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Magazin für Literatur und Zeitkritik
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Alice’s Restaurant - das war überall
Ein Blick zurück von Kurt Otterbacher

Alles begann etwa 1960, und es endete auch für den Letzten von uns 68ern (der Verfasser dieser Zeilen ist genau genommen ein 72er) mit dem Mauerfall 1989. Seither geht es bergab, und daran sind wir so wenig schuld wie Fredi Murers Bergler in den Bergen. Eigentlich ging es schon immer bergab, die Gesetze der Thermodynamik lassen ja nur den Weg in die immer größere Unordnung zu und nie zurück - es sei denn, es gibt einen neuen Urknall, eine Katastrophe, dann geht alles von vorne wieder los. Niemand hört das gerne, mit Ausnahme vielleicht von Billy Joel (»We didn’t start the fire«) und dem Dalai Lama.

Die Protagonisten von damals sind heute Ende 50 oder älter. Es sind einerseits Leute wie Wolfgang Kraushaar, damals waren seine Haare länger und glänzender als die von Rapunzel. Er, der Nachlaßverwalter unserer aller Jugend, verklärt 1968 kritisch positiv, Götz Aly, der teilnehmende Historiker, andererseits kritisch negativ, wobei seine Gleichsetzung von Hitlers »Mein Kampf« mit »Unser Kampf« doch etwas weit hergeholt ist. Für Aly und viele andere sind die 68er für alles verantwortlich, was heute schlecht läuft - und das ist zugegebenermaßen viel. Für die Kraushaars dieser Welt, die meisten, die damals jung waren, und ihre Epigonen in Politik, Medien und Institutionen, sind sie die Begründer eines weltoffenen, toleranten und aufgeschlossenen Deutschlands. Die 68er hätten, höre ich immer wieder, den Mief und die Spießigkeit des Nachkriegsdeutschlands durch eine demokratische Moderne ersetzt.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, es war damals garnicht so miefig, ganz im Gegenteil, und was sich unter den Talaren befand, gehörte auch nicht alles dazu. Außerdem ist das Deutschland von heute bloß auf eine andere Art spießig (Definieren Sie spießig, Pfeiffer!), und weltoffener und demokratischer ist es schon garnicht. Die Meinungen, die heute nicht offen geäußert werden dürfen, sind immer noch die der (diesmal der anderen) Andersdenkenden. In dieser Runde ist halt alles Nichtlinke verpönt. Neues Spiel, neues Glück.

Wir sind in den letzten Jahrzehnten zudem ein Volk von Experten- und Bedenkenträgern (vulgo Klug- und Hosenscheißern) geworden, das alleweil nach dem Staat ruft oder rufen läßt, statt sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Wobei der Staat letzteres allerdings auch nicht besonders leicht macht. So scheint es einem zumindest nach einer Woche Grippe mit verschärftem Fernsehen.

Vergleicht man das Fernsehen von damals und heute, kann man unschwer den Grad der zunehmenden Verkommenheit, der fortschreitenden Vertrashung, erkennen. Das betrifft nicht nur uns, sondern die gesamte Welt. Vergleichen Sie spaßeshalber das Personal von »Die 12 Geschworenen« von 1957 mit dem aktuellen Film »Tödliche Entscheidung«. Beide sind von dem heute 85-jährigen Sidney Lumet, und beide sind amerikanisches Mainstream-Kino. Die Leute im Film damals rangen um ein hochstehendes moralisches Problem im Zusammenhang mit der Todesstrafe. Das Personal von heute nimmt den gewaltsamen Tod in die eigenen Hände, gibt ihn in Auftrag oder nimmt ihn billigend in Kauf - und das aus den niedrigsten denkbaren Motiven, die Skala ist nach unten nicht mehr offen.

