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Fahrtenbücher eines Kapitäns zur See und zur Seele


©  Archiv S. Fischer Verlag

Joseph Conrads 150. Geburtstag bescherte neue Biographien sowie Neuübersetzungen seiner wichtigsten Novellen.
Bernd Blaschke hat sie gelesen und kommentiert.

Joseph Conrad gehört, wie Shakespeare, Goethe und Kafka zu den Schriftstellern, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Biographen auszuüben scheinen. Wenn es bei Shakespeare die rätselhaft spärliche Quellenlage ist, die zu den vielseitigsten Spekulationen über das Leben des superben Dramatikers einlädt, so fasziniert bei Goethe, über dessen Lebensverlauf wir nahezu Stunde um Stunde Informationen besitzen, die so umfassend gebildete Persönlichkeit mit der Mannigfaltigkeit ihre
r literarischen und administrativen Aktivitäten. Was aber macht den polnischstämmigen Meistererzähler Joseph Conrad, der erst mit 21 Jahren die englische Sprache erlernte mittels der er in den Kanon der Weltliteratur einging zu einem biographischen Faszinosum?

Es könnten vier Aspekte seines Lebens und seines Werks sein, die zur Konjunktur der Conrad-Biographik beitragen: Sein familiärer Hintergrund als Kind polnischer Freiheitskämpfer, dessen Eltern an den Folgen der russischen Verbannung früh starben. Sein Leben als Seeman, der ab dem 16.Lebensjahr seine Bildung nicht auf (Hoch-)Schulbänken erwarb, sondern sich vom Schiffsjungen zum Kapitän hocharbeitete und in den Weiten des Kolonialimperiums der Handelsmarine diente. Zudem vielleicht seine Freundschaften mit Autoren wie André Gide, Henry James, Ford Maddox Ford und John Galsworthy. Wobei besonders die zu Galsworthy noch zu Seemannszeiten geschlossen wurde und lebenslänglich eine enge Bindung blieb. Vor allem aber dürften die Charaktere seiner literarischen Protagonisten und das moralisch-metaphysische Universum seiner Erzählungen das Interesse am Menschen hinter den Texten befeuert haben: Einsame Männer, meist an abgeschnittenen Orten (insbesondere auf Schiffen), müssen sich elementaren Herausforderungen physischer und moralischer Art stellen.

Daß Conrads Leben und Texte im Zeichen der kulturellen Konflikte und Vermischungen des kolonialistischen Zeitalters stehen, hat das Interesse an diesem Autor im Zuge der postkolonialistischen Wende der Kulturwissenschaften nochmals verstärkt. Wurde Joseph Conrad von modernistischen Autoren wie André Gide, Thomas Mann, Borges und Philip Roth wegen seiner raffinierten literarischen Erzähltechniken bewundert, so steht er nun im Zentrum des Interesses (etwa Edward Saids) als der Autor hochgradig ambivalenter Darstellungen der kolonialen Gewalt.
Seine Novelle ‚Herz der Finsternis’ enthüllt eindringlich den Horror und die Grausamkeit des Kolonialismus; zugleich durchziehen rassistische Stereotypen seine Werke, wie der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe in einem wichtigen Beitrag zu Conrad in den 1970er Jahren deutlich machte.

Zum 150 Geburtstag Conrads am 3.12.2007 erschienen nun zwei ganz gegensätzlich konzipierte neue Biographien. Jedes literarische Portrait und jede Biographie komponiert eine Lebensgeschichte mittels zweier komplementärer rhetorischer Mittel. Ergänzend zum Modus der (potentiell unendlichen) Aufzählung einzelner Ereignisse in Leben oder auch Werk der Persönlichkeit arbeitet die Biographik notwendig auch mit Mitteln der Verdichtung, der metaphorischen oder metonymischen Kondensierung, durch die das Wesen der Person fixiert werden soll. Während die Enumeration der täglichen oder monatlichen Beschäftigungen und Begebenheiten eines Lebens einer filmischen Ablauflogik des ‚und dann und dann und dann’ gehorcht, ähnelt die (immer gewagte und potentiell gewaltsam essenzialisierende) verdichtende Wesensschau eher der Schnappschuß-Logik eine photographischen Portraits, in dem die unendliche Bewegtheit der Lebensvollzüge still gestellt wird.

