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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 










Weinberg statt Elfenbeinturm

Über Peter Sloterdijks zeitkritische Aufzeichnungen
»Zeilen und Tage« Notizen 2008-2011

Von Gregor Keuschnig

»Zeilen und Tage« ist kein Steinbruch, sondern ein weitverzweigtes, zuweilen labyrinthisch anmutendes Stollensystem mit vielen verschiedenen Ein- und Ausgängen und gelegentlichen Sackgassen. Mit der ersten Lektüre dieses Buches sollte der Leser seine eigene Kartographie dieses Konvoluts anfertigen um dann, je nach Zeit und Gelegenheit, die Goldpfannen zielgerichtet kreisen lassen zu können. So manches Körnchen wird bei der zweiten oder dritten Lektüre umso heller aufleuchten.

Da wird doziert, reflektiert, brüskiert, ironisiert, räsoniert, bramarbasiert, politisiert und, vor allem, philosophiert. Beispielsweise legt Sloterdijk Hand an Heideggers »Sein und Zeit«, das nicht nur interpretiert, sondern ergänzt und substantiell kritisiert und erweitert wird. Es gibt tiefgehende Ausführungen über Derrida nebst Bemerkungen zu seinem Ethos der Ausführlichkeit. Wittgensteins letzte Sätze fordern eine gründliche Analyse. Selbstverständlich werden historische und gesellschaftliche Phänomene mit dem Lieblingsphilosophen Nietzsche assoziiert und gedeutet. Ausführliche Lektüreeindrücke gibt es von Ortega y Gasset, Kierkegaard, Emmanuel Levinas, Rousseau, Sartre und Goethe. Letzterer wird als Gipsfigur abgehandelt; für jemanden, der Hotels nach den Marmorsorten in den Badezimmern zu rubrizieren vermag, eine ziemlich despektierliche Formulierung, die jedoch womöglich nur aus reiner Provokationslust den situierten Heiligenverehrern in der (deutschen) Germanistik geschuldet ist.

Weinberg statt Elfenbeinturm

Sloterdijk hingegen ist ausgesprochen frankophil und ein ausgezeichneter Kenner der französischen Geschichte. Munter verknüpft er seine Lektüreerkenntnisse auch aus zuweilen eher abseitigen, weil sehr speziellen Werken mit den Ereignissen der Gegenwart. Nur bei ihm erfährt man etwas über den französischen Futurismus von 1793, die zwei Kollaborationen Frankreichs im Zweiten Weltkrieg und Roland Barthes' Entzauberung Chinas während einer Reise 1974. Häufig tritt er auf französischen Bühnen auf. In einem Fernsehgespräch mit Bernard Henry Lévy vermisst er dessen intellektuelle Gastfreundschaft, da er nicht auf das angekündigte Thema - Sloterdijks Buch - eingeht. Hierzu passt dann das Bonmot, dass nichts so suspekt [ist] wie dieser Populismus der Gebildeten, die im Namen der anderen selber nicht verstehen. Zudem mokiert sich Sloterdijk über die Gimpelfalle, in der sich BHL begebe, in dem er sich als »Krieger« charakterisiere. Die Assoziation zu Jünger kommt ihm dabei nicht. Aber nicht nur in Frankreich ist Sloterdijk bekannt. Immer wieder trudeln Übersetzungen seiner Bücher in diversen europäischen Sprachen ein. Sloterdijk ist kein Elfenbeinturm-Philosoph, sondern äußerst mobil und fast ständig unterwegs (Transatlantikflüge, bevorzugt in der business-class); Vorträge, Lesungen, Diskussionen, Symposien, Empfänge. In Interlaken wird er, der unfrisierbare Oger, für einen Busfahrer gehalten.

