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Karen Lohse wurde 1977 in Borna geboren und lebt jetzt in Leipzig. Sie hat Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Leipzig studiert. Im Moment arbeitet sie an ihrer Dissertation über die Metaphorik der Tiefe bei Wolfgang Hilbig.
Im Juni 2008 erscheint ihr Buch „Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biografie“ im Plöttner-Verlag, Leipzig.

Wolfgang Hilbig
und die »Schwarzarbeit des Schreibens«
[1].

Über ein Doppelleben als Arbeiter und Schriftsteller in der DDR

Die Verbindung von sozialem Kontext eines Autors und dessen literarischem Text wird dort besonders interessant, wo seine lebensweltliche Sphäre wenig oder überhaupt nichts mit dem Kulturbetrieb im weitesten Sinne zu tun hat. Befindet sie sich in „denkbar größter Entfernung“[2] zu ihm, ragt diese fremde Lebenswelt monolithisch in ihn hinein, fremd und abweisend, unverständlich und in ihrer Andersartigkeit rätselhaft. Dank großzügiger Literaturstipendien muss sich in der zeitgenössischen deutschen Gegenwartsliteratur kaum einer der angehenden Literaten noch durch eine solche Arbeit ernähren, die sich in ‚denkbar größter Entfernung’ zum Kulturbetrieb befindet.[3]

In der DDR begegneten sich die beiden Sphären auf den ersten Blick recht häufig. Einerseits wurden die Intellektuellen durch die herrschende Ideologie vom ‚Arbeiterstaat’ immer wieder, bewusst oder unbewusst, zum direkten Kontakt mit der ‚Basis’ gezwungen. Andererseits wollte sich nicht jeder, der literarische Texte verfasste, für eine mögliche Veröffentlichung dem Zwang unterwerfen, systemkonform zu schreiben oder zumindest Zugeständnisse in diese Richtung machen. Derjenige Lebensbereich, der in der DDR die wenigsten Fragen nach dem politischen und ideologischen Hintergrund stellte, war die Welt der Industriebrigaden in den verschiedenen volkseigenen Betrieben.

Die DDR legitimierte sich als Staat aus der Vorherrschaft der Arbeiterklasse. Da Marx die Hierarchien der nachfeudalistischen Gesellschaft nur in Bourgeoisie und Proletariat unterteilte[4], ergab sich für die Angehörigen der Leitungsebene in der DDR ein erheblicher Legitimierungszwang. Arbeiter waren sie nicht, zur Bourgeoisie wollten sie aus ideologischen Gründen nicht gehören. Der Begriff ‚Arbeiter’ weitete sich aus und wurde auch auf die Angehörigen der Intelligenz übertragen. Daneben war es wichtig zu betonen, dass man aus der Arbeiterklasse stammte und sich ihr durch die Herkunft immer noch verbunden fühlte.[5] Marx gab der Arbeit eine grundsätzlich materielle Definition, nach der sie ein Prozess zwischen Menschen und Natur ist, „ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Natur vermittelt, regelt und kontrolliert“. Das heißt, er benutzt die „seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand“ zum Eingreifen in den Naturprozess, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.[6] In der DDR wurde letztendlich jede Tätigkeit als ‚Arbeit’ angesehen – Wissenschaft, Philosophie, Literatur, Kunst usw. Wichtig war die ideologische Analogie zwischen dem Idealtypus des Industriearbeiters, der schwere körperliche Arbeit verrichtet und der eigenen Tätigkeit. So legitimierte man sich selbst im Rahmen des herrschenden Systems. Daher wurde der Arbeiter als Repräsentant seiner Klasse von der Leitungsebene politisch umworben und – wie Christoph Kleßmann[7] sich ausdrückt – sozial konserviert. Das bedeutet, dass die ‚echten’ Arbeiter aufgrund ihrer ideologischen Überhöhung, ihre Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt ihre Alltagssitten normativ setzten und auf die anderen Teilgruppen der Gesellschaft, so auch auf die selbst ernannten Arbeiter, übertrugen. Wolfgang Engler bezeichnet das Ergebnis dieses Vorgangs in Anlehnung an Norbert Elias als „arbeiterliche Gesellschaft“[8].

Wenn Marx den Begriff ‚Klasse’ danach definierte, dass deren Angehörige einen ähnlichen Lebensstil und ein ähnliches Bewusstsein entwickeln,[9] zeichneten sich die reellen Arbeiter in der DDR in erster Linie durch ihre tendenziell unpolitische Haltung aus. Tatsächlich verhielten sich die Angehörigen der Leitungsebene, die im Grunde genommen keine Arbeiter waren, in der Regel ideologiekonformer als die Arbeiter selbst. Dementsprechend waren die Mitgliederzahlen in der SED im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen bei den Arbeitern am geringsten. ‚Denen da oben’ begegnete man mit Misstrauen und Argwohn. Das soziale Gefälle war ganz klar topografisch bestimmt: sie oben – wir unten. Es herrschte die Vermutung, dass die Mitglieder der Leitungsebene an ihre Posten nur gekommen waren, weil sie sich der Macht angebiedert hatten, zum Beispiel in Form von Bespitzelungen und Denunziationen. In den Augen der Arbeiter waren die Systemstellen der Macht nicht von vertrauenswürdigen Menschen besetzt. Weder handelten sie im Einklang mit den sozialistischen Idealen noch fragten sie bei politischen Entscheidungen nach der Meinung der Arbeiter, sondern strebten die Macht um ihrer selbst willen an.

