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Philosophie - Essay
 









  

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Was weiß ein Wissen über sich?
Zum Umgang mit unserem Denken

Ein Aufsatz von Oliver Eller

1
Zur modernen Wissenschaft gehört, daß sie mit ihren Versprechungen einen kaum geringeren Einfluß auf unser Leben und ihren eigenen Fortgang nimmt als mit dem, was sie erforscht und entwickelt. Vor allem sie selbst kann heute ein Versprechen abgeben, weil man ihr glaubt – und sie muß es, weil man ihr sonst nicht länger glauben wird. In ihrer aufklärerischen, emanzipatorischen Geste behielt sie doch etwas bei, weniger ein bestimmtes Denken und Wissen, aber vielleicht so etwas wie eine ungesagte Axiomatik – den keineswegs offensichtlichen Grund betreffend, weshalb der Mensch überhaupt wissen soll, den eigentlichen Kern seines Denkens.

Wissenschaft stößt auf besondere Sympathie, wo immer ein Mensch aus ihr spricht, der von etwas träumt oder einer unwiderstehlichen Idee nachgeht – das ist ihr im Grunde attraktivstes Identifikationsangebot an uns. Doch worin trifft sich heute das, was wir glauben und wovon wir träumen, mit dem Tun der Wissenschaften? Gehört es nicht zur besonderen Nüchternheit unseres Lebensgefühls, ohne Vertrauen in die Politik, erhaben über alles Pathetische, unerreichbar zu sein für Akteure, die offenbar nicht für uns sprechen? Wissenschaftlich-technische Zukunftsperspektiven mögen spannend sein und uns zu Phantasien über unser künftiges Leben anregen, aber sie sind wohl nicht wirklich das, wodurch unsere Sehnsucht – und darum geht es, nicht nur um Faszination und Bewunderung – sich angesprochen fühlen könnte. Da ist zumindest noch etwas anderes, mit der Macht des Wissens Verschränktes und darüber Hinausgehendes, womit Wissenschaften uns in ihren Bann ziehen: Man kann es durchaus mythologisch auffassen, daß wir nur allzu bereit sind zu glauben, in den Wissenschaften und durch deren Existenz bestätige sich, daß wir im Grunde ein Wissen darüber haben, was wir wollen, und das Richtige tun werden. Das ist ja nicht weniger als eine Schicksalsfrage: Als Kreuzungs- und Anknüpfungspunkte, als Scharniere eines gesellschaftlichen Denkens und Handelns sind die Wissenschaften Orte, an denen eine Gewißheit über das Wesen und die Geschicke des menschlichen Willens besteht oder an denen man sich diese Gewißheit geben möchte. Daß Menschen sich des Vertrauens fähig zeigen, in ihr nach Gewißheit zu suchen, und daß sie sich so ihrer Verantwortung bewußt zeigen, sich diese Gewißheit durch die Wissenschaft zu vermitteln; daß sich in ihr Menschen offenbar aus eigenem Antrieb, das heißt herrschaftsfrei aufeinander zu bewegen, daraus tritt für uns die große kulturelle Zuversicht hervor, daß es der Mensch in seinem Denken und Tun letztlich nur gut mit sich meinen kann. Innerhalb seines wissenschaftlichen Tuns und Interesses kann er von der Erfahrung seines unverstellten Willens träumen, einer sinnlichen Erscheinung: von einem Denken, das seinen Willen als ihm entsprechend erkennt. Wissenschaft ist in ihrem Einfluß auf uns wohl vor allem das Pfand einer namenlosen Sehnsucht, die Glaubhaftigkeit des Versprechens, das sich der Mensch ist. Wo sie derart versprechen kann, ist sie nahe daran, daß wir ihr glauben, sie werde unser ganzes Denken, Erleben, Empfinden von Grund auf verändern können und daraus etwas schaffen, das uns endlich zu willen ist.

