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Stilisten auf großer Fahrt

Georg Forsters Weltreisebericht bestaunt und erklärt die Welt, Matthias Polityckis Schelmenroman karikiert die selbstbezüglichen Sitten auf einem Luxuskreuzfahrtschiff.

von Bernd Blaschke

Reisebücher, Reiseberichte und Reiseromane gehören zu den populärsten Lektüren. Sei es, daß man sich selbst auf eine Reise vorbereiten möchte, sei es, daß man unterwegs die eigenen Eindrücke mit denen vormaliger Reisender vergleichen will oder sei es, daß der Leser bequem zu Hause im Lehnstuhl an den Erlebnissen, Eindrücken und Abenteuern anderer teilnehmen möchte, die aufgebrochen waren in die Ferne: die Berichte von den Erfahrungen in entlegenen Ländern und mit fremden Menschen bilden einen Grundstoff des Erzählens überhaupt.
Das Genre der Reis
etexte bietet dabei seit jeher eine große Bandbreite an Themen und Schreibweisen. Von nüchternen Tagebuchaufzeichnungen der Reiseeindrücke und statistischen Erhebungen über die fremden Verhältnissen bis zu phantastisch überhöhten, grotesken oder ironischen Schelmengeschichten reicht die Palette der Reisedarstellungen. Das Hauptaugenmerk der fahrenden Berichterstatter kann den fernen Meeren und Gebirgen gelten oder der dortigen Flora und Fauna; es kann sich den Menschen, ihren Sitten, Kulturen oder ihren politischen und gesellschaftlichen Zuständen zuwenden. Der Berichtersatter kann dabei von sich und seiner subjektiven Befindlichkeit weitgehend absehen oder gerade diese subjektive Erlebnisqualität seiner Er-Fahrungen mit den anderen zum Hauptgegenstand seiner Notate machen. Auf jeden Fall bietet das Reisen als Bewegung und als Modus systematischer Produktion neuer Situationen eine herausragende Gelegenheit der Begegnung und Erfahrungen mit sich selbst sowie mit der Welt und den anderen. Von besonderem Reiz sind dabei natürlich Reisen, die an außergewöhnliche Orte führen und Reiseberichte, die von besonders sprachmächtigen Autoren verfaßt werden. Die Königsdiziplin des Reisens bleibt, auch im Zeitalter des beginnenden Weltraumtourismus, wohl immer noch die Umrundung der Welt auf Schiffen ergänzt mit Landgängen an ausgewählt kuriosen Orten. Im vergangenen Herbst und in diesem Frühjahr wurden nun zwei Welt-Reisebücher publiziert, die gegensätzlicher kaum sein könnten –  und die doch, weil sie jeweils von herausragenden Stilisten und Chronisten ihrer Zeit verfaßt wurden, zum Vergleich einladen.
Georg Forsters ‚Reise um die Welt’ wurde 1777 erstmals auf englisch publiziert, 1778 dann in seiner eigenen Übersetzung auf deutsch. Sie wurde 2007 in einer prachtvollen Edition der ‚Anderen Bibliothek’ neu aufgelegt, versehen mit einer informativen Einleitung des Forster-Biographen Klaus Harpprecht und illustriert mit zahlreichen, erstmals publizierten Zeichnungen und Aquarellen Forsters. Das zu Reisebeginn erst 17 jährige, sprach- und zeichenbegabte Wunderkind nahm als Assistent seines als Naturforscher engagierten Vaters Johann Reinhold Forster an James Cooks zweiter Weltreise teil. Diese begann 1772 und dauerte 3 Jahre und 3 Wochen. Sie erkundete vor allem den Südpazifik und dessen unbekannte arktischen Regionen.
Matthias Politycki, ein virtuoser Lyriker und Essayist, vor allem bekannt jedoch durch seine humoristischen Zeit-Romane »Der Weiberroman« und »Ein Mann von 40 Jahren«, folgte 2006/07 einer Einladung der Reederei ein halbes Jahr auf dem Luxuskreuzfahrtschiff MS Europa im Kreise neu- und altreicher Touristen die Welt zu umrunden.