Wenn ein Eintritt in die SED sich für die Arbeiter nicht aus ideologischen Gründen ergab, dann schon gar nicht wegen praktischer Vorteile: Die gab es kaum oder sie waren völlig unkalkulierbar. Wolfgang Engler meint dazu:

„Die SED winkte mit Aufstiegschancen, Machtgewinn und Wissensvorteilen. Sie hatte denen wenig zu bieten, die bereits ihren angemessenen Platz in der Gesellschaft gefunden hatten, Macht eher passiv als aktiv gebrauchten und genug wußten, um mit sich und ihrer Umwelt zurechtzukommen. Und das traf für die Arbeiter und die meisten Angestellten zu“.[10]

Ein anderer schwerwiegender Grund sich gegen eine Mitgliedschaft in der SED und gegen parteipolitisches Engagement zu entscheiden, lag in dem tiefen Misstrauen, mit dem sich die Arbeiter und die Leitungsebene begegneten. Den Arbeitern war ihre eigene Machtlosigkeit bewusst. Aus dieser Frustration heraus verschlossen sie den Angehörigen der Intelligenz die Teilhabe an ihrem sozialen Netz. Diese waren aus materiellen Gründen auf den Zugang nicht angewiesen, doch auch der geistige Kontakt ging verloren. Die DDR-Gesellschaft wurde von einem Riss zwischen oben und unten geprägt. In beiden Bereichen herrschten verschiedene soziale Regeln, eine andere Sprache und Gestik sowie eine oftmals völlig verhärtete Vorstellung vom Leben im jeweils anderen Teil.

Der Zugang zum sozialen Netz war innerhalb der Mangelwirtschaft des DDR-Systems für die Arbeiter von großer Wichtigkeit. Der soziale Kontakt ermöglichte Tauschgeschäfte auf dem ‚grauen Markt’[11]. Die volkseigenen Betriebe standen nicht nur wegen der ideologischen Aufwertung der ‚Arbeit’ im Mittelpunkt der DDR-typischen Gesellschaftsstruktur: Durch die im Gegensatz zu der BRD höhere Beschäftigtenquote zentrierte sich die staatliche Sozialpolitik auch weitgehend auf die Betriebe. Martin Kohli schreibt dazu:

„Die Betriebe vermittelten den Zugang zu zentralen sozialen und kulturellen Dienstleistungen, aber auch zu zentralen Versorgungsgütern (wie Wohnungen und Urlaubsplätze) was in der Ökonomie des Mangels von besonderer Bedeutung war (...) Die soziale Landkarte der DDR war eher durch die Betriebe als durch Wohnorte zusammengesetzt“.[12]

Wollte nun ein Angehöriger der Arbeiterschaft in den Bereich der Leitungsebene aufsteigen, war das immer mit dem Misstrauen seiner Kollegen verbunden und dadurch auch mit der Gefahr, dass sich das soziale Netz verschloss. Ob dieser aufstiegswillige Arbeiter letzten Endes wirklich ‚oben’ ankam, war sehr unsicher. Das Vertrauen seiner Arbeitskollegen blieb allerdings auf immer gestört. Auch wenn die Arbeiter in der DDR die politisch machtlose Klasse waren, entwickelten sie gegenüber der Leitungsebene ein sehr solides Selbstbewusstsein. Die Facharbeiter wussten sehr gut, dass sie es waren, die mithilfe ihrer praktischen Erfahrungen und Wendigkeit das tagtägliche Chaos in der sozialistischen Wirtschaft bewältigten und die Betriebe damit am Laufen hielten.

Wolfgang Hilbig, der am 2. Juni des letzten Jahres verstarb, wurde in den Strukturen der volkseigenen Industriebetriebe der DDR sozialisiert. Geprägt hat ihn aber der Zwiespalt zwischen den beiden Existenzformen Arbeiter und Schriftsteller. Nach einer Lehre als Bohrwerkdreher arbeitete Hilbig jahrelang als Monteur, Heizer und Kesselwart. Erst nachdem ihm 1980 eine Steuernummer zugesprochen wurde, konnte er diese Arbeit aufgeben und ein Leben als freier Schriftsteller führen. In seinen literarischen Texten bleibt diese Zäsur äußerlich und findet scheinbar keine entsprechende Resonanz. Die aus eigenen Erfahrungen bekannte Welt der Industriearbeiter, die das Sujet von Hilbigs Texten schon vor 1980 bildeten, blieb auch nach diesem Zeitpunkt dominierend. Einer jungen Frau, die ihn bei einer Lesung im Jahre 2006 fragte: „Wovon nährt sich das Schreiben? Man muss doch auch etwas erleben“, antwortete er: „Wissen Sie, ich habe bis 1980 in der Industrie gearbeitet. Ich denke manchmal: Bleib an deinem Schreibtisch, du brauchst nichts mehr zu erleben“.[13]

Hilbig blieb auch nach seiner Kündigung ein Arbeiter, speziell ein Arbeiter aus der DDR mit dessen besonderer Perspektive auf Welt und Dasein. Sich selbst als Schriftsteller zu bezeichnen kam ihm lange Zeit „als hohle Gebärde“[14] vor. Statt dessen verortete er sich und sein Schreiben im Raum zwischen beiden Daseinsformen. „Eigentlich habe ich mich bewegt und gelebt wie ein Arbeiter“[15] resümiert Hilbig 2002 in einem Interview. Nach außen behielt er Zeit seines Lebens den Habitus eines Arbeiters. Der Schriftsteller, der er auch war, reflektierte darüber in seinen Texten.