Sehr genau werden Besucherzahlen und Diskussionsverläufe bei Veranstaltungen protokolliert (die Säle sind fast immer voll bis überfüllt). Nach einer Ehrung bemerkt er an die Adresse der Laudatoren Gelobt werden ist nicht meine Stärke. Bei der Betrachtung der Quoten zum »Philosophischen Quartett« (seine Urteile über die Sendungen fallen ausschließlich positiv aus) wird nicht mit Kritik am ZDF ob des Schattendaseins der Sendung gespart. Als der Volkswagen-Konzern als Sponsor aussteigt, beklagt Sloterdijk, dass der Sender für diese vergleichsweise preiswerte Sendung überhaupt einen Sponsor gebraucht habe. Auch der Suhrkamp Verlag bekommt sein Fett ab: Sloterdijk erfährt aus den ihm bei Lesungen zur Signatur vorgelegten Exemplaren die jeweils aktuelle Auflage seines Übungsbuches. Und manchmal hat man den Eindruck, dass die Produktivität des Philosophen nicht mit den Kapazitäten des Verlags mitkommt; grimmig wird vermerkt, wenn eine Rede von ihm noch immer nicht publiziert wurde.

Eine boshafte Spitze bekommt Hans-Jürgen Heinrichs verpasst, der es «gewagt« hatte, über Sloterdijk eine Biographie (im Hanser-Verlag) vorzulegen. Sein Buch sei zwar wohltuend bemüht, verknüpfe jedoch die roten Gedankenfäden des Werks nicht derart, wie dies möglich gewesen wäre, so das Urteil. En passant wird von einem Brief Michael Krügers berichtet, in dem er seine Ratlosigkeit angesichts des Manuskripts von HJH gestehe. Er halte das Werk nach so vielen Korrekturen für nicht mehr verbesserbar und immer noch nicht gut. Er winkt es resigniert zur Publikation durch, obschon er seine Mängel schärfer sieht als irgendwer sonst. Herrn Heinrichs dürfte diese Sottise nicht gefallen.

Sloterdijk ist der unermüdlich Schaffende im philosophischen Weinberg. Er ist Rektor in Karlsruhe, lehrte zeitweise noch regelmäßig in Wien, schreibt an einem Opernlibretto, konzipiert mit Bazon Brock einen «Profi-Bürger«-Studiengang und kommt von fast jeder Reise mit neuen Ideen für Essays und Vorträgen zurück, zu denen in den Heften zuweilen erste, kurze Entwürfe verfasst sind. Es ist unmöglich, auch nur annährend der Spannbreite der Interessen dieses Mannes hier auszubreiten. So entdeckt und entwickelt Sloterdijk eine »Bastardologie«, beschreibt in verblüffender Klarheit die Verwechslung von Gemeinschaft und Gesellschaft, moniert einen fehlenden Architektoklasmus, verteidigt Vilém Flusser gegen Alex Bloch, referiert über Kant und die Religion, setzt sich mit Rousseau und seinen Idiosynkrasien auseinander, kanzelt Lukács Vorwort zu seinen »Thesen des Romans« als Abiturientenprosa ab und geißelt die perverse Kollaboration der westlichen Philanthropie mit dem System der afrikanischen Korruption. Das fatalste Erbe der Kolonialmächte an die in die Unabhängigkeit entlassenen Völker ist Sloterdijk zufolge der Nationalstaat. Giftige Pfeile werden gegen den sich epidemisch ausbreitenden Neuro-Talk abgeschossen; die zunehmende Vernaturwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften beargwöhnt Sloterdijk naturgemäß (was ihn jedoch nicht daran hindert, sie gelegentlich selber zu praktizieren). Beim Kollegen Žižek bemerkt er vorsichtig eine zu einseitige Ausrichtung auf Lacan, Hitchcock und Freud und  befürchtet eine gewisse Selbstbanalisierung (übrigens auch vice versa, was Sloterdijk bewusst ist). Den Mitgliedern des Europäischen Gerichtshofs werden  seltsame Weltfremdheiten attestiert. Deutliche Worte nach der Ermordung Bin Ladens: Ein guter Tag für den Rache-Instinkt, ein trüber Tag für die Zivilisation. Und über die zeitgenössische Kunst heißt es, dass sie, weil sie in Überproduktion schwimmt […] die Flucht in die Überbewertung des Wertlosen antreten [muß].