Da alle darin übereinstimmen, daß vieles schlecht läuft heutzutage, fragt sich, wie das sein kann, wenn 68 doch so ein Erfolgsmodell gewesen ist. Es müßte demnach trotz unserer Bemühungen passiert sein. Und es stellt sich die Frage, ob das von uns Erreichte, worin immer das bestünde, erwähnenswert ist, denn vor der Geschichte hatte es ja keinen Bestand. Es wäre denn, der Liberty Valance Effekt (If the legend becomes fact, print the legend) greift auch hier. Dann ist die Geschichte um einen popkulturellen Mythos, den 68er, bereichert, der funkelt und strahlt, und pfeif’ auf die Wirklichkeit.

Beim Blick zurück stellt sich auch die Frage, wie weit jede Generation Autor des eigenen Schicksals ist und wieviel sich sozusagen hinter den jeweiligen Rücken vollzogen hat. Der Anteil von letzterem dürfte größer sein, als viele wahrhaben wollen. Es ist mithin unwahrscheinlich, daß unsere Generation auch nur ein Jota besser ist, als die Generation unserer Eltern, die Nazideutschland auf die eine oder andere Art mitgemacht haben. Man kann unsere, meine, Generation eher in der Pfeife rauchen, weil wir bei allem, was wirklich wichtig ist, und das sind Familie, Kinder, Erziehung und ein vernünftiges Gemeinwesen, d.h. eine intakte Zivilgesellschaft, versagt haben.
Nur: tragen wir daran tatsächlich »Schuld«? Es ist doch überall »passiert« und - hätten wir es besser wissen können? Wenn wir jetzt nein sagen, fragt sich, wie wir dazu kamen, derart arrogant mit unseren Eltern, Lehrern und Professoren umzugehen.

Was bleibt von 68?
Funktional betrachtet haben wir dazu beigetragen, daß sich die Nachfrage nach Rechten fundamental vergrößerte, während die Nachfrage nach Pflichten gegen Null ging, mit Ausnahme der einen, nämlich alle Rechte so exzessiv wie möglich wahrzunehmen. Dafür ist uns keine Mühe zu schwer und kein Prozeß, kein Streik, keine Demo zu schade. Das hätten wir vielleicht wissen können, wenn wir Wilhelm Busch (Jeder Wunsch, der gewährt, kriegt augenblicklich Junge!) statt Karl Marx gelesen hätten, an dessen Theorien sich sowieso niemand mehr erinnert (falls je einer etwas davon gewußt hat); ich habe es bei zahlreichen Leuten überprüft, die einst mit ihrer Kapitalschulung geprahlt haben.

Und die Politik? Dutschkes Diktum vom langen Marsch durch die Institutionen folgend melken nun noch mehr Leute als früher das Sozialprodukt. Sie verteilen Pfründe oder reißen sie sich im Namen der »sozialen Gerechtigkeit«, der »Umwelt« oder der »Gleichheit« unter den Nagel. Die gesamte politische Klasse nebst sogenannten Beratern und deren »unabhängigen« Instituten, zu der erstaunlich viele ehemalige Demonstranten und Straßenkämpfer gehören, hat sich einen Besitzstand angeeignet, der mit Klauen und Zähnen verteidigt wird. Jeder weiß, daß »reformiert« werden muß - aber doch bittschön nicht bei ihm. Die Konservativen heutzutage, das sind die Linken. Und die ehemaligen Konservativen sind heute die besseren Sozialdemokraten. Überflüssig gemacht hat sich die SPD, und die »Linke« ist die späte Genugtuung der DDR an der Übernahme durch den Westen.
Unangenehm ist, daß viele unserer ehemaligen Kämpen staatstragender, bräsiger geworden sind, als alle, die sie früher bekämpft haben. Nehmen wir nur Joschka Fischer ...
Und bitter, daß Schweinehunde wie die von RAF und Konsorten, auch noch zu musealen und filmischen Ehren kommen.