Die in der DDR entstandene Literatur, die sich die Arbeitswelt zum Sujet nahm, war oftmals realitätsfern und ideologiebezogen. Einerseits lag das daran, dass die Schriftsteller wegen dem grundsätzlichen Misstrauen der Arbeiter gegenüber Angehörigen der Intelligenz, wenig Zugang zu deren wirklichem Alltag und realen Problemen fanden.[16] Kam es allerdings dann doch zu engeren Begegnungen, wie es im Zuge des Bitterfelder Weges ab und zu geschah, sah die Parteiführung darin wiederum eine Gefahr für den bestehenden Status quo. Schließlich nahm man den Vorabdruck des Romans Rummelplatz von Werner Bräunig zum Anlass, um auf dem 11. Plenum des ZK der SED die Beschlüsse der Bitterfelder Konferenzen fast vollständig wieder zurückzunehmen. Dazu Christa Wolf:

„Man hat vorbeugend jegliche Verbindung zwischen den verschiedenen Strömungen in der Gesellschaft – denen, die in der Wirtschaft auf Veränderung drängten, und denen, die in der Kunst auf Veränderung drängten – nur ja rechtzeitig zerschlagen und einen Sündenbock finden wollen, um die wirklichen Probleme nicht diskutieren zu müssen“.[17]

Wolfgang Hilbig kommt in Abriss der Kritik zu einem ähnlichen Befund:
„Es konnte überhaupt nicht die Rede davon sein, daß man einen Arbeiter ernstlich eine Stimme im Literatur- oder Kulturbetrieb der DDR zugestand, gar noch unter der Voraussetzung, ihm Wahrheiten über die Zustände an der Produktionsfront zu gestatten“.[18]

Hilbig machte die Erfahrung, dass seine Lebenswelt, so wie sie ihm tagtäglich widerfuhr, in der Literatur der DDR und später auch im westdeutschen Literaturbetrieb, keine Rolle spielte.[19] Die Intelligenz konnte in den Lebensbereich der Arbeiter nicht eindringen und umgekehrt diese nicht in den ihren. Das gravierendste Hindernis war das Fehlen einer gemeinsamen Kommunikationsbasis.

Die Arbeiter sprechen eine Sprache der Körperlichkeit, die direkt aus ihrer Arbeit resultiert. Die Arbeit macht den Arbeiter erst zu dem, was er ist. Nach Marx schaffen sich die arbeitenden Subjekte nicht nur die Bedingungen für ihr Überleben, sondern in der Auseinandersetzung mit der Natur immer auch sich selbst. Die Arbeit gibt dem Arbeiter seine Identität.[20] In Der Heizer steigert Hilbig diesen Zusammenhang bis ins Extrem: Die Arbeit des Heizers lässt diesen als menschliches Subjekt fast völlig zurücktreten. Der Lärm des Kesselhauses verschließt die Stimmwerkzeuge des Heizers „mit einem erdigen Belag (...) In den schwarzen, mit jedem Schwung der Schaufel aufschießenden, von der niedrigen Decke zurückflutenden Wolken von Staub war der Heizer kaum sichtbar“[21]

Ohne seine Arbeit hört er auf zu existieren. Außer der Berufsbezeichnung oder dem Kürzel H. hat der Heizer keinen Namen. Zunächst identitätsstiftend, lässt Arbeit in gesteigerter Form Identität verschwinden. Ein Vorgang, der sich in Hilbigs Texten auf der Ebene der Klasse wiederholt: „Und es ist ungefähr das Wissen, daß er, der Arbeiter, wenn er seinen Stand nach unten verläßt, so gut wie verschwunden sein kann“. [22]

Die Sprache der Intelligenz ist die Sprache des Geistes. Ihre Sprecher nehmen an, dass es sich bei dem Geist um ein Naturgut, etwas Angeborenes handelt. Er ist aber ein Produkt höherer Bildung, die allein in den Händen der Intelligenz liegt. Deshalb ist der von ihr geprägte Ausdruck ‚Arbeiter-Schriftsteller’ in sich widersinnig. Der Protagonist in Hilbigs Erzählung Der Brief empfindet diesen Begriff sogar als abwertend: „Das Mitleid des Bildungsbürgertums – machen wir uns nichts vor (...) hat irgendwann einmal den Begriff Arbeiterschriftsteller geprägt“.[23]

Wenn etwas über die Sphäre der Arbeiter in der Sprache der Intelligenz ausgedrückt werden soll, geschieht das nur mit Informationsverlusten. In Der Brief hat sich ein Arbeiter diese Sprache angeeignet. Als er jedoch den Versuch unternimmt über sich und seine Existenz zu schreiben, erkennt er die Unmöglichkeit seines Vorhabens:

