Rückprojektion der Politik der Gegenwart in die Geschichte der Vergangenheit
Der Bielefelder
Geschichtswissenschaftler und Hochschullehrer Reinhard Koselleck (1925-2003)
gilt als einer der profiliertesten deutschen Nachkriegshistoriker. Er kannte
englische und französische Quellen eloquent im Original und bekleidete,
überhäuft mit nationalen und internationalen Preisen, Gastprofessuren von Japan
bis Chicago. Der Titel seiner Dissertation Kritik und Krise aus dem Jahre
1954, die seit 1973 aktuell in der 16. Auflage in einer Neufassung auch im
Suhrkamp Verlag erscheint, ist kausal zu lesen: Die Krise der Moderne werde erst
durch die Kritik der Aufklärung an der Monarchie in Gang gesetzt und nicht
umgekehrt von dieser ausgelöst. So lautet die erzkonservative These Kosellecks,
die er dann anhand eines ausgewählten Quellenstudiums der englischen und
französischen Aufklärer wie John Locke, Denis Diderot, Jean-Jacques Rousseau
oder Anne Robert Jacques Turgot deutlich machen will.
Die absolutistische Ordnung löst im 17. Jahrhundert in Europa, ausgehend von
England, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation des Kontinents ab. Sie
gerät in der Folge durch den Aufstieg des Bürgertums und dessen Ideologie als
Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit nun aber erst recht in einen Strudel der
Gewalten. Die Ordnung, die Thomas Hobbes als Reaktion auf die Englische
Revolution und den Bürgerkrieg zur Vorbeugung gegen die
Klassenauseinandersetzungen in seinem Leviathan 1651 gefunden hatte,
wurde einhundert Jahre später von den Aufklärern angegriffen. Das erfolgte
zuerst durch eine dualistische Trennung von der zurückhaltenden Kritik am
Monarchen und am Staat, die sich im moralischen Feld der Menschlichkeit und der
Menschenrechte in den Salons und den Geheimgesellschaften der Freimaurer und
Illuminaten entwickelte. Bald aber entblöße die ethische Kritik ihre bösen
politischen Fangzähne und bereite die Revolution vor: Geschichtsphilosophie
ersetze die gute Ordnung des Adels und des Klerus mit ausbalancierten Freiheiten
und Pflichten der Untertanen durch eine vage ideologische Utopie der
Gerechtigkeit im Namen des Humanismus. Das läute das Zeitalter der
Neutralisierungen und Entpolitisierungen ein. Als Schreckgespenst leuchtet hier
Kosellecks und Carl Schmitts Furcht vor der Revolution am politischen und
historischen Horizont des konservativen und antidemokratischen Weltbildes.
Koselleck liefert damit eine fundamentale Position gegen die Aufklärung, die er
aus seinem politischen Konzept auf die historischen Quellen zurücküberträgt und
diese danach ordnet. Von Horkheimers und Adornos Schrift Dialektik der
Aufklärung von 1947, unterscheidet sich sein Ansatz dadurch, dass er an der
Aufklärung kein gutes Haar lässt und den Absolutismus und seine späteren
Modernisierungen als Gegenrevolution verteidigt. Er steht damit für die
konservativen nationalen Regime in Italien, Russland, Spanien und Deutschland
ein, die zwischen den beiden Weltkriegen unter dem Namen Faschismus bekannt
geworden sind. Das offen zu sagen, hütet Koselleck sich freilich 1954 genauso
wie später.
Sein Buch, das er haarklein mit Schmitt durchspricht, steht damit in einer Front
gegen die Französische Revolution ebenso wie gegen den Kommunismus in seiner
Epoche. Jürgen Habermas schlussfolgert 1960 in einer Besprechung, jetzt wüssten
wir, was Carl Schmitt über die Lage dächte.
Dieses Urteil ist, obwohl Habermas es anscheinend in späteren Versionen seines
Textes nicht mehr wiederholt, durchaus wörtlich zu nehmen.
Die Stimmung in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
Springen wir zum
besseren Verständnis zurück in die 1950er Jahre. Die Korreferenz der Arbeit
übernimmt der immigrierte Heideggerschüler Ernst Löwith, dessen Urteil Koselleck
fürchtet. Die inhaltlichen Hauptbezüge aber bilden Carl Schmitts Schriften
Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938) und seine
dezisionistischen Rechtfertigungen der Gewaltmaßnahmen in Die Diktatur
(1921), Der Begriff des Politischen (1917/23) und Der
Nomos der Erde (1950). Um einen „europäischen Bürgerkrieg“ zu verhindern,
ist beiden jedes Mittel recht, um die absolute Monarchie des Ancien Regimes und
ihre säkularen Formen als Diktatur à la Mussolini, Franco und Hitler zu
verteidigen. In der Beurteilung Hitlers sind sich beide ebenfalls einig: Er habe
den Zweiten Weltkrieg verloren und damit in der Durchführung der
Konservativen Revolution versagt. So finden sich nach 1945 diese Deutschen
mit ihren Großmachtträumen von Land-, See- und Luftkriegen als Besiegte wieder.