Auf  der Gemüsekiste

Trotz dieses Pensums und seiner implantierten Skepsis gegenüber den gängigen Massenmedien, die er immer mehr zu Meinungsmedien verkommen sieht (So wie es bald eine Kennzeichnungspflicht für Giftstoffe und versteckte Dickmacher in Nahrungsmitteln geben wird, sollte man eine Kennzeichnungspflicht für Inhalte von Meinungswaren einführen. Rote Punkte für Verhetzung, Verdummung und Aufgeilung, auf die Gefahr hin, daß Zeitungen und TV-Sendungen wie roter Regen auf uns fallen.), findet sich noch Zeit für die Lektüre zahlreicher Zeitungen und ausgewählter Fernsehsendungen; wenn Egon Bahr bei Anne Will zu Gast ist, hat er eingeschaltet. Und natürlich surft auch Sloterdijk im Netz, kommentiert »Telepolis«-Artikel, beklagt sich über ein längeres Zitat eines »Welt«-Artikels von ihm im «Perlentaucher« und entdeckt das genialische Pamphlet von Jürgen Nielsen-Sikora über den »kommenden Aufstand in Glanz und Elend«. Auch privates wird geboten (glücklicherweise nicht zu viel) und man liest erstaunt über die 122 km Fahrradtour um Wien, die man ihm nicht zugetraut hätte. Feste - unter anderem mit Hubert und Maria - werden gefeiert aber manchmal fressen die Jubiläen die Gegenwart auf. Betroffen ist Sloterdijk immer wieder von Krankheiten und Todesfällen von Freunden und Bekannten (Spuren ins Posthumien ist der erste Teil des Buches überschrieben). Besonders ergriffen ist er vom Tod von Hermann Scheer und vom zwei Jahre jüngeren Bernd Eichinger. Von Letzterem erfährt der Leser einiges.

Interessantes gibt es zum deutschen Ost-West-Verhältnis. Erst das Vergleichen mit dem Westen brachte im Osten die flächendeckende Unzufriedenheit, denn seit jeher war der soziale Vergleich eine unfehlbare Anleitung zum Unglücklichsein, so Sloterdijk. Die Ostdeutschen hatten ihre Schutzhülle, die DDR, jenes Internat für unteres Kleinbürgertum, verloren: Sie vergleichen sich jetzt, und halten die Wirkungen des Vergleichs nicht aus. Das nennt er mit gewohnt großspurigem Vokabular das psychopolitische Geheimnis. Vielleicht hätte er »Schutzhölle« schreiben sollen. Andere dezidiert innenpolitische Phänomene finden nur am Rande Erwähnung. Frank-Walter Steinmeier zeigt sich ihm als gänzlich anderer Mensch als in der medialen Wahrnehmung und wird gelobt. Köhlers Demission hält er für übertrieben, zu Wulff fallen ihm nur böse Bemerkungen ein (opportune Lager-Puppe vor der Wahl - Plastikbundespräsident danach). Seinen Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, seziert er kunst- und wirkungsvoll (da bedarf es des protzigen Etiketts mereologische Sumpfblüte eigentlich nicht mehr). Auch zeitgenössische Politiker fanden nur begrenzt Aufnahme. So wittert er bei Chavez Klientelismus von links und stellt Vergleiche zwischen Sarkozy und Napoleon III. an.

