Gerechtigkeit für die Toten?
Der Suhrkamp Verlag
bringt 2023 einen Band mit dreißig längeren und kürzeren Texten des 2006
verstorbenen Bielefelder Historikers Reinhart Koselleck (1923-2006) heraus. Er
ist um die Beiträge Kosellecks zur Denkmaldebatte, Erinnerung und Totenkult
zentriert, die um 1990 mit der Umgestaltung der
Neuen Wache
in Berlin einsetzt, die 1993 zur Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik
Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft umgewidmet wird. Der
Diskurs findet mit der Einweihung des Holocaustmahnmals 2005 ein vorläufiges
Ende. Koselleck bezieht frühzeitig Position für ein sogenanntes „Tätermal“. Er
wirft der Jüdischen Gemeinde vor, sich damit ein Vorrecht vor den anderen Opfern
des NS, wie die Roma und Sinti, die Homosexuelle, die Euthanasierten, die
Angehörigen der slawischen Völker, die politischen Gefangenen und die
WiderstandskämpferInnen und andere ergattert zu haben. Darüber hinaus finden
sich detaillierte persönliche Notizen zur Erinnerung an seine Zeit als Soldat
und Kriegsgefangener, die in die gleiche Richtung weisen.
Das Ende
der Sattelzeit. Eine Geschichte der Toten und der Reiter
Mit großer Verve
diskutiert Koselleck in verschiedenen Beiträgen die Geschichte der Reiter- und
Kriegerdenkmäler. Er entwirft darin eine Theorie der gewaltsam ums Leben
Gekommenen, derer gedacht werden sollte. Als Struktur seiner Argumentation
kristallisiert sich für den Leser bald heraus, dass die Denkmäler der
Unbekannten Soldaten,
die zuerst in der Französischen Revolution aufkommen, Nachfolger von
monarchischen Reiterdenkmälern sein sollen. Koselleck will zeigen, dass die
Gebeine des Unbekannten Soldaten wie auch dessen symbolische Hohlform noch mit
den dynastischen Reitern verbunden blieben, die sie nun ersetzen. Die Reiter
stünden im Rahmen der Monarchie, die von der kämpfenden Aufklärung angegriffen
wurde, noch für eine übergeordnete Verbindung von Tod und neuem Leben. Denn im
ewig reitenden König werde das Sterben erlitten und die Erneuerung gefeiert.
Dieses Verhältnis verändere sich mit den politischen Denkmälern der Aufklärung.
Der Tod träte in der Säkularisierung nun in den Dienst der jeweiligen Nation.
Dieses Prinzip finde sich als übergreifendes europäisches Konzept bei den
ansonsten sich bekriegenden Gegnern in Polen, England, Deutschland oder
Frankreich wieder. Es ist die alte Reichsidee, die in der Moderne aber
zerschlagen wurde, die als verbindendes Element hier auftaucht. Die Monarchie
bilde immer noch das Muster, auf das die Aufklärung auch in der Bildsprache
ihrer Denkmäler bezogen bleibe. Diese falle als Ganze in ihrer vermeintlichen
gesellschaftlichen Fortschrittsbewegung substanziell hinter die
konstitutionellen Monarchien zurück. Anders gesagt, das christliche Motiv der
Wiederauferstehung in Gerechtigkeit eigneten sich die in der Neuzeit entstehende
Nationen unberechtigterweise an. Damit würden die Toten funktionalisiert. Das
Argument steht mit Kosellecks Abrechnung mit den verfassungsrechtlichen
Vorstellungen der Revolutionäre in Verbindung, wie er 1959 sie in seiner
Doktorarbeit
Kritik und Krise
dargelegt hatte.