Ein Denken, das diesen Weg nimmt, muß sich in etwas Entscheidendem fremd oder unbegriffen sein. Unabhängig von dem Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigt, steht Wissenschaft zugleich von Beginn an in einer engen und dabei doch seltsam kaschierten Beziehung mit der Irritation des menschlichen Geistes über das, was in ihm vorgeht: Das Denken ist in einer prinzipiellen Not, sich zu erkennen, und das um so mehr, als wir uns ständig anderen Menschen zu erkennen geben müssen. Es ist sich fremd in all dem, was es für uns sein soll und nicht sein darf, inmitten des Wissens. Uns beunruhigt, daß es nicht immer so vorgeht, wie wir erwarten oder wünschen, sich nicht wirklich führen läßt wie ein Pferd von seinem Reiter, daß dieses Denken nicht das einer Literatur ist, die das Glücken ihrer Sätze feiern kann; daß es oftmals unaussprechlich oder nicht vorzeigbar ist. Es ist keineswegs klar, was die Sprache für das Denken bedeutet. Wir wissen, daß sie ihm häufig nicht gerecht werden kann – ein Denken, das nicht spricht, bleibt uns indes verschlossen wie ein Tier. Mit der Sprache treten wir in ein Verhältnis zu unserem Denken, das sich durch Selbstreflexivität nicht hinreichend beschreiben läßt – Sprache ist insofern vielleicht am ehesten die Methode und Form eines Denkens, sich zu begegnen und mit sich selbst umzugehen, ein Versuch seiner verstehenden Bemeisterung. Diese Absicht präzisiert sich in der Wissenschaft geradezu: Wissenschaft setzt an dem an, wovon das Denken am meisten beunruhigt und intellektuell herausgefordert ist – an ihm selbst. Eine Wissenschaft von etwas ist auch immer eine Wissenschaft vom Denken, und damit von einer weiteren, unausgesprochenen und zugleich unmittelbareren Bedeutung für es. Es ist, als trauten wir dem Denken nicht und stünden einander sprechend gegen es bei. Sprache – und damit Wissenschaft – ist nicht zuletzt der Umgang des Menschen mit seinem Denken als etwas schlechthin anderem und Unabänderlichem. Da ist etwas, das dem Denken gilt, auf es abzielt: Das „unterscheidet“ uns von unserem Denken.

Ein Wissen wie das der Wissenschaften ermöglicht uns den Ausgang aus dem Ort einer Existenz, dem die Idee anhaftet, daß wir in ihm mit nichts als uns selbst konfrontiert sind; den wir uns als die Unfreiheit vorstellen, bei uns selbst zu sein und uns darin unbekannt bleiben zu müssen. Dieses wortgewaltige Wissen, das uns herausführt, ist gewissermaßen zentrifugal, und es verweist nur darin auf seine merkwürdig sprachlose Beziehung zu dem Ort, den es verlassen hat. Wir neigen zu der Ansicht, daß sich unser Denken recht gut und recht vollständig in den Aufgaben erkennen kann, die sich uns im Laufe des Lebens stellen – und wir neigen dazu anzunehmen, daß das Denken in der Wahrnehmung seiner Lebensaufgaben nicht in die Irre geht. Wir glauben, daß das Leben die Menschen mit Problemen konfrontiert, die ebenso handfest und unleugbar sind wie ihre Lösungsstrategien dringend und unabweislich. All dies glauben wir womöglich, weil wir uns ein Gesetz von Notwendigkeiten herbeiwünschen, das dem Denken Pate steht, ihm sein Vorgehen diktiert und worin sich dieses Denken also auf einem Weg findet, unterwegs in eine Richtung, für die es sich nicht erst entscheiden mußte, sondern die das Denken zu sich selbst anstiftete wie das Licht der Welt das Augenlicht. Wissenschaft wäre das auf diese Weise über sich selbst unterrichtete, aufgeklärte, insgesamt per se rechtgehende Denken. – Fast nie jedoch gehört das, was gedacht wird, und das, was geschieht, auf eine notwendige Weise zueinander. In seinem Wissen und Tun vollzieht sich der persönliche Umgang eines Menschen mit seinem Denken, die Erfahrung dessen, was das Denken für ihn ist oder sein kann: Darin gestaltet sich das Denken mehr, als es sich erkennt oder erfüllt. Nichts ist notwendig an einem Denken, das es in erster Linie mit sich selbst zu tun hat; nichts ist notwendig in dem, was ein Denken mit sich tut.

