun keineswegs auf, "darüber nachzudenken", sondern tat, was immer in ihrer Macht stand, indem sie schrieb: Literatur vom Feinsten und Essays vom Klügsten. "Dieses kleine Ideengeprassel ist der Rauch meines Schusses für die Sache der Freiheit - das sage ich mir, und halte damit ein Märchen am Leben", notierte sie am 6. September 1939. Am Tag zuvor, dem 5. September, schrieb sie: "In Warschau fallen wohl Bomben auf Zimmer wie dieses."

Am 7. September morgens um 8 Uhr 30 dann der erste Fliegeralarm. "Dies ist weiß Gott die schlimmste Erfahrung, die ich je im Leben gemacht habe. Ich bemerke, daß Gewalt eine sehr langweilige Erfahrung ist. Das heißt, man hat nur noch körperliche Empfindungen: man beginnt zu frieren & wird apathisch."

Dass der Ton dieses letzten Tagebuchbandes über weite Strecken noch düsterer klingt als derjenige der vier vorangegangenen, dürfte nicht nur Woolfs zu Depressionen neigender Mentalität und ihren klinischen Schüben anzulasten sein, sondern vor allem den selbst mit dem Begriff düster nur unzulänglich umschriebenen Zeitumständen. Ihre mit Leonhard Woolf besprochenen Überlegungen, gemeinsam in den Tod zugehen, "falls Hitler hier landet", klingen jedenfalls durchaus rational. Dass ihr Suizid dennoch nicht von langer Hand geplant war, belegt eine Tagebucheintragung vom 26.1.1941: "Heute gegen Depression [...] angekämpft. [...] Ich lasse mich von diesem Verzweiflungstief nicht verschlingen." Keine zwei Monate später ertränkte sie sich in der Ouse. Rolf Löchel

Dieser Artikel erschien zuerst by Literaturktitik.de

 

Virginia Woolf
Tagebücher 5.
1936-1941.
Herausgegeben von Klaus Reichert.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt a. M. 2008.
600 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783100925664

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