Totenmal
1990
Diese Motivlage
bildet den Hintergrund aller Beiträge des Bandes. Ganze Kaskaden von
Denkmalsbeschreibung verschiedener Epoche und Länder werden von ihm aus seinem
Privatarchiv geholt und aufgeführt. Er entwickelt eine Ikonologie, die er mit
den Kunsthistorikern Max Imdahl und Martin Warnke diskutiert und unter anderem
in zwei Vorträgen im Hamburger Warburg-Haus vorstellt. Kosellecks Hauptvorwurf
gilt dann dem 1993 von Helmut Kohl sanktionierten Denkmal der
Neuen Wache:
Unter den Linden
findet sich nun im Innenraum des Schinkelbaus die Inschrift: „Den Opfern von
Krieg und Gewaltherrschaft“ vor einer vergrößerten Statue („Pietà“) von Käthe
Kollwitz als zentrale Gedenkfigur. Hier würde fragwürdig mit einem zeitgemäßen
Opferbegriff umgegangen, meint Koselleck: In der Nazizeit sei das Opfern für
Deutschland noch aktiv und positiv konnotiert gewesen, was inzwischen passiv
erlitten werden solle. Alle seien nun Opfer, keiner Täter, nennt er richtig den
Widerspruch. Seine Kritik gilt der Symbolik: Das Original der Figur stamme aus
dem Ersten Weltkrieg und zeige die Figur einer trauenden Mutter ihres freiwillig
in den Krieg gezogenen Sohnes. Dies reiche als Repräsentation der Toten des
Zweiten Weltkrieg nicht mehr hin. Unter diesen befänden sich mindestens so viele
zu beklagend Frauen, die durch Vertreibung, Zwangsarbeit und die Luftangriffe
umgekommen seien. Überdies handle es sich um eine christliche
Wiederauferstehungsfigur, sodass das jüdische Gedenken dort keinen Platz finde.
Zu
dieser Argumentation der mangelnden Möglichkeit zur Identifikation mag man
stehen, wie man will; Koselleck jedenfalls will daraus ableiten, dass er ein
einheitliches Denkmal haben möchte für die Opfer des Stalinismus und der
NS-Herrschaft, in dem die Deutschen als Täter auftauchen und keine nach
Opfergruppen gestaffelten diversen Denkmäler. Diese wäre zudem der Ordnung im KZ
nachempfunden. Was dann 1993 auch in Reaktion auf die Rede Richard von
Weizsäckers von 1985 mit der
Neuen Wache
geschaffen wurde, befriedigt ihn also nicht, wenn auch nicht, um die Deutschen
als Täter herauszustellen. Es geht ihm vielmehr um die deutschen Toten, die für
etwas anderes gestorben seien. Ruhelos macht er Vorschläge, ergreift
Initiativen, schreibt Artikel, gibt Interviews und liefert auch Beiträge im
Expertengremium, das für die Errichtung des Holocaustmahnmals in Berlin
zuständig ist. Seine Stimme aber wird nicht gehört. Was aber treibt ihn wirklich
an?
Zweimal
Auschwitz
Warum Koselleck
sich dermaßen wie eine moderne Antigone für die in seinen Augen
unterrepräsentierten Toten engagiert, wird klarer, wenn man im zweiten und
dritten Teil des Bandes die Artikel und Interviews zu seiner Familiengeschichte
liest und sich seine persönlichen Notizen dazu anschaut. Koselleck stammt
anscheinend aus einer Familie, die im 18. Jahrhundert aus Böhmen kommend und,
wie man den wenigen Andeutungen entnehmen kann, in Schlesien in der damaligen
polnischen Adelsrepublik, die von 1569 bis 1795 bestand, Aufnahme fand. Dort
entwickelt sich die Vaterlinie des Namens Koselleck, der stolz polonisiert
wurde. Kosellecks Vater Arno (1891-1977), in der Niederlausitz geboren, war
bereits Professor für Geschichtsdidaktik und Leiter der 1930 gegründeten
Pädagogischen Akademie
in Kassel. Die Akademie musste schließen, er war vier Jahre arbeitslos und wurde
ab 1934 in Saarbrücken erneut angestellt, wo Reinhart Koselleck aufwuchs und den
NS miterlebte. Als Schüler wurde er Mitglied der „Reitende Hitlerjugend“ und
nutzte die Möglichkeit, dort auch Schießen und Fechten zu lernen, wie er 1999 in
einem Interview zum Besten gibt. 1941 meldete sich freiwillig in den Krieg. 1945
entkommt er dem Tod im Kessel Mährisch Ostrau und
gehört zu den deutschen Kriegsgefangenen der
Russen,
die im zuvor geräumten Lager in Auschwitz die Industriegebäude
der IG-Farben abreißen. Von den Gaskammern erfährt er dann angeblich nur vom
Hörensagen. Wie seine Mitgefangenen hält er das Töten der Juden für
Propagandageschichten der Russen, die er auch nach dem Ende des Krieges
weiterhin als die Hauptaggressoren wahrnimmt. Erst später will er realisiert
haben, dass Menschen tatsächlich dort vergast wurden. Er nimmt diese
Informationen in seinem Schema aber als zweitrangig auf. Für ihn zählt nur, was
er selbst gesehen hat. Diese Haltung ist untrennbar verbunden mit seiner Rolle
als deutsche Soldat und Frontkämpfer, mit der Angst vor den russischen Gegnern
und dem Trauma des Überlebens als Kriegsgefangener im Lager Auschwitz nun
allerdings unter russischer Leitung.