Aber was war dann 68?
Es war vor allem eine Zeit, in der alles möglich schien. Arbeitslosigkeit, kein Thema. Berufswahl? Aussteiger. Geld? Die Freaks kamen ohne Geld aus. Sie gingen in den Süden, nach Katmandu, Afghanistan, Thailand, Australien; sie bemalten das Pflaster auf dem Stachus, und sie spielten Gitarre auf der Zeil. Sie übernachteten im Englischen Garten und im Grüneburgpark. Wo man hinkam, herrschte eine selbstverständliche Solidarität und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Man stellte sich an einen Straßenrand und winkte. Irgendeiner hielt immer an und nahm einen mit. Wir fuhren mit einem R4 die englische Südküste entlang. Da gab es überall Cafés oder Kneipen, die Leuten wie uns gehörten. Man ging da rein, freundete sich an, trank zusammen und kiffte. Wenn die Kneipe zumachte, holte man den Schlafsack aus dem Auto und pennte im Gastraum auf dem Boden, half morgens beim Saubermachen, frühstückte und zog dann weiter. Alice’s Restaurant - das war überall.

Das Leben fühlte sich an, als würde es immer so weitergehen. Und solange es weiterging, waren die ewigen Regeln von Produktion (Berufswahl) und Reproduktion (Familie und Kinder) außer Kraft gesetzt. Wir waren der Peter Pan unter den Jugendbewegungen - und unsere wenigen Kinder eher ein Betriebsunfall. Es war schließlich sehr viel angenehmer, Sohn und Tochter zu sein und gegen die Eltern zu rebellieren, als eigenen Gören Manieren beizubringen.

Doch vor allem war da die Musik. Wir hatten die beste Musik der Welt, Musik, die man heute noch hören kann, das Original, das immer wieder gecovert und gesampelt wird - bis heute und vermutlich in alle Ewigkeit. Es gab Hunderte von Gruppen oder Solisten in der Post-Elvis Ära, in die sich Chuck Berry und Jerry Lee Lewis geflüchtet hatten. Dann ging's erst richtig los. Jimi Hendrix, Janis Joplin, Beatles, Stones, Small Faces, Loving Spoonful, Doors, Jethro Tull, John Mayall, Santana, Pink Floyd, Eric Burdon, Cat Stevens, Baden-Powell, Grateful Dead, Led Zeppelin - man könnte viele Seiten nur mit den Namen von Leuten füllen, die man überall hören konnte und wollte.

Da waren die Filme: Deep End, Steelyard Blues, Harold und Maude, MASH, 1789 und mai 68, Jonas, der im Jahr 2000 ..., Für eine Handvoll Dollar, Spiel mir das Lied vom Tod, Zwei glorreiche Halunken, Z, Schlacht um Algier, Queimada, der (bescheuerte) Letzte Tango von Paris, Taxi Driver, Einer flog übers Kuckucksnest, HAIR und viele andere.
Und da waren die Bücher. Sie wurden geklaut oder raubgedruckt. Man las Hermann Hesses Steppenwolf, quälte sich durch 13 Bände Proust, die Regenbogenausgabe von Suhrkamp, die Frankfurter Schule, stritt mit Adorno und Habermas und beschäftigte sich mit Hopi-Indianern, I-Ging und Gaya, der Mutter Erde.
Man ging nach Indien, suchte seinen Guru oder das Heil in Poona. Man schnappte sich das South-American-Handbook und reiste monatelang für 5 Dollar am Tag durch Mexiko, Belize, Guatemala, Nicaragua bis nach Venezuela, Kolumbien und Peru. Wobei man alle paar Tage die selben Leute mit dem gleichen Handbuch wieder traf. Man war eben überall auf der Welt ganz unter sich.