Georg Forster Gemälde von
J. H. W. Tischbein, um 1785

Weltreisen damals und heute
Die Autorfunktion und Erzählhaltung unterscheidet beide Bücher zuallererst voneinander. Georg Forster wurde nur durch einige unangenehme Umstände zum Verfasser des Reiseberichtes, den eigentlich sein naturkundlich ausgewiesener Vater, ein aus preussisch Polen (aus der Nähe von Danzig) entlaufener Pastor, verfassen sollte. Da sich dieser wohl etwas unumgängliche und zudem im Englischen kaum perfekte Gelehrte auf dem Schiff schon mit vielen überwarf und sich dann auch noch mit der die ganze Expedition in Auftrag gebenden und bezahlenden Admiralität nicht über die Formen und Inhalte der Reiseberichterstattung einigen konnte, schickte er kurzerhand seinen sprachmächtigen Sohn ins Rennen um die Erstpublikation. Denn um einen veritablen Wettlauf handelte es sich bei der schriftlichen Auswertung der sensationellen Erkundungsfahrt des damals schon berühmten Weltumrunders James Cook. Weil der junge Georg Forster durch keine Publikationsklauseln in Verträgen mit der Admiralität gebunden war, konnte er weitgehend schreiben, was er wollte. Und er brachte seine umfangreichen Reisebeschreibungen nebst seinen anthropologischen, philologischen und kulturellen Beobachtungen auch sechs Wochen vor der eher nautisch orientierten Reiseschrift des Kapitäns Cook auf den erwartungshungrigen Buchmarkt. Gleichwohl stellte sich der erhoffte Verkaufserfolg dieser – Krankheiten und prekären Verhältnissen abgetrotzten – fulminanten Schrift nicht ein. Nicht zuletzt die fehlenden Illustrationen, die die Forsters zwar anfertigten, aus Finanznot und Rechte-Gründen aber nicht selbst verwenden durften, sondern an den Forscher und Sammler Joseph Banks verkaufen mußten, verhinderten den Buchmarkterfolg und beließen Vater und Sohn vorerst in Armut. Gleichwohl trug die bald folgende deutsche Übersetzung ihrem jungen Verfasser großen Ruhm bei Deutschlands wissenschaftlicher und literarischer Elite ein: Wieland war von dem Buch ebenso begeistert wie Goethe und später die Brüder Schlegel, die den Autor zum führenden Prosaisten Deutschlands erklärten. Der Physikprofessor und Aphoristiker Lichtenberg rühmte das Buch genauso wie Alexander von Humboldt, dem es zur Inspiration und Vorbild seiner eigenen Reise- und Schriftstellertätigkeit wurde.

Unser Zeitgenosse Politycki hingegen wählte für die Darstellung seiner Reiseerfahrungen einen fiktionalen Rahmen. Nicht er selbst – der er als Schiffsschreiber offenbar keine weiteren Verpflichtungen zu absolvieren hatte, als während der 180 Tage 13 Lesungen anzubieten für die Etappen- oder Dauergäste – nicht er selbst also tritt als Berichterstatter auf, sondern ein oberpfälzischer Finanzbeamter Namens Fichtl, der die Reise als Stellvertreter und Reporter für seine Lotto-Tipgemeinschaft absolviert. Diese hatte sich einst vorgenommen, den ersehnten Hauptgewinn bei einer Weltreise abzufeiern; da der Treffer nicht für alle reichte, macht sich der kleinbürgerliche Fichtl, ausgestattet mit einem „Aldi-Smoking“ und einer Reihe abstruser Motivkrawatten auf die Reise. Die markante Unsicherheit und Unangemessenheit seines Habitus bescheren ihm in der Millionärswelt der Reisegesellschaft den Gerüchte-Ruhm, „ein ganz Großer“ zu sein, der sich um die übliche Etikette und Garderobe erst gar nicht mehr zu kümmern brauche. Politycki wiederum entledigt sich durch die Froschperspektive seines so naiven wie liebenswert unbedarften und humorvollen Stellvertretererzählers der heiklen Verpflichtung, aus eigener Warte kritisch, satirisch oder huldigend über die Schiffsgesellschaft zu berichten, deren Gast er war. Wer beißt schon gerne die Hand, die ihn mit Hummern und „süßen Symphonien“ füttert? Durch die Fiktionalisierungen verflüchtigt sich der Zeugnischarakter seiner Reisebobachtungen – auch wenn Figur und Autor immer wieder betonen, daß gerade die unglaublichsten der Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, und das scheinbar Plausible vielfach nur phantasiert sei.