In die Niederungen des Boulevard begibt sich der Affekt-Experte nur einmal, in dem der Neoliberalismus aufs Deftigste anthropomorphisiert wird: Hätte der Neoliberalismus Titten aus Zement, er sähe aus wie Heidi Klum. Nicht nur in dieser Sentenz entfleucht aus der zumeist gut verschlossenen Phiole mit der Aufschrift »Verachtung« eine kleine Duftwolke. Da werden aus den Fußballspielern des FC Basel, die er im Hotel zu ertragen hat, junge, semi-depressive Proleten oder die Recherchen zur Doktorarbeit von Guttenberg als Verpöbelung eines universitären Prüfungsverfahrens durch einen inquisitorischen Mob denunziert. Lieber möchte er strenge, inneruniversitäre Richtlinien, die dann wie Tatsachenentscheidungen im Fußball mehr oder weniger sakrosankt bleiben. Überhaupt ist sein Verhältnis zum Internet eher ambivalent bis kritisch. So konstatiert er (womöglich zutreffend) eine gewisse ontologische Panik bei einigen Internet-Usern, die derart schwache Kandidaten fürs wirkliche Dasein seien, dass ihnen jedes Mittel recht sei, ihre Existenz zu beweisen. Zwar sieht er die Möglichkeiten des Netzes als Basis-Technik für die globale Demokratie, scheint aber unglücklich, dass es zu oft auf ein digitales Bahnhofsviertel hinausläuft, bestenfalls ein virtueller Hyde-Park, in dem jeder Erregte von seiner Gemüsekiste herab pestet.

Grüße aus »Illiquidien«

Sloterdijk beschäftigt sich ausgiebig mit der Finanzkrise, die sich dann im Laufe der Jahre zu einer Euro-Schuldenkrise auswächst. Souverän sei, so paraphrasiert er Carl Schmitt, wer über das Ausmaß des Ruins entscheide und an anderer Stelle wird der neue Kontinent Illiquidien entdeckt. Wenn er nicht über Banken und Unternehmen als neue Kategorie von Sozialhilfeempfängern spöttelt, erscheint ihm ab dem Frühjahr 2010 der Übergang in die Ära der Hypno-Politik als vollzogen: Die Hypno-Politiker haben sich einen Apparat von Thesen zurechtgelegt, mit deren Hilfe Evidenzen abgestritten werden. Politik wird betrieben mit der Einsicht: Zu labil sind die Verhältnisse geworden, als daß man sie vor dem Volk erörtern dürfte. Die Hypno-Allianz sucht in der europäischen Politik oder in der affirmativen Marktbeobachtung ihre raison d'etre. Dies führt dann dazu, dass die nicht mehr fraglich gemachte Wirklichkeit aufatme, sobald die Dethematisierung einsetzt; womöglich in Form eines leidlich tauglichen Empörungsthema. Interessant wäre es gewesen, wenn Sloterdijk den Bogen dieser aktuellen »Hypno-Allianz« zu den Parolendreschern des real existierenden Sozialismus Mitte/Ende der 80er Jahre gespannt hätte.

Aber Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, wenn sich nicht Stellen finden lassen würden, in denen er sich sanft widerspricht. So beklagt er einerseits die masseneinschläfernde, unehrliche Krisenbewältigungspolitik, andererseits spricht er über die Entzauberung des Volkes, die sich mit der Zeit in einer Demokratie einstelle: In den magischen Morgenstunden der Demokratie kann ein elanvoller Anteil des Volkes behaupten, das ganze Volk zu sein. Als Hort seiner Ganzheit spricht sich das Volksfragment selbst heilig. In der abgeklärten alten Demokratie haben alle Beteiligten begriffen, daß das ganze Volk nicht mehr ist als die Summe aller Klientelen.

Manche Beobachtungen sind von einer sprühenden Luzidität. Etwa wenn er über die Internationale Schifffahrtsorganisation IMO berichtet, die seit 1948 besteht und 169 Mitgliedsstaaten umfasst. Dort gibt es seit 1973 einen »Ausschuß für den Schutz der Meeresumwelt«. Sloterdijk decouvriert in wenigen Sätzen die Sinnlosigkeit dieser institutionellen Ebenen: In der Zeit seines Bestehens hat sich die Verschmutzung der Meere um den Faktor 100 vermehrt, als ob bewiesen werden sollte: Ausschüsse sind dazu da, damit sich unter ihrem wachsamen Auge die immer präziser erfaßten Probleme prächtig entwickeln. Man ist gerade gut genug ausgerüstet, um die Daten zu sammeln, die Anlaß zu Interventionen gäben, auf der praktischen Ebene steht sie jedoch der Exekutive zu fern, um ausführen zu lassen, was von der Beobachtung nahegelegt wird.