Man kann den Erkenntnisdrang von Wissenschaften insofern auch entgegengesetzt, involutiv, verstehen: daß in ihren Beschreibungen und Wirkungen, mit ihrer Hilfe, womöglich auf dem Umweg über sie ein Denken versucht, sich zu erkennen oder zu einem Bild von sich zu gelangen – ein Denken, dessen scheinbare Voraussetzungslosigkeit, dessen verunsichernde Gegebenheit ohne nachvollziehbaren Ursprung und ohne offensichtliches Ziel wir anhand einer Welt, in der es Gründe und Zusammenhänge gibt, widerlegen oder marginalisieren wollen: Von der gezeigten Kausalität in der Welt schließen wir dabei auf die gewünschte Kausalität unseres Verstandes. Das Denken möchte den Wissenschaften glauben, denn sie sind es, worin es etwas an sich findet.

2
Ohne daß dies zu ihrem nach außen vermittelten Selbstbild gehörte, entdeckt jemand, der sich in eine Wissenschaft vertieft, darin nicht zuletzt sein Denken, findet er – in einer Welt, in der es nur solche Sonderwege gibt oder sie jedenfalls die Regel des Selbstbezugs sind – einen besonderen Weg, sich mit ihm auseinanderzusetzen; auch es für etwas zu nutzen, sich geistig einer Sache zu widmen heißt vor allem mit ihm, als dem eigenen Denken, umgehen. Wissenschaft sucht in ihrem Denken wahrscheinlich nicht primär nach Techniken für eine Praxis des menschlichen Daseins im allgemeinen, sie will nicht in erster Linie nützlich sein, noch weniger sieht sie sich selbst als ein Mittel zum Zweck: Sie ist, ob Philosophie oder Molekularbiologie, möglicher Kristallisationspunkt eines Selbstverständnisses und einer Lebensweise, um den herum sich die ganz individuelle Existenz arrangiert – das ist so etwas wie ihre zweite Wirklichkeit, ein zweites, nach innen gerichtetes Fragen: Wissenschaft bleibt immer eine Technik des Fragens nach sich selbst, eine hermetische Technik: eine der Implizierung oder Einschließung dieses Fragens.

Ein Wissenschaftler verspricht sich etwas, jenseits des gewünschten Erfolgs und des erforderten Sinns in seiner Tätigkeit, das ihm keineswegs klar vor Augen liegt und wie eine offene Zukunft ist. Von diesem Interesse sind nicht allein die Geisteswissenschaften geleitet. Auch die Mathematik vermittelt permanent zwischen einem Denken und einem Handeln, vermittelt uns, was es heißt, daß wir existieren. In dem Wissen über die Dinge und unser Dasein, das jede Wissenschaft mit ihrem Denken hervorbringt, regt sich eventuell das gleiche Ideal wie in einer philosophischen Ethik, der es um das richtige oder glückselige Leben und um die Wege dorthin geht. Die Philosophie bewegt sich in ihrem Sprechen über das Leben im Grunde nur als ein Mitläufer in diesem impliziten oder expliziten Wissen, sie bewegt sich nach der Maßgabe eines Ideals, das nicht von ihr selbst stammt und dessen sie sich denkend kaum annimmt. Das ist die Blindheit dieser wie anderer Wissenschaften für ihre Herkunft und ihre Beweggründe.