Der geübte Humorist verschafft sich solcherart die Lizenz zu allerlei komischen und phantastischen Verfremdungen der Reiseerlebnisse. Denn sein Buch ist, trotz der Photos und Daten zum Reiseverlauf, keineswegs das dokumentarische Reisetagebuch, das es seiner äußeren Anlage nach zu sein vorgibt. Vielmehr bringt es in diesem pseudodiaristischen Gewand den pikaresken Roman eines kleinen Mannes, der in der Gesellschaft von echten Reichen und hochstaplerisch bankrotten falschen, durchweg aber dekadenten Gestalten allerlei Intrigen, Rätsel und Verwirrungen zu überstehen hat. Im Gegensatz zu Georg Forsters Reisebuch, in dem zahllose präzise Beobachtungen über geographische Entdeckungen, fremdartige Pflanzen und exotische Kulturen vorgetragen und mit wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Meditationen über die Varianten menschlicher Gesellschaftsformationen angereichert werden, befassen sich die Reisenden auf dem „Fünfsterneplus“-Luxusdampfer fast ausschließlich mit sich selbst.
Die anderen, das sind im Aufmerksamkeitshorizont der mondänen Reisegesellschaft eher die Gaststars wie Roberto Blanco oder Senta Berger, kaum hingegen die Bewohner der Länder, die man mit Geländewagen oder Charterfliegern kurz penetriert. Georg Forster interessiert sich zuerst für die Bewohner der fernen Inseln, dann gelegentlich für die verschiedenen Mitreisenden vom Arzt und Kapitän bis zu den rauhbeinigen und sexhungrigen Matrosen und Seesoldaten und schließlich auch noch ein wenig für die eigenen Befindlichkeiten, etwa bei den Strapazen mehrmonatiger Aufenthalte in den unwirtlich kalten antarktischen Regionen, wo die Nahrung nur aus Jahre altem, geschmacklosem Pökelfleisch, schimmeligem Schiffzwieback und dem gelobten Sauerkraut als Wundermittel gegen den Skorbut besteht. Polityckis Reisegruppe interessiert sich zuallererst für sich selbst und ihre finanzielle Potenz (die bei der regelmäßigen Versteigerung der Seekarten zu karitativen Zwecken ihre demonstrativen Auftritte hat), sodann für das vornehmlich erotisch interessante Schiffspersonal und erst zuallerletzt für die Bewohner der fernen Länder, die man auf gelegentlichen Landtagen eher als Störung der geschlossenen Seegesellschaft erlebt, denn als Zielpunkte der Reise.

Die frappanten Kontraste zwischen dem weltoffenen, neugierigen Aufklärer von damals und der von Politycki mit feiner Ironie vorgeführten Borniertheit der heutigen Reisenden könnte man an einem ganzen Katalog von analogen Themen und Ereignissen demonstrieren: die arrogante Überheblichkeit der Touristen in der Begegnung mit den jeweiligen Eingeborenen steht im Gegensatz zu Forsters menschenfreundlichen Reflexionen über die Gastfreundschaft der meisten angetroffenen Inselbewohner, die sich oft sogar nach schlechten Erfahrungen mit europäischen Seefahrern erhalten hat. Dabei ist Forster, der schon vor seiner Reise den exotischen Reisetext des französischen Südsee-Erkunders Bougainvilles mit seiner Feier der dortigen erotischen Freizügigkeit übersetzte, keineswegs ein blinder Anhänger rousseauistischer Dogmen vom guten Wilden und  der Dekadenz europäischer Zivilisation. Sein Spott über eine solche Verherrlichung des primitiven Lebens fällt ebenso sprachmächtig aus, wie seine sensiblen Klagen über die Verluste und Verwerfungen, die der Kontakt mit den Europäern (und mit ihren venerischen Krankheiten) für viele der Südsee-Bewohner hervorgerufen hat. Während die heutigen Kreuzfahrtpauschalisten sich über gebuchte und bezahlte und dann doch ausbleibende Delphine beschweren, entdeckte das Wissenschaftlerteam an Bord von Cooks Forschungsschiff ‚Resolution’ eine ganze Reihe unbekannter Pflanzen, Tiere und Fische, die auch schon einmal zu einer bedrohlichen Vergiftung der sie voreilig verspeisenden Offiziere und auch Forsters selbst führten.