Als 1967 Benno Ohnesorg erschossen wurde, wurde Peter Pan zunächst nebenberuflich politisch. Er begann, sich mit Vietnam, dann mit den Befreiungsbewegungen der 3. Welt, vor allem in Lateinamerika, Afrika, Südostasien und im Nahen Osten zu beschäftigen. Später wurde man selber Befreiungsbewegung mit Häuserkampf und RAF und 2. Juni usw. - bis alles zusammenkrachte. Als der Rauch sich verzogen hatte, waren nur Mutter Erde geblieben und die Grünen, die sie zur Not auch gegen ihren Willen retten wollten - ausgerüstet mit Birkenstock-Schuhen, selbstgestrickten Pullovern, mit Clint Eastwood-Ponchos, dem Palästinensertuch und dem speziellen Instinkt, den man braucht, wenn man es auf Staatsknete abgesehen hat. Übriggeblieben waren auch die Spontis, die versprengte Reste diverser Putzgruppen und Spaßguerilleros aufsammelten - und dann die Grünen übernahmen. Der Rest ist Geschichte - und ihre Richtung geht, wie bereits gesagt, bergab.

Da hatte ich schon lange aufgehört. Die Startbahn-West-Kampagne fand ich blöd bis kriminell und die Anti-Brokdorf-Aktionen infantiles Affentheater - Ansichten, für die man damals gesteinigt worden wäre und heute noch schief angesehen wird.

Zu Zeiten von Maos Kulturrevolution saß ich für die SHI im Studentenparlament und mußte mir anhören, wie ein KSB-ler erklärte, die richtige Volkslinie würde sich schon durchsetzen; in der nächsten Ausgabe der KVZ, der Kommunistischen Volkszeitung, stände sicher alles Notwendige. Ich stand auf und sagte, zur Früherkennung von Scheiße sei nicht die KVZ, sondern nur die Feststellung nötig, daß Millionen Menschen hinter einem einzigen herliefen, wobei es egal sei, ob der Mao, Hitler oder Jesus Christus hieße. Man könnte die Aufzählung heute noch um weitere Namen ergänzen, käme dann aber wahrscheinlich nicht mehr so glimpflich, d.h. mit der Drohung zu Fischmehl verarbeitet zu werden, davon. Und vielleicht habe ich mich bei Jesus Christus ja auch getäuscht.

Ich habe selbstverständlich auch Steine geworfen. Genauer gesagt: einen. Es passierte nach der Räumung des Blocks Bockenheimer/Schumannstraße. Da wurde ich von Bullen mit Knüppel Richtung Palmengartenstraße vertrieben. Ich mußte über einen Zaun klettern und rammte mir dabei eine Zaunspitze durch die Schuhsohle in den Fußballen. Blutend und humpelnd suchte ich Zuflucht in der Uni. Vor dem Studentenhaus standen bereits Mannschaftswagen der Polizei. Da wurde ich wütend und warf einen Pflasterstein auf die gepanzerte Windschutzscheibe eines dieser Polizeiautos. Die Scheibe bekam nicht mal einen Kratzer, aber die drinsitzenden Bullen wurden sauer und setzten mir nach. Ich flüchtete ins Studentenhaus und dort in den Keller. Und hier, von Rauch, Sirenenlärm, Tränengas, Geschrei, Steinwürfen und Prügeleien draußen völlig unbeleckt, stieß ich auf einen Ort entrückten Friedens. Etwa 6-8 Stühle waren zu einem Halbkreis zusammengestellt, und ein junger Mann, Bernhard von M., einer der Führer des MSB-Spartakus, zupfte ein paar hübschen Mädchen auf seiner Klampfe »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«. Sie schauten ihn innig an und sangen mit. Damals ging das Gerücht, der MSB würde von der DDR finanziert, was sich später als wahr herausgestellt hat. Ich dachte, wenn die DDR solchen Pfeifen Geld gibt, würde sie es nicht lange machen. Daß es von da an nur noch 15 Jahre dauern würde, hätte ich in diesem Moment aber nicht für möglich gehalten.

Ich wollte den innigen Moment nicht allzusehr mit meinem Lachen stören. Also ging ich nach oben und schloß mich im Vorführraum der pupille ein.
Kurt Otterbacher
 

 

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