John Stapes Conrad-Biographie ‚Im Spiegel der See’, die vom Mare-Buch Verlag im Jahr ihres englischen Erscheinens sofort auf deutsch publiziert wurde, operiert ungeheuer faktenreich und positivistisch nach dem aufzählenden Modus. Stape, der gleichfalls als Herausgeber des ‚Cambridge Companion to Joseph Conrad’ fungierte, ist zweifellos einer der gründlichsten Kenner des Erfolgsautors. Doch leider verschafft einem die materialreiche Nacherzählung der Conradschen Vita so etwa im Monatstakt keine besonders einprägsamen oder gar fesselnden Lektüreerlebnisse. Denn das chronologische Narrativ besteht (wie das gelebte Leben) zu guten Teilen aus Wiederholungen: Immer wieder war Conrad an Gicht oder Depressionen erkrankt; immer wieder litt seine Frau an Knieproblemen die zu immer neuen Operationen führten; immer wieder quälten ihn Geldprobleme und Schreibhemmungen.

Der Leipziger Anglistik Professor Elmar Schenkel, der auch schon als Romancier in Erscheinung getreten ist, wagt mit seiner stärker essayistischen, durchaus a-chronologisch nach Themenkreisen gegliederten Biographie einiges mehr. Und er gewinnt. Durch die kluge Auswahl seiner als Sonden in Leben und Werk fungierenden Stichworte bietet Schenkel das prägnantere Bild des Autors und offeriert zudem (bei etwa einem Drittel weniger an Umfang) erhellende Analysen zu einigen Werken Conrads und zu deren Wirkungsgeschichte in Polen, Frankreich und Deutschland. Beide Conrad-Biographen stehen, wie sie in ihren Vorworten und in ihren nützlichen Auswahlbiographien freimütig einräumen, als Forscher der ‚vierten Generation’ (so Stapes treffliche Formulierung) auf den Schultern von Riesen: insbesondere von Zdislaw Najder, der die polnischen Familienhintergründe erforschte und von Norman Sherry, der Conrads östliche und westliche Reisewege aufarbeitete. John Stape hat durch seine Entdeckung einiger entfernter Verwandter Conrads oder seines Umfelds und durch die Aufarbeitung der erst seit den 1980er Jahren komplett zugängliche Korrespondenz wohl noch ein paar kleine neue Faktenbrösel eruiert.
Wichtiger für den allgemeinen Leser, der kein hochspezialisierter Conrad-Philologe werden möchte, ist freilich die Synthese- und Darstellungskunst, die un
s die Bedeutsamkeit des Lebens und des Werkes vermittelt.

Obwohl sich Conrad dezidiert als englischer Autor betrachtete – die englische Staatsbürgerschaft erlangte er schon 1886 – und leicht allergisch auf die Vereinahmungsversuche seiner seit etwa 1910 international prominenten Person durch polnische Nationalisten reagierte, ist seine Herkunft als Sohn polnischer Edelleute prägend gewesen. Conrads Vater, Apollo Korzeniowski, war Schriftsteller, Übersetzer von Shakespeare und Hugo; und er war ein politischer Aktivist. Als polnischer Nationalist wurde er nach achtmonatiger Haft von den russischen Machthabern samt Frau und Sohn erst nach Perm im Ural verbannt, dann ins nur etwas mildere Wologda, 500km östlich von Moskau. Conrads Mutter starb früh in der Verbannung, der Vater an deren Folgen. Mit 11 war Conrad Vollwaise, betreut wurde er nun von einem hilfreichen Bruder seiner Mutter. Mit 16 reist der junge Korzeniowski mit dem Zug nach Marseille und wird Seeman. Er fährt als Matrose mehrfach in die Karibik und entdeckt sich und das wilde Leben der Hafenstädte bei Aufenthalten in Marseille. Zeitlebens wird er eine große Affinität zu Frankreich fühlen, dessen Sprache er schon lange vor der englischen beherrschte. Nach einigen Fahrten auf französischen Schiffen wechselt Conrad wegen Schwierigkeiten mit seinem Aufenthaltsstatus als Pole zur englischen Handelsmarine. Er beginnt während der Liegezeiten in diversen Häfen, gewissermaßen heimlich, mit seinem ersten Roman‚ Almayers Wahn’.