Auch auf dem modernen Luxus-Kreuzfahrtschiff fällt einmal der Strom für ein paar Stunden aus, müssen verstopfte Abflußrohre aufgebohrt und neu verschweißt werden, oder es macht eine der beiden Antriebsdüsen schlapp. Politycki, respektive sein kleinbürgerlicher Beobachter-Stuntman Fichtl, schildert die Funktionsweise eines solchen Riesenschiffes, das von seinen Dauergästen mit liebevollem Understatement als ‚unsere Hütte’ bezeichnet wird, gelegentlich sehr anschaulich und durchaus mit der Begeisterung eines kleinen Jungens für technisches Spielzeug. Doch welch ein Unterschied zu den existentiellen Dimensionen, die Cooks Planung und Durchführung seiner Dreijahresfahrt bedeuten. Schon in seiner instruktiven Einleitung erklärt der junge Forster, welchen Anforderungen an Robustheit, Manövrierbarkeit, Ladekapazität und einfache Reparierbarkeit ein solches Expeditionsschiff erfüllen muß. Die beiden Forsters kamen im übrigen ja überhaupt nur, sehr kurzfristig angeheuert, zu ihrem Einsatz an der Seite Cooks, weil dessen vormaliger, berühmter Forschungsbegleiter Banks luxuriöse Ansprüche an einen Umbau des Schiffes stellte, der dieses, wie Cook zurecht monierte, untauglich für die Hochseefahrt machte.

Ergreifend lesen sich Forsters Berichte und Reflexionen über die Ängste, die man ausstehen muß, wenn das Schiff fernab jeder Zivilisation durch ungünstige Strömungen und Winde auf Felsküsten oder Riffe zugetrieben wird, und nur die in Beibooten ausgesetzten Matrosen in stundenlangen Ruderschichten versuchen können, das große Segelschiff vor einer Havarie zu bewahren. Schlagende Kontraste offerieren natürlich auch die Speisepläne der beiden Weltreisenden. Bei Forster erfährt man vom Labsal, das frisches Wasser, Kokosnüsse und ‚Brotfrüchte’ bedeuten, wenn man nach wochenlanger Schiffsnahrung aus Erbsensuppe, Schiffszwieback und moderigem Wasser endlich wieder an Land gehen kann. Für heutige Leser beinahe wie ein gastronomischer Running Gag wirkt Forsters immer wieder angestimmtes Loblied auf das Sauerkraut, das Cook als innovative Skorbut-Prophylaxe in sechzig Fässer mitführen ließ und das im Verbund mit Malzgetränken, Fleischextrakten und den wertvollen, nur in geringen Mengen mitgeführten Fruchtsaftkonzentraten zur insgesamt erstaunlich positiven Krankenbilanz dieser zweiten Cookschen Weltreise führte. Forsters Empathievermögen erweist ihn nicht nur als einen hochreflektierten, aufgeklärten Rationalisten, sondern auch als Zeit- und Sprachgenossen des Zeitalters der Empfindsamkeit. Er rührt seine Leser nicht nur mit der Schilderung der Gefühle, die das Verschwinden des zweiten Expeditionsschiffes und die einsame Weiterfahrt in unwirtlichen Breiten bei Cooks Mannschaft auslöst, sondern auch mit großem Einfühlungsvermögen in die Lebenssituation der ‚Wilden’, von denen einige wenige ja auch auf dem Schiff anheuern und für kürzere oder längere Passagen mit den europäischen Seefahrern gemeinsam leben.