Wir erleben Wissenschaft am ehesten als eine vermittelnde Kraft zwischen uns und Natur oder Welt, die uns sagt, was man tun kann und was man tun muß. Sie ist nicht per se wahr oder relevant, nicht schon durch diejenigen, die das Wissen erarbeiten, sondern wird es natürlich erst im interaktiven Geschehen. Im Wissen stellt sich von Anfang an nicht eine Herrschafts-, aber eine Machtfrage: Wer spricht, und wer hört zu? Einem Bedürfnis, Glauben zu schenken, antwortet in unserer Praxis des Wissens ein anderes, glauben zu machen. Über den Willen, jemanden etwas glauben zu machen, sucht man selbst eine Bestätigung, und gar nicht unbedingt eine in der Sache, die man vorträgt, sondern eine Vergewisserung über irgend etwas im eigenen Denken. Ein kommunikatives Handeln, das frei sein möchte, wird berücksichtigen müssen, daß das Denken von Anfang an etwas mit sich tut.

Sicher sind wir im allgemeinen so vernünftig, daß man uns von vielem erst einmal argumentativ überzeugen muß – aber immer gibt es in solchen Situationen schon Dinge, an die wir glauben, deren Beschaffenheit wir voraussetzen und die es mit sich bringen, daß wir uns hinsichtlich anderer Dinge bereitwillig überzeugen lassen. Das Wissen schafft sich insofern nicht zuletzt aus dem Wechsel- und Zusammenspiel aktiver und rezeptiver geistiger Haltungen: Für die Menschen, die von ihr erzählen, ist Wissenschaft geradezu ihre eigene Natur, die sie aus eigener Kraft in sich entdecken und die sie ansprechen können wie jemand, der die Tiere das Sprechen lehrt – das ist die besondere Beziehung zu ihrem Denken, eine Art der Wissenschaft vorbehaltener Weisheit, der die Welt zunickt. Für die anderen ist diese Erzählung die Botschaft des wilden Tiers, einer Natur, mit der wir konfrontiert sind und die Forderungen an unser Denken und Tun stellt, uns zu einem bestimmten Leben zwingt; mit der wir die Lebensweisheit verbinden, sie hinzunehmen, mit Gleichmut zu ertragen, vielleicht auf bessere Zeiten zu hoffen, in denen sie gebändigt ist. – Das sind zwei Blickwinkel von einander gegenüberliegenden Seiten auf ein gemeinsames Schicksal, zwei Gesichter eines Versprechens der Wissenschaften an die Menschen, die durch ihr Blicken und Erzählen je ins Reich der Freiheit oder das der Notwendigkeit fallen: Stark und schwach, frei und unfrei ist der Mensch im Licht dieses gleichen Wissens, sich ausgeliefert in seiner Freiheit.

Das Prekäre an einem solchen Wissen liegt also nicht darin, daß man uns vom clash of civilizations erzählt oder davon, daß Krebs irgendwann vollständig besiegt sein werde, sondern darin, was für uns, unser Denken, Tun, Leben aus dem bald mehr, bald weniger Unausweichlichen und Unabweislichen folgen soll – dies ist immer janusköpfig, weil wir, ständig auf unser Denken abzielend, nicht ehrlich zu ihm sind. Indem Wissenschaften ihr Denken zu befreien glauben, machen sie den Menschen auf der anderen Seite zum in ihrer Welt Gefangenen. Sie werden zu einer zweiten, die Menschen konfrontierenden Natur, die die erste in ihrer Notwendigkeit beerbt und uns umschließt und zwingt, während wir ihr Wissen noch immer als befreiende Antwort auf einen Ur- oder Naturzustand des Menschen verstehen wollen.

Diese zweite Natur, die die Wissenschaft ist, bringt uns mit den Dingen und Ereignissen der Welt in den gemeinsamen Kontext eines Wahrnehmens und Handelns. In dem System der Dinge und Aussagen, die das Wissen bildet, damit sich unser Denken darin erkennt, mit all den Objekten und deren Eigenschaften, und all dem, was damit und deswegen zu tun ist, sind wir die Akteure; wir sind gleichsam dafür bestimmt, das Spiel auf diesem realen, aber so, wie es ist, keineswegs notwendigen Feld zu spielen, für die Einlösung des Wissens. Das Wissen inszeniert uns darin, es sperrt uns in eine Handlung und macht Denkende zu mitlaufenden Komparsen. Die Zumutungen in diesem Spiel, in diesem Leben, das wir uns in mancher Beziehung vorspielen, sind teilweise ganz enorm, für jeden von uns.