Die multiplen Pannen und der finale Untergang des Kohlentransportschiffs ‚Palestine’, auf dem Conrad als 25jähriger mehr in Docks lag als tatsächlich auf der See fuhr, waren Vorbild für die Ereignisse seiner Novelle ‚Jugend’. Obwohl der Immigrant sich fortbildet und es schließlich bis zum Kapitänspatent bringt, findet er auf den Schiffen meist nur Arbeit auf einer Stufe unter seiner Qualifikation.
1890 unterschreibt er einen Dreijahresvertrag für eine belgische Kolonialgesellschaft, für die er im Kongo arbeiten soll. Entlang des Kongoflusses erkrankt Conrad (wie die meisten europäischen Kolonialisten) mehrfach. Statt mit ehrbaren Schiffertätigkeiten oder vermeintlich zivilisierenden Kolonialmaßnahmen wird er mit stumpfsinnigen Arbeiten wie dem Verpacken des begehrten Elfenbeins beschäftigt. Die körperlichen und psychischen Folgen dieses Horrortrips in den Kongo werden ihn sein Lebtag lang beschäftigen. Ihren weltliterarisch kaum zu überschätzenden Niederschlag finden die Kongo-Erfahrungen in seiner Meisternovelle ‚Heart of Darkness’.

Conrad wechselt seinen Beruf vom Seeman zum Dichter, (ohne daß er dabei einem bewußten Plan gefolgt sein mag) genau in dem historischen Moment, als die Schifffahrtsbranche wegen der Motorisierung zunehmend rationalisiert wird, was die Jobsuche schwieriger macht – während der Buch- und Zeitschriftenmarkt aufgrund immer breiterer, neuer Leserschichten expandiert. Nach der Hochzeit mit Jessie George, einer aus einfachen Verhältnissen stammenden Angestellten in einer Schreibmaschinenfirma, reisen die beiden für 6 Monate in die Bretagne. Während der Flitterwochen und zugleich als sidekick während der Schreibhemmungen an seinem Romanprojekt ‚Die Rettung’, das ihn von 1899 bis 1919 immer wieder beschäftigen und quälen wird, schreibt der nun zum Berufschriftsteller gewordene Ex-Kapitän die Kurzgeschichte ‚Die Idioten’. Es ist dies, wie Stape formuliert, „die Tragödie eine Frau, die von ihrem brutalen Ehemann zum Sex – und zur Geburt einer Horde geistig behinderter Kinder – gezwungen wird. Ihr einziger Ausweg aus dieser Hölle besteht darin, ihn zu erstechen und sich dann selbst zu töten. Der vermutlich düstersten Geschichte, die jemand während der Flitterwochen geschrieben hat, wurde prophezeit, sie werde ‚allen künftigen psychoanalytischen Interpreten Conrads großen Spaß bereiten’.“

©  Archiv S. Fischer Verlag
1897 etabliert der 1857 geborene Conrad sich zunehmend als respektierter Autor. Er gewinnt die Anerkennung etwa von Henry James und schreibt sein Vorwort zu ‚Der Nigger von der >Narcissus<’, in dem sich seine berühmten wirkungsästhetischen Aussagen finden: „euch kraft des geschriebenen Wortes hören, fühlen – und vor allem sehen zu machen.“ Widersprüchliche Aussagen oder Selbststilisierungen Conrads existieren über die Erfindung seiner berühmten Erzählerfigur Marlow. In der Erzählung ‚Jugend’ taucht dieser später immer wieder verwendete Erzähler 1898 erstmals auf. Diese Erzählung hat Conrad (je nach Version ihrer Schöpfungslegende) entweder direkt in der Nacht nach der Geburt seines ersten Sohnes Borys verfaßt, oder einen oder fünf Monate später.