Primäres
Erleben, sekundäre Erzählung?
Das führt zu einer
bestimmten Polarisierung: Nah ist ihm das persönliche Leben und Sterben seiner
Leute – ein Bruder kommt an der Front um und der andere stirbt während der
Bombardierung; fern – in zweiter Reihe, zwar aufnehmend, aber nicht so wichtig –
sind ihm die Berichte über die Vernichtung der Juden. Koselleck wäre nicht
Koselleck, wollte er daraus nicht gleich eine Theorie ableiten, die er
programmatisch „Primärerfahrung und sekundäre Erinnerung“ nennt. Für dieses
Verfahren findet er die Metapher der
geronnenen Lava,
wonach ein historisches Geschehen sich in den Leib der Zeitzeugen einbrenne.
Diese Art von Erlebnis will er zum Urphänomen der Geschichte machen. Zwar
leugnet er in diesen Texten nicht mehr wie noch in dem früheren Buch
Vergangene Zukunft
die Existenz der Konzentrationslager. Er verschiebt aber die Kunde darüber in
seiner Systematik auf ein Nebengleis, wo gegenüber dem selbst Erlebten über
diese Dinge nur aus zweiter Hand berichtet werden soll. Damit lehnt er die
historische Interpretation der Siegermächte Propaganda ab und hält an der
deutschen Version auch nach der Niederlage noch fest. Diese Position gelangt in
seinen Beiträgen zu der Denkmaldebatte zum Ausdruck.
Diese
Konstruktion einer unverändert starren Erlebnisstruktur im Gedächtnis ist
prekär. Denn die neurophysiologische Forschung zum Thema Gedächtnis zeigen, dass
dieses immer kollektiv und sozial bestimmt ist und die einzelnen Ereignisse a
priori nach Dingen sortiert werden, die nicht die Gedächtnisinhalte selbst sind,
sondern diesen erst einen Rahmen geben. Kosellecks Trotz und seine Weigerung,
sich im Gedenken an die Toten den Versionen der Siegermächte anzuschließen („Ich
war weder befreit noch Opfer“), folgt damit mitnichten einer generellen
Ablehnung eines kulturellen Gedächtnisses, wie er gegen dessen Protagonisten
Émile Durckheim und Maurice Halbwachs vorbringen will. Es handelt sich vielmehr
um eine Ablehnung des
Gedächtnisses der anderen
Kultur, die er
nicht als gleichrangig anerkennen will. Er spricht an vielen Stellen emphatisch
von einem „Wir“ und meint damit den kleinen Kreis seiner Familie und zugleich
den großen der vielen Millionen Soldaten, die sein Kriegs- und
Niederlagenerleben teilen. Zu den strukturgebenden Motiven seiner eigenen
Theorie gehört so das Programm des innerlich weiterlaufenden Propagandaapparats
des NS, das sich ihm anscheinend vor allem in den Leib eingebrannt hat.
Insbesondere aber wirkt hier das kollektive existenzielle Verhältnis, das der
Frontsoldat Koselleck zum Krieg hat. Was er glaubt, gesehen zu haben, könne ihm
niemand nehmen, meint er. Diese Vorstellung ist so stark, dass sie sich bei
Koselleck wider besseres Wissen und gegen eine im engeren Sinne historische
Erfahrung durchsetzt. Diese Erlebnisstruktur soll immer stärker sein als das,
was man durch Hörensagen kenne. Alles andere sei eine lügnerische Umerziehung
als Gehirnwäsche der Russen und Amerikaner. Er entwickelt mit allen Fasern
seiner trotzigen Existenz eine entsprechende Verleugnung und versucht sie zu
begründen.
Zeugnisse einer Erfahrungslosigkeit
Das ist deswegen
schwierig, weil man als Historiker hauptsächlich Quellen interpretiert und nicht
selbst als Zeitzeuge auftritt. Die eigentliche historische Erfahrung ergibt sich
aus dem Umgang mit den Quellen. Das heißt, derjenige, der die Quelle
interpretiert, gelangt urteilend zu einem anderen Ergebnis als derjenige, der
mit zusammengebissenen Zähnen immer nur seine Kriegserlebnisse beschreibt. Hier
tritt eine dritte Dimension in das Verhältnis ein, die die zweidimensionale des
Zeitzeugen notwendig ergänzt, aufklärt und erweitert. Mit anderen Worten,
Kosellecks „primäre Erinnerung“ ist eine ideologische Illusion. Der Psychologe
Andreas Heinz zeigt im Rückgang auf psychiatrische und erkenntnistheoretische
Quellen wie Ludwik Fleck, dass bei vermeintlich festen Erinnerungen kollektiv
verbundene Halluzinationen als Projektionen eingehen, die das Subjekt wie ein
eigenes Erleben verwendet. Diese vermeintlichen Erinnerungen sind so wenig
primär wie das „Leben“ in der späten deutschen Lebensphilosophie. Sie bleiben
Interessegeleitete Bilder, die das, was sie nicht enthalten, für unwirklich –
oder eben, was im Fall Koselleck das Gleiche ist, zu Tatsachen zweiten Ranges
erklären wollen. Das ist die klassische Position des Solipsisten.