Sie hoffen wie bereits nach dem Verlust des Ersten Weltkrieges auf eine erneute
Erstarkung des Deutschen Reiches. Daher will sich Koselleck wie Schmitt nicht
der Version der Siegermächte von der Befreiung Deutschlands beugen. Die
Bezeichnung halten er und seine Heidelberger Gruppe für Feindpropaganda.
Gründlich gegen Aufklärung und Demokratie
Koselleck setzt dagegen
auf die europäische Ordnung des Reiches vor der Französischen Revolution.
Dafür will er die moderne Geschichtsphilosophie als Propaganda für die
Revolution brandmarken: die englischen Liberalen, die französischen
Enzyklopädisten, die deutschen Freimaurer griffen den absolutistischen Staat an.
Sie wollten mithilfe ihrer Ideologie des Fortschritts und des moralischen
Menschenrechts verdeckt eine neue Machtkonstellation einrichten. Wie Friedrich
Nietzsche schaut er nicht auf die vorgeblichen „Werte“ der Bewegung, sondern auf
den dahinter wirkenden Willen zu Macht. Koselleck interessiert „der Dualismus
von Recht und Moral“, den er auch von Hegels Herr und Knecht-Dialektik entlehnt,
zunächst bei Hobbes und Locke und dann wieder etwa ab 1750 in Frankreich.
Gleisnerisch berufe sich der französische Ökonom und Minister Turgot (1727–1781)
auf eine gewaltfreie Position der Reformer gegenüber dem Staat. Das geheime Ziel
des Umsturzes als das Arcanum der politischen Revolution sei der taktische
Anfang vom Ende der Monarchie. Geheim, gemein und dennoch politisch geplant,
setzten die Literaten der Salons und die Geheimgesellschaften der Freimaurer ihr
enigmatisches Ziel durch. Entsprechend sind Kosellecks Gegner, die er in
Deutschland angreift, Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant oder Friedrich
Schiller.
Zurück in die Zeitlinie, welche die Zukunft verändern soll
Der heutige Leser reibt
sich beide Augen – das eine, das auf das 18. Jahrhundert gerichtet ist und das
andere, das auf die 1950er Jahre schaut: Dieser Ansatz soll die Position des
wichtigsten deutschen Nachkriegshistorikers widerspiegeln? Aber das ist doch
pure Reaktion und Revanchismus im Namen von Monarchie und Diktatur! In der Tat
werden bei Koselleck wie bereits bei Carl Schmitt der Antikommunismus und die
Furcht vor der „Roten Gefahr“ aus seiner Epoche auf die Zeit um 1750 projiziert,
in der die Aufklärung begann. Wie in einem Film der Serie Raumschiff
Enterprise will Koselleck in die von ihm „Sattelzeit“ genannte Periode
zurückreisen, um zumindest theoretisch den Ereignishorizont zu verändern und so
die Französische Revolution und ihre Folgen zu verhindern. Eine zweite Zeitreise
gilt dem Zweiten Weltkrieg, der fortzuführen statt zu beenden sei. Das
historische Thema ist für ihn 1954 der Schleier vor dem Kampf der Ideologien als
Fortsetzung der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus.
Von dieser Position weicht er auch in seinen späteren Schriften nicht ab. Es
gelingt ihm aber, sein Arcanum hinter einem Begriffsapparat zu verbergen.
Was er den Freimaurern und den demokratischen Clubs vorwirft, praktizieren er
und die Seinen in Wirklichkeit selbst. Das bildet neben dem tiefsitzenden
Antikommunismus den Schlüssel zu seinem Werk, das damit eine Reaktionsbildung
darstellt. Am Anderen wird vorgeblich bekämpft, was er in Wahrheit an
geheimbündlerischer Aktion als Unterseeboot der Gegenrevolution, das offiziell
ganz oberirdisch in demokratischen Gewässern kreuzt, selbst betreibt. Dass er
dafür mit Orden wie dem Reuchlin-Preis oder dem Sigmund-Freud Preis
für wissenschaftliche Prosa geehrt wird, besitzt etwas von der
unfreiwilligen Ironie der Verleihung des Friedensnobelpreises an Henry Kissinger
1972 noch während des Vietnamkrieges.
Lieber tot als rot
Koselleck zäumt für
seine Theorie das Pferd von hinten auf: Die Kritik der Monarchie soll selbst das
Problem und der Auslöser der Krise sein. So aktualisiert er die klassische These
der Gegenrevolution der de Mestres, Bonalds, Hans Freyers, Carl Schmitts und
Ernst Jüngers. Dass ein solcher antidemokratischer und gegen das Grundgesetz
gerichteter Ansatz in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik anscheinend ganz
normal und reputierlich schien, ist schon schlimm genug. Aber dass Koselleck mit
seiner Position, die nun rechts von der AfD und der NPD zwischen Björn Höcke und
Götz Kubitschek angesiedelt ist, bis heute noch Meriten innerhalb der
Geschichtswissenschaft erwerben kann und seine Anhänger ihn und seine
antidemokratische Gesinnung verteidigen, lässt doch sehr am Stand der
Demokratisierung dieses Universitätsfaches zweifeln. Krise und Kritik –
im Untertitel: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt – will
augenscheinlich die Citoyens als Kranke klassifizieren. Sie ist als
antikommunistische Propaganda auch dann zu erkennen, wenn man weder Sympathie
für den terreur oder den Antisemitismus der Französischen Revolution noch
für die Moskauer Prozesse des Stalinismus hegt. Die Staatsraison, von der
Koselleck wie selbstverständlich ausgeht, ist die Hallstein-Doktrin: den
Kommunismus auf jede erdenkliche Weise aufzuhalten.