Um 1920 war der Autor zu einer strahlenden öffentlichen Figur geworden. Doch hinderten ihn seine hohen Einnahmen nicht, durch noch höhere Ausgaben für die Familie und das üppige Personal (von Köchen, Gärtner, Privatlehrer und Chauffeur) auf seinem teuer gemieteten Haus ‚Oswalds’, immer wieder in Finanzschwierigkeiten zu geraten, aus denen ihm Freunde oder sein Agent Pinker heraushalfen. Angetragene Ehrendoktorwürden und Leseeinladungen erreichten ihn nun in hoher Zahl. Freilich lehnte er diese meist ab, nicht zuletzt wegen einer für diesen Sprachmeister erstaunlichen Unsicherheit im gesprochenen Englisch, das zeitlebens mit starkem Akzent behaftet blieb. Auch als Autofahrer war der Exkapitän Conrad, der stets ohne Straßenkarte reiste und selbstverständlich in seemännischer Terminologie von den Orientierungsnöten zu Lande sprach, nach Aussage seines später im Automobilhandel tätigen Sohnes, eher minder begabt. Der leidenschaftliche Automobilist liebte hohe Geschwindigkeiten seines mit 12 PS stattlich motorisierten Cadillacs. Doch fuhr er den Wagen häufig in den Graben und provozierte etliche Beinaheunfälle.

Der kühle Biograph Stape zeigt sich überraschend streng gegenüber dem Objekt seiner materialreichen Darstellung, wenn er am Ende Conrads literaturgeschichtlichen Rang kritisch fixiert: „Conrad ist unbestritten ein bedeutender Schriftsteller, weil er die Sichtweise seiner Generation und der Nachwelt verändert und geprägt hat. Im Ganzen betrachtet ist er aber vermutlich kein ganz >großer< Romanschriftsteller, da ihm – ganz knapp – die eisige Perfektion eines Stendhal oder Flaubert abgeht, worin er Tolstoi oder Dostojewski ähnelt. Sein Stil, geschmeidig und verführerisch und mit Kadenzen, die aus seinem mehrsprachigen Erbe geformt und dem Englischen einen neuen Ton abgewannen, wird zuweilen manieriert (die erwähnte >Darbietung auf der Conradorgel<) oder, schlimmer, ungenau, wenn er grammatische Feinheiten und Idiome nicht ganz in den Griff bekommt. Vom Aufbau neigen selbst seine besten Werke dazu, zum Ende hin auszufasern“.

Nützlicher als diese stilkritische Hierarchisierung Stapes (die im übrigen gänzlich absieht von der wirkmächtigen diskursiven Rolle, die Conrad als Dichter kolonialer Ambivalenzen fürs 20. Jahrhundert doch fraglos innehat) sind die Anhänge seiner Biographie. Hier findet man Karten der politischen Verhältnisse um Polen und kartographische Darstellungen der kolonialen Regionen, die Conrad als Menschen und Schriftsteller wohl ähnlich nachhaltig prägten, wie er, als bild- und sprachmächtiger Autor, die Vorstellungen dieser Regionen für spätere Generationen formte. Permanente Irritationen lösen allerdings Stapes Umrechnungen der damaligen Geldbeträge in heutige Pfund aus. Zwar begründet der Biograph im Anhang gründlich, nach welchen Inflationsraten und Steigerungen des Volkseinkommens über 100 Jahre er diese Umrechnungen vornimmt. Doch bleibt die Höhe der heutigen Summen befremdlich, etwa wenn ein einmaliges Rettungsstipendium der britischen Regierung über 500 Pfund von 1905 heutigen 190000 Pfund entspräche oder für einzelne Erzählungen Zeitschriftenhonorare von 30000 (heutigen) Pfund gezahlt werden. Wo gäbe es heute solch üppig dotierten Autorstipendien oder Honorare?