„Diese Worte haben Gedanken erwähnt, die mir inmitten des Weichbilds dieser Klasse gekommen sind und die ich dort auch nachvollziehen konnte, aber haben sie je eine einzige Faser von mir ausgedrückt“.[24]

Neben der fehlenden Möglichkeit die eigene Sprache anders als in einer fremden Sprache artikulieren zu können, macht der Protagonist der Erzählung die Massenhaftigkeit der Arbeiter dafür verantwortlich, dass seine
„Sprache eine so notorisch mit sich selbst entzweite Sprache geworden ist (...) Es gibt in dieser Klasse keinen Ansatz zu einer Erziehung, die einen Kopf dazu brächte, einen einzigen Satz, der nicht beiläufig ist, auf sich, als ein vollständiges Subjekt, zu beziehen“.[25]

Der Identitätsverlust, den Hilbigs Arbeiterfiguren erleben, ist eine direkte Folge der Vermassung[26], diese wiederum resultiert aus der Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit. Die nach Marx mögliche Selbstfindung und Daseinsverwirklichung des arbeitenden Subjekts durch seine Arbeit wird verhindert durch die Degradierung der Arbeit zu Lohnarbeit. Die Arbeit, die der Arbeiter in einem Lohnarbeitsverhältnis schafft, ist für ihn keine Selbsttätigkeit, sondern sie gehört jemanden anderes. In der Lohnarbeit verliert der Arbeiter sich selbst.[27] Er hat keinen Kontakt mit dem Produkt seiner Tätigkeit. In Die Arbeiter heißt es:
„Die alte Arbeit der Arbeiter unterdessen wird in der Versandhalle mit einem Gebäude hellgelber Bretter verschalt (...) das im Abschluß endlich geliebte, behutsam umsorgte Geschöpf ist zu einer Ware geworden“.[28]
Kompensiert wird der Verlust von Identität und Artikulationsfähigkeit durch den Lohn:

„Heute da es Geld gab, merke ich, wie das Geld ein Ersatz für die Sprache ist (...) die Arbeits- und Schweigebedingungen werden mir mit Geld vergütet“.
[29]

Die Arbeiter haben sich bewusst für das Schweigen entschieden, weil sie jeden Kommunikationsversuch mit der Leitungsebene als sinnlos ansehen: 

„Die Arbeiter in der DDR waren tatsächlich eine Art schweigender Mehrheit, die sich nicht artikulieren wollte, da sie den zwischen Realität und offiziellem Sprachgebrauch klaffenden Widerspruch als unaufhebbar hingenommen hatte“.
[30]

Durch die fehlende Kommunikationsbereitschaft auf beiden Seiten konnte es einen ‚Arbeiter-Schriftsteller’ in der DDR nicht geben. Der literarische ambitionierte Arbeiter in Der Brief ist sich dieses Zusammenhangs bewusst:

„Es kostete mich keinerlei Anstrengung, zu begreifen, dass ich nicht von der Arbeiterklasse geschickt worden war, um zu schreiben ... wenn das der Fall gewesen wäre, hätte es vielleicht einen Grund gegeben, mich Arbeiter-Schriftsteller zu nennen“.[31]

Hilbig selbst hat sich der Bezeichnung ‚Arbeiter-Schriftsteller’ immer verweigert. Da weder er als Person noch seine Texte in der DDR öffentlich wahrgenommen worden, war es das westdeutsche und später das gesamtdeutsche Feuilleton, das ihn als solchen sah. Für Hilbig blieb sie eine Fremdzuschreibung. In der fortwährenden Etikettierung seiner Person als ‚Arbeiter-Schriftsteller’ sah er ein Indiz, dass der Kulturbetrieb dem Begriffsnetz der DDR-Ideologie auf dem Leim gekrochen war.[32] Von sich selbst sagt Hilbig in Abriss der Kritik: „Ich war Arbeiter und Schriftsteller, nicht aber ein Arbeiterschriftsteller“.[33] Gerhard Fischer ist demnach zu widersprechen, der in seinem 2003 erschienen Aufsatz behauptet, Hilbig sei der vielleicht einzige wirkliche Arbeiter-Schriftsteller.[34]

Eindeutige Zuschreibungen sind in Hilbigs Texten nicht zu finden. Sein Verhältnis und das seiner autothematisch angelegten Protagonisten zu den Arbeitern in der DDR ist ambivalent. In den „fünften Stand“[35] hineingeboren und dort sozialisiert, bieten die Arbeiter die Sicherheit des Gewohnten und Bekannten. Nachdem C. in Der Brief in einem großen Industriebetrieb gekündigt hat und einige Zeit später wieder daran vorbeigeht, stellen sich bei ihm fast wehmütige Gedanken ein:

„Tatsächlich, die Industrie war ihm immer ein bedrohliches Reich gewesen ... trotzdem wurde er jetzt vor diesen Hallen ruhiger. Er hatte sich einem Gebiet genähert, das ihm bekannt war“.[36]

Diese Sicherheit ist allerdings von erstickender Konsistenz. Neben den schon beschriebenen Entindividualisierungstendenzen, die die Massenhaftigkeit der Arbeiter von jedem einzelnen unwillkürlich fordert, ist das Leben der Mitglieder des ‚fünften Standes’ durch Konvention und staatliche Gewalt derart vorherbestimmt, dass „sogar der bloß gedankliche Versuch ... abzuweichen (...) mit dem äußersten Argwohn beobachtet“[37] wurde.