Forster verkörpert in seiner Auffassungsgabe und in seinem Schreiben die Integration von hellwachem Verstand und kraftvoller Imagination, die nicht nur den Doppelfokus der aufklärerisch-empfindsamen Dichtungstheorien offenbart, sondern wohl auch die Grundlage jeglicher angemessenen Alteritäts- und Reise-Poetik darstellt. Abgesehen von seiner deutlichen Präferenz für hellere Hautfarben ist sein Bericht weitgehend frei vom üblichen kolonialistischen Überlegenheitsdünkel der Europäer. Forster, der spätere Jakobiner, weiß und benennt auch, was im vermeintlich zivilisierten Europa alles in Sachen Gewalt, Elend, Ungleichheit, Unmoral und Ungerechtigkeit im Argen liegt. Die Anforderung an sein Schreiben formulierte er so: »Vergleichen, Ähnlichkeiten und Unterschiede bemerken ist das Geschäft des Verstandes, schaffen kann nur die Einbildungskraft.« Existentielle Grenzerfahrungen wie die Wollust der Seeleute oder der Kannibalismus der Eingeborenen werden bei ihm zwar als entehrende Verfehlungen der Menschen kritisiert; doch versucht er auch noch diese Verhaltensweisen zu verstehen und aus den Umständen zu erklären. Bei Polityckis modernen Kreuzfahrern finden sich Menschenopfer, Kannibalismus aber auch erotische Exzesse nur noch im müden Modus phantasierter oder unterstellter Obsessionen; etwa wenn sich alle Männer bei der attraktiven Golflehrerin plötzlich zu leidenschaftlichen Golfamateuren entwickeln und beim nächsten Lehrer der schiffseigene Golf-Simulator plötzlich wieder verwaist.

Seine Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit beweist der frühe Forschungsreisende nicht nur im Medium der Schrift, sondern auch in den etwa 300 botanischen und 270 zoologischen Zeichnungen, die er auf der Reise anfertigte. Diese im Natural History Museum in London aufbewahrten Skizzen und Aquarelle werden nun erstmals in ihren schönsten, von Frank Vorpahl ausgewählten Exemplaren der Reiseschrift, für die sie ursprünglich gedacht waren, auch tatsächlich in einer Publikation beigegeben. In seiner eigenen Veröffentlichung durfte Forster diese wunderbaren Illustrationen nicht verwenden und mußte sich mit zwölf Kupfertafeln zu Waffen, Werkzeugen und Schmuck der Südseebewohner begnügen (auch diese finden sich nun im Anhang der großen Ausgabe der Anderen Bibliothek wieder). Auch in Polityckis pikareskem Tagebuchroman sind 180 Photos den täglich auf eineinhalb Seiten abgezirkelten Notaten beigegeben. Diese zeigen allerdings – beinahe jeglichen exotischen Fremdheitsappeal konterkarierend – meist nur Hafenanlagen, Wolken, Meeresoberfläche oder was sich sonst allmorgendlich als erstes dem Objektiv des Touristen vor die Linse stellte. Ironisch gebrochen wird diese minimalistisch maschinenhafte Eindrucksverweigerung nur, wenn gelegentlich Photos eingeschoben werden, die das innere Auge Fichtls morgens (aus der Erinnerung) imaginiert: etwa ein Erinnerung an das Taj Mahal, das tags zuvor mit einigem Reiseaufwand besichtigt wurde.