Elmar Schenkels Conrad-Buch hat nicht den Anspruch einer möglichst vollständigen Datensammlung zum Leben, wiewohl er im Anhang auf 14 Seiten eine bündige Chronologie der wichtigsten Ereignisse nachträgt. Schenkels ‚biographische Annäherungen’ verstehen sich vielmehr als Versuche, die Themen Conrads zu erhellen: die See, die Sprache, das Schreiben. Statt eines linearen Lebensnarrativs wählt er die Form von ‚Annäherungen und Umkreisungen’. Sein erstes Kapitel gilt den Inselwelten als Phantasieräumen, die in Conrads Werk so wichtig sind und die meisten Leser wohl zuerst faszinieren. Das zweite Kapitel adressiert die späte Rückkehr des als Józef Teodor Konrad Korzeniowski Geborenen nach Polen (erst im Jahr 1913) und entfaltet von hier aus den Rückblick auf die Vorfahren. Reflexionen bietet dieses zwischen Biographie und Werkmonographie gelungen oszillierende Buch etwa über den produktionsästhetischen Zusammenhang von Unterbrechung, Schreiben und Erinnerung angesichts des ersten Romans ‚Almayers Wahn’. „Der Roman spielt mit diesen exotischen Phantasien, zum Beispiel eines Pierre Loti, und mit den Südseeträumen eines Stevenson, doch will er in dieser Gattung nicht mehr aufgehen. Vielmehr ist der europäische Traum von den pazifischen Inseln zu einem Alptraum geworden, wie alles, was die Hand des Kommerzes und der Eroberung berührt.“

Unter der Überschrift ‚Fremde Zungen’ werden Conrads Beziehungen zur französischen und englischen Sprache, in der er schriftstellerischen Weltruhm erringen wird, analysiert. Aufschlußreiche Kapitel widmet Schenkel Conrads Liebe zu Frankreich, die von dessen Autoren und Lesern recht früh und eifrig erwidert wurde; sowie Conrads Rezeption in Polen, die ihren vielleicht bedeutendsten Niederschlag fand in der Conrad-Begeisterung des Pioniers der Ethnologie, Bronislaw Malinowski. Neben seinen anderen literaturkritischen Essays, die allesamt Autoren des 19. Jahrhunderts (von Maupassant über Daudet und France bis Henry James und Turgenjew) galten, schrieb Conrad 1923 einen Aufsatz ‚Proust als Schöpfer’, in dem Prousts exzessiv analytische Fähigkeiten als Beitrag zur kreativen Dichtung gefeiert werden. Der lakonisch knapp formulierende Seemannsautor hat somit überraschenderweise lobenden Anteil an der frühen Rezeptionsgeschichte des französischen Ästheten mit den berühmten Schachtelsätzen.

Für ein deutsches Publikum aufschlußreich ist auch Schenkels Verzeichnis der ambivalenten Figuren von Deutschen im Werk Conrads, der zur deutschen Literatur der Gegenwart kaum eine Beziehung hatte und die deutschen Klassiker bestenfalls als vage Kindheitserinnerung gekannt haben mag. Die literarisch künstlerische Rezeption Conrads in Deuschland findet sich bei Männern wie Benn, Genazino, Buchheim und Wolfgang Niedecken von BAP. Brigitte Kronauer wird als ‚vielleicht loyalste und sensibelste’ Leserin, die Conrad in deutscher Sprache gefunden hat’, zur weiblichen Ausnahme in der Gefolgschaft dieses Männer-Autors. In ihrem Roman ‚Der berittene Bogenschütze’ ist der Protagonist ein Conrad-Forscher, der von dem Unbestimmten, Vieldeutigen und Desillusionierenden im Werk des großen Erzählers besessen ist. Zur deutschen Rezeption Conrads sind im übrigen 2005 und 2006 zwei akademische Studien erschienen. Deren eine, versehen mit einer CD-Rom, die über 1000 Publikationen zu Conrad versammelt, ist als Forschungsprojekt von Frank Förster an Schenkels Leipziger Lehrstuhl entstanden.