Es steht zu befürchten, dass diese Erkenntnis nicht nur für diese Institution gilt, sondern auch beispielsweise für die Europäische Union, denn Sloteridjks Besorgnis über die Zukunft Europas ist mit Händen zu greifen. Europa ist für ihn nicht nur demographisch ein aussterbender Kontinent. Heinsohns Thesen vom «youth bulge«-Phänomen verinnerlichend plädiert er als einzigen Ausweg gegen die Vergreisung des Kontinents für eine kontrollierte Zuwanderung. Hierfür erkennt er jedoch überhaupt keine Bereitschaft in der politischen Klasse in der EU; eher im Gegenteil. Spielerisch phantasiert er die Sicht der Nachwelt auf Europa, diesem Nationalpark Alte Welt der irgendwann zu einer Art Überschweiz verkommen dürfte, die irgendwann nur noch Bollywood-Filmemachern als Kulisse dient. Weitergesponnen auf die nächsten 200 oder 300 Jahren könnte Europa für die Mächte von morgen [das] sein, was Griechenland für das aufsteigende Europa war, ein mythisches Damals, mit dem Unterschied, daß die kommenden Machtkomplexe im Osten und Süden alles, was sie vom »Westen« übernommen haben, für ihre eigene Erfindung halten werden. Als Urbild des langsam absterbenden Kontinents dient ihm Venedig, was den Leser überrascht, denn der Topos »Untergang« in Bezug auf Venedig ist doch spätestens seit Thomas Manns Novelle Volkshochschulstandard. Später belustigt er sich noch an dem Gedanken, wie wohl Archäologen in 2000 Jahren die seltsame[m] Skelettfunde von Angehörigen der EU-Stufe einordnen würden: Die einen werden die Hypothese verteidigen, es handle sich um die Reste von modernen Menschen. […] Die anderen werden sagen, es seien Hominiden aus dem Weltall, die von einem Stern der Gehbehinderten aus die Erde kolonisierten. Im lustvollen Abgesang auf das demographisch und am überbordenden Sozialstaat untergehende Europa vergisst er nonchalant, dass auch China bereits jetzt ein vergreisendes Land ist und derzeit lediglich nur noch durch die schiere Masse seiner Bevölkerung ökonomische und politische Machtzuwächse auszuüben vermag.

Regentage in den Bergen

Über die Lektüre von David Everetts Buch über die Pirahã in Brasilien und deren Ablehnung den westlichen »Errungenschaften« (Religion; Kapitalismus), erfindet er den missionarischen Imperativ: »Ihr sollt euch von Gütern abhängig machen, die ihr bisher nicht gebraucht habt!« Eine Seite weiter wird über die Kulturpessimisten als mürrische gate keeper am Eingang zu den Schatzhäusern der Hochkultur gelästert, die spüren, daß niemand mehr durch das von ihnen bewachte Tor gehen will. 

Ansonsten wird auf zeitgenössische Lektüre etwas seltener Bezug genommen. Sehr freundlich gesonnen ist er in Bezug auf Stéphane Hessel als Person und Autor des »Empört Euch«-Büchleins. Angriffe auf dieses Buch, die mit mangelnder Komplexität argumentieren, beantwortet er mit bösen Attributen. Raddatz' Tagebuchband ist mit wenigen Ausnahmen mittlere Anekdote und Literaturgossip. Mit Thilo Sarrazin kann er wenig anfangen und attestiert ihm in Bezug auf das »Lettre«-Interview eine veritable Empathiestörung, die bei Verwaltungsfachleuten nicht selten sei. Er kritisiert jedoch den Umgang mit ihm und kontert im Rahmen seiner These, nach der sich die Gesellschaft immer mehr über mediale Empörungen definiert. Hysteriker sind auf der Suche nach einem Herrn, um ihn tyrannisieren zu können, heißt da und in Bezug auf Sarrazin merkt er an, dass das empathiefreie Reden regelmäßig als absichtsvolle Provokation mißverstanden würde. Der Skandal versetzt eine unwillkommene Verdeutlichung in den verwischten Zustand zurück. Was man Denkverbot nennt, ist meistens ein Deutlichkeitsverbot – man möchte die Dinge wieder in die gewohnte Trübheit tauchen. Sätze, die nicht nur in der aufkommenden Diskussion um den SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück ohne Änderung übernommen werden könnten.