Durch ihr beharrliches Schweigen gegenüber dem leeren Begriffssystem der Leitungsebene erscheinen die Arbeiter subversiv. Diese Subversivität kann sich aber nicht artikulieren, weil jede Form von sprachlicher Artikulation der anderen Seite zugerechnet wurde und misstrauisch machte. Das Misstrauen der Arbeitskollegen war etwas, was unbedingt vermieden werden musste. Hielt man sich an die stillschweigenden Übereinkünfte, erwiesen sich die Arbeiter als tolerant. Schrieb einer ihrer Kollegen während der Arbeitszeit an seinen literarischen Texten, stieß das zwar auf Unverständnis, wurde aber geduldet, denn:

„Es war unter Arbeitern in der DDR auch selbstverständlich, daß man während der Arbeitszeit mit eigenen Problemen beschäftigt war – schon die kritische Versorgungssituation machte solches Verhalten notwendig – man tolerierte und deckte Privatgeschichten“.[38]

Als Schriftsteller hervortreten hieße, die stillschweigende Übereinkunft zu brechen. Die Arbeiter würden diesen Schritt als Bekenntnis zur anderen Seite werten. Es würde bedeuten, „mich sofort selber aus dem Verband der Beziehungen, der in den Arbeitsbrigaden der DDR-Betriebe notgedrungen herrschte, auszustoßen.“[39] Eine Vorstellung, die jemand, der nie die Möglichkeit hatte, sich selbst und seine Herkunft von außen zu betrachten, nur schwer ertragen konnte. Andere Optionen als die vorliegenden wären diesem Menschen unbekannt. Die fehlende Möglichkeit des Ausbruchs kann aber als genauso belastend empfunden werden:

„Meine Aussichten, irgendwann ein Leben als Schriftsteller führen zu können, waren mir immer vollkommen realitätsfern erschienen, und dies war ein Zustand, den ich in schwachen Stunden nur schwer ertrug“.[40]

Abgesehen von den mentalen und sozialen Differenzen, wird der Versuch beides gleichzeitig zu sein – Arbeiter und Schriftsteller – durch die schwere körperliche Arbeit in den Industriebetrieben behindert. Hilbigs Protagonisten kämpfen ständig mit einer bodenlosen Müdigkeit, die jede Wahrnehmung wie in Watte bettet, die jedes konzentrierte Festhalten eines Gedankens fast unmöglich macht. Sicher gibt es während der Arbeitszeit immer wieder zeitliche Nischen, in denen das Schreibheft hervorgeholt wird. Auch der Feierabend und das Wochenende sind Freiräume, die für die literarische Arbeit genutzt werden können. Oft ist es aber unmöglich, die bleierne Erschöpfung der Arbeitswoche abzustreifen. Es ist, als ob die Arbeit in jede Faser des Körper eingedrungen sei und vom Körper aus auch den Strom der Gedanken beherrschte:

„Ich drifte nur noch durch Trancezustände völligen Stumpfsinns, die sich mit Phasen übernächtigter Gereiztheit abwechseln; manchmal bin ich von imaginären Geräuschen erfüllt, hohlen Pfeiftönen, einer Art Sphärenmusik, die sich in meinem Kopf nicht löschen läßt, dann wieder scheint mir der Körper in Form einer hochaufgerichteten übersensiblen Spitze im Nichts zu sitzen, das von der Welt nur noch in weiter Entfernung umkreist wird“.[41]

Die immense körperliche Beanspruchung wirkt sich auf die literarische Tätigkeit in zweifacher Weise aus: Einerseits behindert das kräftezehrende Arbeiterdasein geradezu die Schriftstellerexistenz. „Alle Zeit vor den Feuern der Kessel“ war dem schreibenden Arbeiter in Der Brief „verlorene Zeit“.[42] Im Provisorium[43] äußert sich der Protagonist – ein ehemaliger Industriearbeiter aus der DDR, der versucht in Westdeutschland als Schriftsteller zu leben – über diese Problematik noch drastischer. Die Kesselhäuser, seine alten Arbeitsstätten, hasst er „wie Pest und Cholera zusammen“.[44] Die Entscheidung zwischen Arbeiter- und Schriftsteller-Dasein ist ihm eine existenzielle: auf der einen Seite die „Todeszellen der Industrie“,[45] auf der anderen „seine Texte – sein Ein-und-alles, seine einzige Überlebenschance“.[46]

Andererseits entstehen aus diesen Erschöpfungszuständen sprachliche Bilder, die diffus und unscharf erscheinen, aber gerade durch dieses Changieren letzten Endes eine deutliche Aussage treffen. Die Müdigkeit lässt das Bewusstsein des Protaonisten in einen Zustand sinken, in dem er weder Arbeiter noch Schriftsteller ist, sondern sein eigentliches Dasein führt. Es ist ein Dasein, „wo es mir vielleicht gelungen ist, durch das Dunkel hindurchzublicken. Bis in einen Zustand vor meiner Zeit, in dem schon Stimmen und Zeichen waren, und schon von dort her an mich gerichtet“.[47]