Im zentralen Kapitel ‚Weiße Finsternis’ berührt der essayistische Biograph geschickt kondensierte Fakten der Kolonialgeschichte. Und er erklärt Conrads raffinierte Erzähltechnik in ‚Herz der Finsternis’, durch die die genialische Monströsität des Europäers Kurtz überspielt wird in die moralische Verschlingung des Erzählers und des europäischen Lesers: „Nicht wie Rimbaud sagt er, ich ist ein anderer, sondern: der andere ist ein Ich, ich bin der andere. Kurtz ist Conrad, bin ich, bist du.“ Auf einem weiteren Dutzend Seiten werden die literarischen und politischen Nachwirkungen von ‚Herz der Finsternis’ skizziert, die bis zu Francis Coppolas ‚Apokalypse Now’ reichen, wo die verheerende Begegnung der vermeintlich Zivilisierten mit den vermeintlich Wilden in den Vietnamkrieg verlegt wurde.

Schenkel bemüht sich um eine Korrektur des negativen Bildes der Gattin Conrads, die in vielen früheren Biographien sehr schlecht wegkam – wohl nicht zuletzt, weil die Biographen die Schriften der Witwe über ihren Mann als unleidliche Konkurrenz wahrnahmen. Nüchterne Erwägungen über die heiklen Transferprozesse zwischen Einbildungskraft, Leben und Werk vollzieht Schenkel angesichts eines bestimmten Typs von Frau. Die femme fatale materialisiert sich bei Conrad (wie übrigens bei zahllosen anderen Autoren der Jahrhundertwende) erst fiktional in einem frühen Roman, dann trat sie als Amerikanerin Jane Anderson, die später Propagandistin der Faschisten wurde, 1916 in Conrads Leben. Schließlich findet diese sich weitere 15 Jahre später zu literarischer Unsterblichkeit geformt wieder (zumindest spurenhaft und anteilig) als Arlette in den Dichtungen ‚Der Freibeuter’ und als Doña Rita in ‚Der goldene Pfeil’.

Befremdlich an Schenkels insgesamt angenehm lesbaren, nur gelegentlich blumig formulierten Buch ist das wiederholte, zusammenfassende Zitieren aus Briefen, das ohne Anführungszeichen Briefpassagen in einer Art style indirect libre kondensiert. Dies führt die willkommene Technik des Verdichtens und Dramatisierens, die Schenkels biographischen Versuch auszeichnet, dann vielleicht doch etwas weit. Lieber wüßte man doch genau, was und mit welchen Worten Conrad hier schrieb, und wo wir wieder der Stimme seines Biographen lauschen.

Auch der wichtigen Frage der Leserbindung und der Rezeptionshaltung, die Conrads Werke provozierten, stellt sich der deutsche Conrad-Experte, wenn er die Obsession für biographistische Schlüsse(l) kommentiert: „Kein Roman Conrads hat wie Lord Jim zu solchen Suchaktionen Anlaß gegeben, und man fragt sich, wieso eigentlich? Welche Rolle spielt es, ob es einen wahren Lord Jim gegeben hat oder aus welchen realen Personen sich die Fiktion zusammensetzt? Warum dieses endlose Puzzlespiel mit all den Williams und Wallaces, den Lingards, den Toms und Jims? Vielleicht ist es dies: mit keiner anderen Figur Conrads kann man sich so identifizieren wie mit Jim. Marlowe bleibt zu sehr im Schatten, Kurtz ist zu dämonisch, Nostromo zu sehr Meister seines Metiers, Winnie Verloc zu melodramatisch, Heyst zu philosophisch distanziert, Razumov zu russisch und all die anderen Seebären zu seebärenhaft. Die Identifikation mit Jim heißt aber auch Identifikation mit Schuld und Scham.“ Womit wir wieder bei der Frage nach den Anziehungskräften wären, die Conrads Werke wie sein Leben auf eine heutige Leserschaft (und Biographenschar) ausübt.