Georg Forsters ‚Reise um die Welt’ ist als Klassiker und Wegbereiter der modernen Reiseliteratur ein Muß für jeden historisch interessierten Leser oder Fernreisenden. Die edle Neuausgabe besticht durch das schöne Papier, durch Forsters präzise Zeichnungen und durch die informativen Vor- und Nachwörter. Sie stellt mit ihrem elegant schimmernden blaugrünen Leineneinband und den in grün gedruckten Anmerkungen im Buchinneren ein schmuckes Buch für den Coffetable und den heimischen Lesesessel dar. Als Reisebegleiter ist dieses großformatige, mehrere Kilo schwere Buch weniger geeignet. Hierfür behält die Ausgabe von Forsters Reise als Insel Taschenbuch weiterhin ihre Gültigkeit. Beide Ausgaben folgen im übrigen dem von Georg Steiner 1966 im Auftrag der Akademie der Wissenschaften der DDR besorgten Text (und den hilfreichen, knappen Anmerkungen) der historisch kritischen Werkausgabe Forsters. Das Werk des engagierten Befürworters der französischen Revolution und ihrer deutschen Dependance in der Mainzer Republik wurde nämlich in der DDR höher geschätzt als in der BRD. Das sollte nun spätestens mit der neuen Prachtausgabe anders werden. Die Andere Bibliothek unter ihren neuen Herausgebern Klaus Harpprecht und Michael Naumann versteht Forsters Opus Magnum wohl auch als Folgeprodukte ihrer Buchmarkterfolge mit den Reisebüchern Alexander von Humboldts, die von Ottmar Ette und Oliver Lubrich ausgegraben und von Hans Magnus Enzensberger als Marktschreier zu erstaunlichen Auflagenhöhen gepusht wurden.

Matthias Polityckis Buch sei jedem Kreuzfahrttouristen ans Herz gelegt, der über das Vermögen der Selbstironie verfügt und sich jenseits bloßen Wellness-Eskapismus’ ein wenig für den Mikrokosmos der Luxusschifferei und die Auswüchse dieser mondänen Weltfluchten interessiert. Die Anlage des Buches mit seiner täglichen Doppelseite ist etwas repetitiv, manche seiner Running Gags über vermeintliche Kielschweine, amouröse Begehrlichkeiten oder bankrotte Mitreisende ebenso. Es ist gewiß nicht das stärkste Buch des großen Stilisten und Humoristen Politycki, der übrigens auch in seinem Kuba-Roman «Der Herr der Hörner« die Vermischung kurioser Fakten und phantastischer Überhöhungen betrieb und sich zudem schon mit dem Reportagen-Band »Das Schweigen am anderen Ende des Rüssels« als ein pointensicherer und beobachtungsstarker Reiseautor profilierte.

Die Hauptaufgabe von Reiseberichten, das Lesepublikum zu unterhalten und zu belehren, erfüllen beide hier angezeigten Bücher in hohem Maße. Der offene, scharfsinnige und weitgehend vorurteilslose Blick des Aufklärers Georg Forster auf die natürlichen und sozialen Umstände der fernen Zivilisationen bietet freilich auch 230 Jahre nach seinem Erscheinen noch mehr an lehrreichen Einsichten in die Möglichkeiten und die Vielfalt menschlicher Daseinsweisen als der lustige Luxusroman des zeitgenössischen Schiffsschreibers. Letztlich erscheinen die weit über 1000 Tage und nahezu Tausend Seiten der Forsterschen Expedition dem Leser kurzweiliger als die auf gut 360 Seiten präsentierten 180 Seetage Polityckis. Beide aber demonstrieren, daß es keineswegs die Ereignisse der Reise alleine sind, die ein lesenswertes Fahrtenbuch ausmachen: hier zählt mehr noch die Sprachkunst, mit der Eindrücke, Fakten und Reflexionen gestaltet werden. Während Georg Forster sich einst als Virtuose im gelenkigen Wechselspiel von wissenschaftlicher Beobachtung, politischer wie philosophischer Reflexion und moralischer Sensibilität auszeichnete, erweist sich Matthias Politycki nun als ein tüchtiger Weber von High Society Seemannsgarn. Bernd Blaschke
 

Georg Forster
Reise um die Welt

Illustriert von eigener Hand.
Mit einem biographischen Essay von Klaus Harpprecht und einem Nachwort von Frank Vorpahl.
Originalausgabe. Sonderband der Anderen Bibliothek.
Eichborn Verlag
608 S., 80 großform. Farb-Abb., Klapptafeln, Karten, geb.,
im Halbschuber, 99,- Euro.   

Matthias Politycki
In 180 Tagen um die Welt

Das Logbuch des
Herrn Johann Gottlieb Fichtl marebuchverlag
384 Seiten
24.90 Euro.

Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik

© by Herbert Debes & Kurt Otterbacher

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