Über die Dinge, denen er sich zuwendet, und die Praktiken, die er daraus ersinnt, nimmt sich der Mensch in seine Gewalt – das mag seine sublime Art sein, zu sich zu finden. Wissenschaften experimentieren wie selbstverständlich mit dem Dasein, weil wir alle gespannt sein können, was daraus für uns werden wird. Am Wissen wirken wir alle gemeinsam, denn es hat, indem es Denken und Tun vermittelt, jedem eine Rolle zugedacht; niemand steht ihm wirklich fern, so interesselos er auch sein mag: Er ist mit der Wirklichkeit, die er wahrnimmt, ein Subjekt der Wirksamkeit dieses Wissens. Er sieht in allem, was er denkt und weiß und tut, wie der schlechte Darsteller einer anderen Person von sich ab: Das ist seine Bildungsferne. In unserer Nähe zum Wissen und unserer Ferne zur eigenen Bildung entsprechen wir der speziellen Verfaßtheit von Wissenschaft in der Gegenwart und spiegelt sich der Umgang des Menschen mit seinem Denken, sein Bild von ihm, das, was er seinem Denken zutraut oder von ihm erhoffen zu können glaubt. Ein Wissen muß in seinen Inhalten und den Bedingungen seiner Äußerung und Manifestation danach beurteilt werden, was es aus den Menschen macht, welche Lebensumstände es für uns schafft – welches Verhältnis zu unserem Denken. Wohl nie zuvor war das, was ein Mensch für sich dachte, worin er sein eigenes Denken dachte, so unbedeutend für das Leben dieses Menschen wie heute. Gerade daran aber bemißt sich die Freiheit eines Denkens: an der Bedeutung und Tragweite, die sein eigenes Nachdenken für die Existenz eines Menschen haben kann.

3
Wissenschaft organisiert heute unser Wissen, bis ins subjektive Empfinden hinein, darin nicht unähnlich der Organisation des Glaubens durch die Kirche, nur mit viel größeren Auswirkungen auf unser heutiges Dasein. Dabei fragt sie sich nicht, fragen wir uns nicht, was sie mit uns tut. Vieles von dem, was wir tun, ist zu etwas Selbstverständlichem und Unverzichtbarem für uns nur dadurch geworden, daß wir einmal damit begonnen haben und dann nicht mehr aufhören konnten. Wissenschaftliche Forschungen und Entwicklungen rechtfertigen sich als Notwendigkeiten, angesichts zivilisatorischer Dilemmas, angesichts ihrer Hineinverwobenheit in unser Leben, doch wie sie je gewirkt haben und was sie erwirkt haben, das ist, sosehr wir das meiste davon bejahen können, stets der Zufall gewesen. Die Zufälligkeit im Denken ist allerdings seine Freiheit – aber durch eine Wissenschaft, welche ihre eigene Notwendigkeit herleiten und in unsere Welt Notwendigkeit hineinbringen will, wird sie geradewegs verneint. Die Wissenschaften suchen den Menschen nicht zuletzt an sich zu binden, um mehr als nur ein Zufall des Denkens sein, um an sich glauben zu können; ihre Unentbehrlichkeit rührt weniger von den Problemen und Gefahren, mit denen die Menschheit jetzt und in Zukunft konfrontiert ist; sie rührt vor allem daher, daß Wissenschaften und im allgemeinen Agenturen des Wissens wie die Massenmedien es seit jeher unternehmen, in der Entwicklung ihrer selbst unser Leben nicht beschreibend zu begleiten, sondern es zu entwerfen und ihm Inhalte zu geben. Das meiste von dem, was wir wissen, ist nicht notwendig, sondern gewollt.