Damit schließt sich ein Kreis. Mit den gleichen Motiven und Methoden von
Kritik und Krise 1954 befasst sich Koselleck auch in seinem letzten Buch
Geronnene Lava, das 2023 posthum herausgegeben wird. Es handelt vom
Reiterdenkmal als ewigem Symbol des Absolutismus, auf das auch die ephemeren
Mahnmale für die Unbekannten Soldaten, die mit der Französischen Revolution
entstehen, immer noch ausgerichtet blieben. Der gute König des Ancien Regime wie
Henri Quatre (1553-1610) reite danach gleichsam außerhalb der
Geschichtsphilosophie stellvertretend für die Menschen aller Epochen. Die
Monarchie, die sich anschließend zur Diktatur weiterentwickelt, sei daher die
gerechteste Regierungsform. Sie entspreche dem Entwicklungszyklus aus Platons
Staat, wo auf den Despotismus zwar die Demokratie folge, auf diese aber auf
organische Weise die Diktatur, um das mit der Demokratie verbundene angeblich
unvermeidliche Chaos einzudämmen. Solche Kausalität wird beschworen, während
eine historische Ableitung der Entstehung des Nationalsozialismus unmöglich sei:
hier wirke nun ein Okkasionalismus der zufälligen Ereignisse. Das ist Kosellecks
Position im Klartext.
Geschlagene Soldaten als alte Männer
Koselleck war darin
erfolgreich, seine wirkliche Gesinnung nicht offen zum Vorschein zu bringen und
hinter seine zweideutigen Formeln und Begriffen dennoch getreulich an ihr
festzuhalten. Er bleibt dabei selbst ein Geschlagener, der – 1945 als Gefangener
der Russen nach dem Holocaust zu Aufräumarbeiten in Auschwitz interniert – nicht
verstehen kann, dass vor ihm dort andere Menschen ein sehr viel schlimmeres
Schicksal erleiden mussten. Sein Begriff der „primären persönlichen Erinnerung“,
den er gegenüber einer nur erzählten Geschichte aufrechterhalten will, ist eine
Verschiebung des Sprichworts, wonach das Hemd einem näher sitze als der Rock.
Der Band Geronnene Lava enthält autobiografische Zeugnisse, die Hinweise
auf ein entsprechendes Trauma geben.
Man findet dort auch Interviews, wo ihm wohlmeinende Journalisten und
Historikerkollegen naive Fragen zu seiner persönlichen Haltung zum Dritten Reich
oder zu Hitler stellen. Die Interviews enden absurd, denn diese Fragen setzen
bei ihm eine demokratische und antifaschistische Haltung voraus, über die er
nicht verfügt. An ihnen lässt sich umgekehrt ablesen, wie gut es ihm gelungen
ist, seine wahre Position zu verstellen, die er bereits in Kritik und Krise
erfolgreich historisch verkleidet.
Koselleck gehört als
spätes Mitglied, aber gleichwohl noch als Kriegsteilnehmer, zu der Riege der
trotzigen, aber schlauen Rechten wie Ernst Jünger, Carl Schmitt, Carl Gustav
Jung, Harald Schultz-Hencke oder Karlfried Graf Dürckheim. Sie als das zu sehen,
was sie sind, fällt oft genug durch die Maschen der arglosen Gutmenschen, die
sich bis heute ein harmloses Bild von der Dimension des Faschismus erlauben.
Artikel online seit
07.11.23
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Reinhart Koselleck
Kritik und Krise
Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt
stw
Broschur, 248 Seiten
20,00 €
978-3-518-27636-5
Leseprobe & Infos
weitere Bücher:
Reinhart Koselleck
Geronnene Lava
Texte zu
politischem Totenkult und Erinnerung
Herausgegeben von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana
Markantonatos
Suhrkamp
572 Seiten
38,00 €
978-3-518-58796-6
Leseprobe & Infos
Reinhart Koselleck,
Carl Schmitt
Briefwechsel 1953-1985 und
weitere Materialien
Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase
Suhrkamp
459
Seiten
42,00 €
978-3-518-58741-6
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Siehe auch unseren Beitrag:
Ein
Begriff der Geschichte mit Schlagseite zum Bürgerkrieg
Reinhart Koselleck
wiedergelesen.
Von Wolfgang Bock
Text lesen
»Die Texte entstanden aus
den damaligen Debatten und sind heute selbst historisch. Sie weisen eine
deutlich konservative Physiognomie und Hartleibigkeit auf, die bis ins Lager der
Holocaustleugner reicht.«
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