Doch diese dritte Möglichkeit lässt sich nicht in die Realität überführen, lässt sich unter den gegebenen Bedingungen nicht leben:

„Den zersprungenen Pflasterstein, an dem ich vorüberkomme, darf ich nicht lüften. Alraune, deren Geheimnis unter dem Stein verführerisch wächst, ich darf sie nicht ausreißen. Es ist tödlich ihr Geheimnis mit meiner sterblichen Hand zu berühren“.[48]

Die Arbeiter- und die Schriftstellerexistenz sind miteinander unvereinbar: „Diese Unvereinbarkeit stellt sich spätestens dann heraus, wenn man durch irgendeinen Zwang beides sein muss“.[49] Die Figur, die in Hilbigs Texten dieser dritten Existenz am nächsten kommt, ist der Heizer. Der Heizer ist eine Figur, die sich im Dazwischen befindet. Neben den Arbeitern und der Intelligenz ist er die dritte Klasse: „Die Heizer werden nicht als Arbeiter bezeichnet, ihre Dienste dienen der Arbeit der Arbeiter“.[50] Das Verhältnis zu den Ingenieuren ist klar definiert: „Daß die Ingenieure seine Gegner sind, scheint dem Heizer unleugbar, jedes Hereinstecken ihrer Köpfe in seinen Keller beweist es“.[51] In den Augen der Arbeiter steht der Heizer in der betrieblichen und sozialen Hierarchie unter ihnen. Eine Gliederung, die sich auch aus der räumlichen Verteilung ihrer jeweiligen Arbeitsplätze ergibt: Der des Heizers ist im Keller des Betriebs. Dort stellt er nichts her. Seine Tätigkeit – das Erzeugen von Wärme – ist für die Arbeiter eine Dienstleistung und wird von ihnen deshalb geringer geschätzt als ihre eigene Arbeit. Diese Ablehnung schmerzt den Heizer sehr, weil er sich den Arbeitern näher als den Ingenieuren fühlt: „Eigentlich kann es der Heizer nicht glauben, daß die Arbeiter sich über ihn beschweren würden, eigentlich müßten ihnen die Ingenieure ferner stehen als die Heizer“.[52]

Aber gerade weil die Arbeit des Heizers Dienstleistung ist, entzieht sich seine Person der Aufmerksamkeit der „Ingenieurschaft in den gläsernen Kanzeln“,[53] die die Tätigkeit der Arbeiter in den Werkhallen steuern und überwachen. Die Arbeiter werden zu Objekten degradiert, zu Marionetten, zu Rädchen an einer Maschine, deren einzige Aufgabe darin besteht zu produzieren. Die Aufmerksamkeit des ganzen Betriebs ist auf das Produkt, die Ware, gerichtet. Der Heizer ist in diesem Mechanismus nur indirekt involviert. Während die Arbeit der Arbeiter absolut beherrscht ist „durch die Sprache der Ingenieure“,[54] kann die Arbeit des Heizers „in all ihren Verrichtungen den Keim zu einer eigenen Sprache“ [55] tragen. Eine Form von Artikulation, die die Elemente der Sprache der Macht umgeht. Diese „Kellersprache“[56] ist genauso verwinkelt und verschlungen wie die Kellerlabyrinthe unter Berlin, die der Protagonist aus „Ich“ durchschweift. Sie befindet sie sich im absoluten Gegensatz zu der rein äußerlich bleibenden Sprache der Macht. Deren Kennzeichen ist die inhaltliche Leere. Sie besteht aus Worthülsen mit ungefüllten Hohlräumen oder aus endlosen Genetivketten, die nie zu einer Aussage kommen:

Festlegung der durchzuführenden Zersetzungsmaßnahmen auf der Grundlage der exaten Einschätzung der erreichten Ergebnisse der Bearbeitung des jeweiligen Operativen Vorgangs“.[57]

Ihre architektonische Umsetzung beschreibt der Protagonist in der Erzählung Beschreibung II: „In den Gebäuden gab es keine Innenräume, sie waren nur gewaltige, steinerne Quader“. [58] Die fehlenden Innenräume sind die Steigerung der inhaltlichen Leere – ein Inhalt war nie vorgesehen. Die Sprache des Heizers ist durch die Welt der Arbeiter geprägt. Seine Sicht der Welt wird durch das tagtägliche Beisammensein mit ihnen beeinflusst.

Weder das Dasein als Arbeiter noch als Schriftsteller empfinden Hilbigs Protagonisten als das ihnen gemäße. Sie verwehren sich der Bezeichnung als Arbeiter-Schriftsteller, die für sie eine Fremdbestimmung ist. Was oder wer sie aber stattdessen sind, bleibt für sie ungewiss und Gegenstand einer endlosen Suche. Von ihrem eigenen Standort in der Gesellschaft und ihrem Verhältnis zu den Mitgliedern der Leitungsebene haben sie dagegen sehr klare Vorstellungen. Die Angehörigen des ‚fünften Standes’ und die ihnen in der gesellschaftlichen Hierarchie übergeordneten Funktionäre stehen sich sprach- und verständnislos gegenüber. Beide Seiten akzeptieren diesen Zustand. Den Impuls etwas zu ändern, gibt es nicht. Volker Braun beschreibt das in seinem 1985 erschienen Hinze-Kunze-Roman folgendermaßen: „Sie hielten es miteinander. Aus.“[59]


[1] Hilbig, Wolfgang: Eine Übertragung, Frankfurt am Main 1989, S. 50.