Helmut
Kohls Ablehnung der Stimme der Vertriebenen
In dem Band
Geronnene Lava
finden sich biografische Hinweise darauf, dass Koselleck in der Diskussion um
die Denkmalkultur die Position der Vertriebenen stark machen will, ohne dass er
dabei zu radikalen wilden und handfesten Parolen griffe, wie wir sie früher von
Herbert Czaja kannten und heute wieder bei Alexander Gauland, Bernd Höcke oder
Hubert Aiwanger hören. Vielmehr liest er wie Carl Schmitt auch die Bücher des
Gegners, unter anderem das
Kommunistische Manifest.
Er findet einen Zugang dazu, der einen unbedarften Leser glauben lässt, es
handele sich um eine zustimmende Lektüre. Helmut Kohl dagegen, der nicht naiv
und zudem selbst Historiker war und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Alfred-Weber-Institut
in Heidelberg gearbeitet hatte, wo Koselleck sich habilitierte, hatte den Braten
gerochen. Er wird verstanden haben, warum er sich der Position Kosellecks nicht
nur in der Denkmalfrage verweigerte. Dessen Haltung, die in der Sache bis auf
die weniger radikale Sprache derjenigen der revanchistischen
Vertriebenenverbände entsprach, konnte Kohl nach der deutschen Einheit nicht
unterschreiben. So besetzte Koselleck eine Minderheitenposition und konnte sich
nicht durchsetzen.
Ein Kollege dagegen berichtet über seine erste Begegnung mit der
Neuen Wache:
»[…] mein
erster Besuch der Neuen Wache muß so 1994 im November gewesen sein, draußen der
Verkehr mit all seinen Touristenbussen, innen dann die großartige Mutter der
Kollwitz, und der Regen fiel durch die Öffnung über ihr, und mir schossen ob
ihrer Schutzlosigkeit die Tränen in die Augen. Das ist deutsche Herkunft in
einer Sekunde begriffen ...«
Was hier in wenigen
Zeilen kurz und prägnant beschrieben wird, ist eine Welt, die Koselleck
verschlossen bleibt. Für ihn ist das die Zumutung eines „Überschritts“. Damit
liegt der ungeschminkte Koselleck auf der Linie, die heute wieder mit Hubert
Aiwanger, den „Reichsbürgern“, der AfD und Bernd Höcke auch ohne deren primären
Erleben und rein von einem Hörensagen prominent wird. Das Thema des weiterhin
„besetzten Deutschlands“ ist etwas, was Koselleck wie die Reichsidee anscheinend
über all die Jahre mitgetragen hat. Er träumt in seinen Notizen von Russen als
Läusen und Walter Ulbricht, der ihn aus dem Flugzeug stoßen will und liefert so
Material ein, dass einer erlösenden Interpretation harrt und keiner sekundären
Verehrung durch seine Schüler. Das gilt auch für seine anderen Texte. Koselleck
stirbt 2006 traumatisiert und nimmt diese trotzige Haltung mit ins Grab. Er
betrachtet die Geschichte aus der Position seines Clans und seiner
Augenzeugenschaft. Darüber hinaus gelangt er nicht.
Artikel online seit 04.10.23
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Reinhart Koselleck
Geronnene Lava
Texte zu
politischem Totenkult und Erinnerung
Herausgegeben von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana
Markantonatos
Suhrkamp
572 Seiten
38,00 €
978-3-518-58796-6
Leseprobe & Infos
Siehe auch unseren Beitrag:
Ein
Begriff der Geschichte mit Schlagseite zum Bürgerkrieg
Reinhart Koselleck
wiedergelesen.
Von Wolfgang Bock
Text lesen
»Die Texte entstanden aus
den damaligen Debatten und sind heute selbst historisch. Sie weisen eine
deutlich konservative Physiognomie und Hartleibigkeit auf, die bis ins Lager der
Holocaustleugner reicht.«
Leseprobe & Infos
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