Wer Willensfreiheit leugnet, unterstellt damit, daß wir nach nichts suchten, während alles Erkennen und Erfahren uns nur heimsuchte. Der in Frage gestellte Wille ist aber das Suchen des Denkens, eine Ausschau nach seiner eigenen Erscheinung, und unser Denken sucht im Grunde voraussetzungslos, es neigt dazu, sich denkend aus allem herauszubewegen, aus dem Fluß der Sprache, aus der Spur jeder Schrift herauszugleiten wie ein leicht ablenkbarer oder innerlich mit etwas anderem beschäftigter Zuhörer. An Voraussetzungen gebunden ist es, wo es sich einer Praxis, dem System eines gesellschaftlichen Handelns, einer äußerlichen Ökonomie gegenüber zu verantworten hat – wo es ihr bereits unterworfen ist und die Freiheit des Willens erst recht in den Blickpunkt einer kulturellen Betrachtung rückt. Auf den Gedanken, wir hätten keinen freien Willen, kann jemand nur aus der Beobachtung heraus kommen, daß das Denken in unserer Welt sich derart nach dem Handeln richtet.

Uns erscheint es selbstverständlich, daß unsere gedanklichen Beschäftigungen im wesentlichen in Praktiken aufgehen – nur aneinander werden Denken und Handeln für uns zu etwas Vollständigem. Entsprechend sind Wissenschaften nicht einfach für den gesellschaftlichen Erwerb von Kenntnissen zuständig, sie sind in erster Linie Orte einer Verknüpfung menschlicher Aktivität. Dabei werden das Denken, seine Ideen und Wahrnehmungen, und die Geschehnisse in der Welt, das Tun der Menschen schaffend in einen Zusammenhang gebracht, den wir Wissen nennen. Wissen ist der überhaupt nicht selbstverständliche Prozeß einer kontinuierlichen wechselseitigen Abstimmung dessen, was gedacht wird, mit dem, was geschieht, und hat den Sinn, darin auf unser Denken wie unser Tun organisierend einzuwirken und zwischen ihnen mehr oder weniger zu vermitteln: Unser Wissen bildet und verändert sich in dem Spannungsfeld des Denkens und der Praktiken – es ergibt sich hauptsächlich aus einer permanenten Beobachtung von deren aktualisierten und möglichen Verhältnissen zueinander. Im Denken liegt immer die Vision eines Handelns, im Handeln die Vision eines Denkens, die herauszustellen Sache des Wissens ist. Womöglich ist das Wissen mit dem Denken nicht „verwandter“ als mit dem Handeln – es handelt sich bei ihm um die Technik einer Koordination beider, und was sich an Wissenschaft im Laufe der Zeit vor allem immer weiter entwickelt hat, ist die dafür erforderliche Technologie: Das Wissen, das uns in einer Gegenwart naheliegt, entspricht auch einer kulturellen Erfahrung, die wir in unserem bisherigen Umgang mit Wissen an sich gemacht haben, und den Erwartungen, die wir an es knüpfen, indem wir mit den Wechselwirkungen beschäftigt sind, die in einem bestimmten Zusammentreffen von Wissen, Denken und Handeln möglich werden. Dieses Wissen ist wohl zugleich Sorge des Menschen um und Vorkehrung gegen sich selbst, es entwickelt sich nicht zuletzt aus einer Eigendynamik, in der es aus seinem Verhalten etwas über sich lernt und das Tun und Denken in einer Gesellschaft geschickter aufeinander bezieht, ohne daß das Tun und das Denken selbst dafür unbedingt geschickter werden mußten. Die eigentliche Definitionsmacht der Wissenschaften besteht darin, daß sie Prozessen, Ereignissen und Zuständen in der Welt Ideen und Empfindungen zuordnen können und umgekehrt – in ihren Attributionen. Sie appellieren an das Handeln mit dem Denken und an das Denken mit dem Handeln – ihr Wissen ist das Handeln mit einem Denken und die Übersetzung eines Handelns in ein Denken. Wir erkennen darin das Geschehen wieder, wir erkennen unsere Gedanken und Gefühle, und doch ist nichts mehr dasselbe: Wir haben in etwas eingewilligt.