[2] Hilbig, Wolfgang: Abriss der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt am Main 1995, S. 82.

[3] Der Anteil der zeitgenössischen Literaten, die sich, ob freiwillig oder nicht, in direkter Berührung mit Bevölkerungsschichten befanden, die abseits des Kulturbetriebs stehen, ist recht gering. Der Anteil verringert sich weiter, wenn man fragt, ob diese Erfahrungswelt Eingang in die literarische Produktion gefunden hat. Innerhalb der älteren Autorengeneration ist hier Günter Wallraff zu nennen. Im Jahr 2006 machte der 1977 in Halle an der Saale geborene Clemens Meyer mit seinem Debütroman „Als wir träumten“ auf sich aufmerksam. Bevor Meyer am Literaturinstitut in Leipzig studierte, arbeitete er als Bauhelfer, Möbelträger und Wachmann.

[4] Marx/ Engels Werke, Bd. 23, Berlin (Ost) 1972, S. 192. Im weiteren Text wird folgende Sigle verwendet: MEW.

[5] Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 2000, S.177f.

[6] MEW, Bd. 4, S. 463.

[7] Kleßmann, Christoph: Arbeiter im "Arbeiterstaat". Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell und westdeutsches Magnetfeld, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50, 2000, 20-28.

[8] Zit n.: Engler 2000, S. 198. Zum gesellschaftlichen Idealbild eines Industriearbeiters gehörten bestimmte Attribute. Zum Beispiel übermäßiger Alkoholkonsum, vor allem Bier sowie dessen direkte Folge, der Bierbauch. Nach Engler trugen eben diesen auch die meisten Ingenieure, Werksleiter und Universitätsprofessoren stolz zur Schau. (ders., S. 200) Die ideologische Vormachtstellung war nicht der alleinige Grund für die soziale Dominanz der Arbeiter. Die Wirtschaftspolitik der DDR fokussierte sich bis Mitte der 60er Jahre weitgehend auf die Grundstoffindustrie und rückte dadurch den Industriearbeiter verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. (Kleßmann 2000, S. 21.)

[9] MEW, Bd. 3, S. 227.

[10] Engler 2000, S. 191.

[11] Plato, Alexander von: Arbeiter-Selbstbilder in der DDR, in: Hübner, Peter (Hg.): Arbeiter in der SBZ-DDR, Essen 1999, S. 867-881, hier: S. 868f.

[12] Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Kaelble, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 31-61, hier: S. 43.

[13] Schoor, Uwe: Heraustreten aus selbstverschuldeter Müdigkeit. Zwei unaufgefordert schreibende Arbeiter: Wolfgang Hilbig und Gert Neumann, in: Argonautenschiff 15, 2006, S. 56-70, hier: 66.

[14] Hilbig, Abriss der Kritik, S. 70.

[15] Hilbig, Wolfgang: Als wär ich ein Schriftsteller. Wolfgang Hilbig im Gespräch mit Marie-Luise Bott, in: Neue Rundschau 113, H. 3, 2002, S. 73-79, hier: S. 77.

[16] Es war sehr selten, dass DDR-Schriftsteller, deren Texte auch in der DDR erschienen, über die Verständigungsbarriere reflektierten, die zwischen Arbeitern und Intellektuellen bestand. Offiziell wurde davon ausgegangen, dass es sie überhaupt nicht gab. Diese Problematik anzusprechen hieße, an den Fundamenten der DDR-Gesellschaft rütteln, hieße auch sich einzugestehen, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer größer wurde. Eine der wenigen Ausnahmen war Franz Fühmann, der immer wieder versuchte, sich dem Thema Arbeitswelt in der DDR authentisch zu nähern. 1974 fuhr er das erste Mal mit Bergleuten eines Mansfelder Kupferbergwerkes ein. Durch die Fahrt in den Berg und in der Begegnung mit den Bergleuten wurde er sich bewusst, dass die Formel vom ‚Arbeiterstaat’ ein leeres Begriffsgebäude war. Gemessen an der sozialistischen Definition von ‚Arbeit’ fragte er sich selbstkritisch: „War denn mein Schreiben überhaupt Arbeit“? (Fühmann, Franz: Im Berg. Texte aus dem Nachlaß, Rostock 1991, S. 43.) Und zugespitzt: „Gehörte ich zum Volk“? (Ebd., S. 91.) Fühmann konnte diese Gedanken nicht zum Abschluss bringen. Der Essay blieb ein Fragment. Die Intention eine Antwort auf diese beiden Fragen zu finden, bestand jedoch. In den nachgelassen Notizen des Essays vermerkt Fühmann: „Das Problem – Literatur/ (Arbeiter)staat (ist er einer?)“. (Ebd., S. 143.) Neben Franz Fühmann sind in diesem Zusammenhang auch Brigitte Reimann und Volker Braun  zu nennen.  Beide stellten realen Kontakt zur Arbeitswelt in der DDR her und reflektierten in ihren Texten kritisch über das dort Erlebte.