Joseph Conrads Protagonisten sind meist so integre wie isolierte Kämpfer für hehre Ideale, die den widrigen Realitäten freilich selten standhalten. Ihr heroisches, stoisches und einsames Scheitern lädt besonders männliche Leser zur Identifikation ein. Das ist vielleicht nicht zuletzt einer leicht sentimentalen Erzählhaltung der Erinnerung an vergangene erlebnisreiche Zeiten geschuldet, wie sie nicht nur Novellen wie ‚Jugend’ oder ‚Das Ende des Lieds’ kennzeichnen, sondern auch Conrads Erinnerungsbuch ‚Im Spiegel der See’. Idealismus und Pessimismus werden von Conrad mittels einer oft nur ganz leicht ironisch eingefärbten Standpunkttechnik und durch seinen lakonischen Erzählton kunstvoll amalgamiert.
In Manfred Alliés Neuübersetzung von ‚Jugend’, ‚Herz der Finsternis’ und ‚Das Ende vom Lied’ wird Conrads Sound aufs schönste ins Deutsche übertragen. Der englische Erzähler mit polnischem Familienhintergrund war ein Meister in der abgründigen Überblendung realer Handlungsebenen mit symbolischen Resonanzräumen. Seine Seefahrergeschichten sind immer auch als Parabeln lesbar; sie handeln stets zugleich von einfachen Begebenheiten und den großen Fragen von Schuld, Verantwortung, Lebenssinn, Bindungen und Solidarität.

Conrads durch vielerlei Erzähltricks meist spannend dargebotene Erzählungen feiern die imperialistische Religion der Kraft selten ungebrochen. Seine Darstellung elementarer Gefühle und der Hang zum Kult ums primitive Leben, welche die Situationen auf See mit sich bringen, machten Conrad zu einem Existenzialisten avant la lettre. Die Condition humaine verdüstert sich im Werk dieses Spätviktorianers und nähert sich der Moral des Camusschen’ Sisyphos, der seine vergeblichen Mühen tapfer, ja glücklich erträgt.

Stapes etwas additiv langatmiges Buch bietet das Archiv der meisten wichtigen Fakten zu Conrads Leben. Schenkels Essay-Biographie wirft erhellende Schlaglichter auf eine Vielzahl der besonders interessanten Aspekte von Conrads Leben, Werk und Wirkung. Alliés Neuübersetzung wiederum bietet gewissermaßen den Anfang des Liedes und die eigentliche Essenz dieses Meistererzählers: seine Texte in einer gelungenen Übertragung. Gerne hätte man freilich in diesem schön gestalteten Buch des S. Fischer Verlags auch noch einige kurze Anmerkungen des Übersetzers zu den Prinzipien seiner Übertragung gefunden und zur Geschichte der Conrad-Verdeutschungen. Doch für solche Hinweise auf die Übersetzungsgeschichte und Übersetzungskunst ist in einer Leseausgabe eines Publikumsverlags offenbar leider noch kein Raum. Bernd Blaschke
 

John Stape
Im Spiegel der See

Die Leben des Joseph Conrad
Übersetzt von Eike Schönfeld
mit Abbildungen und Karten
marebuchverlag
€ 39,90
ISBN 978-3-86648-071-1


Elmar Schenkel
Fahrt ins Geheimnis
Joseph Conrad. Eine Biographie
S. Fischer
368 Seiten, gebunden
Preis € (D) 24,90
ISBN 978-3-10-073560-7

Joseph Conrad
Herz der Finsternis, Jugend,
Das Ende vom Lied

Aus dem Englischen von Manfred Allié
S. Fischer
384 Seiten, gebunden
Preis € (D) 19,90
ISBN 978-3-10-011335-1

 

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