Die relative kulturelle Unwissenheit, die wir unserer Gesellschaft gegenüber ihren technischen Möglichkeiten so häufig attestieren, kommt bereits darin zum Ausdruck, daß wir zwischen beiden Entwicklungen keinen direkten Zusammenhang sehen wollen. Durch das Wissen wird das Denken am Handeln wahr und das Handeln am Denken. Wir folgen mit den Sinnen dem, was wir tun. In den Wissenschaften soll das Denken dem Handeln eventuell deswegen folgen, weil der Mensch in seinem Handeln eine Art Wahrheitserscheinung hat: Ein Denken, das sich erkennen möchte, findet im Handeln einen geeigneten Weg, sich zu kommunizieren, vor sich und alle anderen zu treten und sich betrachten zu können. Es erkennt sich in den Effekten, die es setzt und über die man sich verständigen kann, insbesondere über den Nutzen. Das Denken dient also dem Handeln, weil es darin gewohnheitsmäßig seine Projektionsfläche findet und zu dem Bewußtsein gelangt, im Handeln bereits alles für sich getan zu haben. Die mit der Wissenschaft erkaufte, für den Menschen erschwingliche Lebenswirklichkeit ist die von solchen Fakten. Das Tun, das Geschehen hat schon immer einen Sinn und Zweck, einen Grund, der sich in diesem Wissen zeigt, so denken wir, aber vielleicht ist es ebensooft umgekehrt, und der Grund unseres Wissens ist, einem Geschehen zu entsprechen, es anzunehmen, sich darin wiederzufinden; so verkehrt sich das Verhältnis von Zwecken und Mitteln im Gebrauch unseres Verstandes oder wird es gerade in der Wissenschaft unbestimmbar.

Selbstreflexiv zu sein bedeutet, das Denken von zwei Seiten aus betrachten zu können; es bedeutet, daß das Denken sich Kenntnisse darüber aneignet, wie es sich selbst begegnen, wie es sich gegebenenfalls produzieren und steuern kann, und gerade dies als seine Selbsterkenntnis und Freiheit erlebt. Wir sollten deshalb die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß die Gestaltung der Welt durch den Menschen nicht unwesentlich dem Einkreisen und der Bemeisterung seines Denkens dient, daß das Denken darin gemeint ist und wir uns ihm über die Dinge nähern. Was mit uns geschieht, die vielen von Menschen geschaffenen Umstände, die auf uns einwirken, sind vor allem das Resultat eines Denkens, das sich seine Freiheit nur beweisen zu können glaubt, indem es Praktiken freisetzt und sich ihnen aussetzt; dem es freisteht, sich zu beeinflussen, aber nicht möglich ist, das Resultat dieser Beeinflussung zu ermessen. Das ist einer der wichtigeren Gründe dafür zu wissen, daß man im sokratischen Sinne nichts weiß: daß die Wissenschaft von noch größerer Tragweite für unser Leben ist, wo sie nichts weiß; wo sie in einen Bereich eindringt, der ein vages Versprechen für sie selbst, für ihren Gestaltungswillen bereithält; wo sie stets hineinwächst in eine noch kaum vorstellbare Rolle für die Welt und für unser Leben. Wir halten unser Wissen für geronnenes Denken, wir sehen sein Interesse im Erkennen – aber die Interessiertheit der Wissenschaften an der Realität liegt im Gestalten, wozu ihnen alles, was gesagt und getan wird, gewissermaßen als disponibles, formbares Material dient.
 

Oliver Eller, geboren 1965,
studierte in Heidelberg
Philosophie und Politikwissenschaft.
Er arbeitet als Redakteur und Lektor.

Zwei Aufsatzveröffentlichungen: „Wie anders sind die anderen?“ in Merkur 577 (April 1997); „Was wollen wir wissen?“ zur gleichlautenden Preisfrage 2002 der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; eine Buchveröffentlichung (Mitherausgeber): „Die Tagfalter der Pfalz“ (2007)

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