[17] Agde, Günter (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991, S. 350f.

[18] Hilbig Abriss der Kritik, S. 66.

[19] Ebd., S. 82.

[20] MEW, Bd. 23, S. 192.

[21] Hilbig, Wolfgang: Der Heizer, in: ders.: Aufbrüche. Erzählungen, Frankfurt am Main 1992, S. 84.

[22] Hilbig, Wolfgang: Der Brief, in: ders: Der Brief. Drei Erzählungen, Frankfurt am Main 1985, S. 100.

[23] Ebd., S. 107.

[24] Ebd., S. 105.

[25] Ebd., S. 104f.

[26] In der Tradition proletarischer Literatur steht der negativ konnotierten Massenhaftigkeit der Arbeiter eine positive Bedeutung gegenüber. Der ‚kollektive Leib’ vermittelt ein Bewusstsein von Überlegenheit, das aus dem Wissen erwächst, aufeinander angewiesen zu sein. Die Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen werden transparent. Das Ich verliert zwar einen Teil seiner Individualität, kann aber im Gegenzug eine neue annehmen: die Identität der Masse. Ein Vorgang, der sich konkret am Arbeitsplatz des Einzelnen wiederholt: Die Sinne des Arbeitenden befinden sich im Einklang mit dem Rhythmus der Maschine und den anderen, neben ihn arbeitenden Körpern. (Heukenkamp, Ursula: Proletarisch – Sozialistisch – Arbeiterlich? Arbeit und Arbeiter in der DDR-Literatur, in: Argonautenschiff 15, 2006, S. 60-75, hier: S. 63.)

[27] MEW, Bd. 4, S. 475f.

[28] Hilbig, Wolfgang: Die Arbeiter. Ein Essai, in: ders.: zwischen den paradiesen, Leipzig 1992, S. 20f.

[29] Ebd., S. 28.

[30] Hilbig, Abriss der Kritik, S. 66.

[31] Hilbig, Der Brief, S. 122.

[32] Hilbig, Abriss der Kritik, S. 65.

[33] Hilbig, Abriss der Kritik, S. 73.

[34] Fischer, Gerhard: Arbeiter-Schriftsteller: Dichotomien einer Daseinsform. Zu Wolfgang Hilbigs Roman Eine Übertragung, in: Seminar 39, H. 4, 2003, S. 316-328, hier: 316.

[35] Hilbig, Der Brief, S. 114.

[36] Ebd., S. 140.

[37] Ebd., S. 114.

[38] Hilbig, Abriss der Kritik, S. 72. In Hilbigs Roman „Ich“ hat die Toleranz der Arbeiter Grenzen: Der Protagonist – wieder ein Arbeiter, der literarische Texte verfasst – wird von seinen Kollegen misstrauisch beobachtet, als er während der Arbeitszeit in einer Ecke sitzend, schreibt. Die Medien Sprache und Schrift ordnen sie erstens dem feindlichen Lager der Intelligenz zu. Zweitens haben sie den Verdacht, dass das Geschriebene ihnen gilt, der schreibende Protagonist ein Stasispitzel ist. ( Hilbig, Wolfgang: „Ich“, Frankfurt am Main 1993, S. 87f.

[39] Hilbig, Abriss der Kritik, S. 69.

[40] Ebd., S. 81.

[41] Hilbig, Wolfgang: Über den Tonfall, in: ders.: zwischen den paradiesen, Leipzig 1992, S. 7.

[42] Hilbig, Der Brief, S. 115.

[43] Hilbig, Wolfgang: Das Provisorium, Frankfurt am Main 2000.

[44] Ebd., S. 182.

[45] Ebd., S. 284.

[46] Ebd., S. 162.

[47] Hilbig, Über den Tonfall, S. 12.

[48] Ebd.

[49] Hilbig, Der Brief, S. 113.

[50] Hilbig, Die Arbeiter, S. 21.

[51] Ebd., S. 23.

[52] Ebd., S. 22.

[53] Ebd., S. 19. Die Architektur der Fabrikhalle erinnert an das in Foucaults Überwachen und Strafen  beschriebene Modell des Panoptikums – ein von Jeremy Bentham entworfener Plan zu einem perfekten Gefängnis. In der Mitte des Bauwerks steht ein Turm, aus dem der Wärter jederzeit Einblick in die rundherum angeordneten offenen Gefängniszellen hat. Das Wissen um die permanente Überwachung verändert das Verhalten der Überwachten. (Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976, S. 256ff.)

[54] Hilbig, Die Arbeiter, S. 24.

[55] Ebd., S. 24.

[56] Hilbig, „Ich“, S. 297.

[57] Hilbig „Ich“, S. 23.

[58] Hilbig, Wolfgang: Beschreibung II, in: ders.: Der Brief. Drei Erzählungen, Frankfurt am Main 1985, S. 74.

[59] Braun, Volker: Hinze-Kunze-Roman, Frankfurt am Main 1985, S. 190.

 

 

Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik

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