Lustvoll notiert Sloterdijk Nachrichten von der antimodernen Front, wie er das Papsttum Benedikts und die allzu frommen Gottesverteidiger wie Robert Spaemann süffisant und mit wenig Sympathie bezeichnet (dafür jedoch eine Hymne auf Hans Küng anstimmt). Auch das Nein großer Teile der CDU zur Präimplantationsdiagnostik wird scharf attackiert. Da kommen nur noch die »Intriganten« der Frankfurter Schule noch schlechter weg. Das beginnt bei den Interventionen zur Verhinderung von Golo Manns Rückkehr aus dem Exil in den 60er Jahren (hier sieht Sloterdijk einen Missbrauch des Opferstatus durch Adorno und Horkheimer), setzt sich in der nachträglichen Goutierung von Hannah Arendts Urteil über Adorno fort und findet schließlich seine Fortsetzung im Streit mit Axel Honneth und dessen in ansteckender Talentlosigkeit vorgebrachter Kritik zu Sloterdijks Ausführungen zur Steuer- und Geberpolitik. Aber Deutschland war noch nie ein Debattenland, sondern eine Echokammer für Hysterien und Vorwürfe, aus denen keiner etwas lernt, außer wie man die nächste Runde sinnloser Aufregungen anzettelt. Nur scheinbar im Gegensatz dazu der Befund über die unverarbeiteten zeitweiligen Mao-Verherrlichungen bestimmter Alt-68er: Mit tiefem Verständnis gestand man sich gegenseitig zu, daß im Curriculum eines wahren Intellektuellen eine Saison bei den Mördern gehörte.

Aber auch der hochfliegende Ikarus droht zuweilen in eine veritable Melancholie zu verfallen. Im Regen auf dem Land sinke der Sinnspiegel und ein Regentag in den Bergen stellt viel in Frage. Fiebrige Überhitzungen des Weltallergiker[s] werden mit Aspirin und vor allem Ibuprofen therapiert; letzteres führt zu Verstimmungen. Es gibt veritable Stoßseufzer wie Wenn wir schon so unfähig sind, um wie viel unfähiger werden die sein, die auf uns folgen. Und gelegentlich blitzt bei dem Reservist[en] der Verzweiflung eine Spur Selbsterkenntnis auf: Schlimm ist der Autismus der Propheten, die über ihrer Mission die Koordination mit der Umwelt aus dem Auge verlieren. Was ihn nicht daran hindert, die Urteile der Anderen über sich maßvoll ironisch zu kommentieren und sie damit auf Distanz zu halten.

Was zählt, ist das gut Gesagte heißt es einmal. In »Zeilen und Tage« ist vieles »gut gesagt«. Sloterdijks barock-hyperbolische Opulenz ist selbst in den Momenten des Verirrenden und Verwirrenden noch um ein Vielfaches anregender als das übliche Meinungs-Geklingel aus der Sammelbüchse des Neusprech. Als Dreingabe vermisst der Leser lediglich eine oder zwei Ibuprofen gegen die manchmal arg ausgreifenden Bedeutungspirouetten. Die lapidare Aussage zu Beginn, dass weitere Editionen der Notizbücher nicht vorgesehen seien, wäre eher eine Drohung. Man hofft auf Einsicht – und den Verlag. Gregor Keuschnig

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

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Peter Sloterdijk
Zeilen und Tage
Notizen 2008–2011

Suhrkamp
Gebunden, 639 Seiten
24,95 €
ISBN: 978-3-518-42342-4



 


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