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Ein Begriff der Geschichte mit Schlagseite zum Bürgerkrieg

Reinhart Kosellecks Aufsatzsammlung »Vergangene Zukunft - Zur Semantik geschichtlicher Zeiten« wiedergelesen.

Von Wolfgang Bock
 

Sieger und Differenz
Reinhart Koselleck fragt in dieser Aufsatzsammlung nach der Bedeutung von geschichtlicher Zeit: Was macht das Moment an der Zeit aus, dass sich der Geschichte offenbart? Was unterscheidet solche geschichtliche Zeit von der messbaren astronomischen Naturzeit der Uhren und Kalender? So fragt Koselleck im Vorwort seines Bändchens Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Das Buch ist anscheinend ein Klassiker. Die Erstauflage stammt von 1989, die aktuelle zwölfte von 2022. Der Band vereinigt Aufsätze aus den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu verschiedenen Anlässen. Sie stehen jeweils in Verbindung mit Koselleck Arbeit am von ihm zusammen mit Otto Brunner und Werner Conze herausgegebenen Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe. Die Texte entstanden aus den damaligen Debatten und sind heute selbst historisch. Sie weisen eine deutlich konservative Physiognomie und Hartleibigkeit auf, die bis ins Lager der Holocaustleugner reicht. Koselleck stirbt 2006. In später veröffentlichten Büchern wie Erstarrte Lava von 2023 befasst der Autor sich anscheinend selbstkritischer mit seinen Begriffen und seiner Erinnerung. Ob das tatsächlich gelingt, soll Gegenstand einer späteren Besprechung sein.

Was wir hier vorliegen haben, stammt aus Kosellecks Großkampfzeit gegen die Studentenbewegung. Warum diese hinter der verschleiernden Begriffsfassade deutlich ressentimentgeladen Aufsätze 1989 veröffentlicht werden, bleibt rätselhaft. Koselleck steht in einer Kontinuität konservativer Historiker wie Ernst Nolte, Hermann Lübbe und vor allem Carl Schmitt, die eine rechte Auslegung Nietzsches fortführen. Die Geschichte soll zwischen einem unhistorischen Vergessen und einer überhistorischen Darstellung verortet werden. Sie und ihre Substanz werden zu einem Ausdruck dessen werden, was Nietzsche in anderer Lesart in Frankreich als chauvinisme, in Deutschland aber als deutsch kennzeichnet. Statt einer Bedeutung der Geschichte gelangt bei Koselleck vielmehr ein Wille zur Macht nach Elisabeth Förster-Nietzsche zum Ausdruck. Der muss sich zurückhalten, weil Deutschland nach dem Verlust des Zweiten Weltkriegs am Boden liegt. Koselleck grollt stattdessen wie Carl Schmitt. Es ist die Nachkriegszeit unter der politischen Ägide von Franz Strauß, Hans Filbinger und Alfred Dregger, die in solchen Begriffen wieder aufersteht

Germany under siege – gegen eine legitime Nachkriegsordnung
Es geht Koselleck um das Zustandekommen des Kollektivsingulars „Geschichte“, hinter dem viele erzählbare „Geschichten“ im Plural stünden. Damit bezieht er sich auf eine Verschiedenheit der Interpretation und wehrt sich gegen aufgezwungene Oberbegriffe seiner Wissenschaft. Er variiert damit einen Impuls der französischen Postmoderne. Wie Jacques Derrida in seiner Dekonstruktion sich gegen Hauptlinien der Interpretation sperrt, Michel Foucault auf einer anderen Lesart der Geschichte als Genealogie beharrt und Jean François Lyotard sich gegen die großen Erzählungen ausspricht, so will Koselleck den Konflikt zwischen Siegern und Besiegten in Deutschland und die Möglichkeit der Zustimmung oder Zurückweisung in den Begriff der Geschichte einbezogen wissen. Dass die Deutschen zuvor mit einem totalen Krieg begonnen hatten und nach dessen Ende als Verlierer wieder auf Regeln der Zivilisation zurückgreifen und nun Gerechtigkeit für sich beanspruchen wollen, steht auf einem anderen Blatt.

Bereits in seiner Doktorarbeit Krise und Kritik von 1959 macht Koselleck sich für ein anderes Votum stark als die Hauptlinie der Aufklärung, die etwa seit 1780 mit der Französischen Revolution dieses selbst und vielmehr eine soziologische in den Mittelpunkt auch der historischen Forschung setzt. Er weist auf die Zunahme von religiösen Hoffnungen in den Begriffen der modernen Geschichte hauptsächlich in den *-ismen wie Sozialismus, Kommunismus, Faschismus hin, welche umgekehrt proportional zum Erfahrungsgehalt der Menschen sich verhielten, für die er sprechen will. Unschwer fällt auf, dass Koselleck sich damit gegen einen Positivismus und eine Soziologisierung der Wissenschaftssprache wendet. Zwar bezieht auch er sich auf den französischen Strukturalisten Ferdinand de Saussure mit seinen Begriffen einer diachronischen und synchronischen Geschichte. Er selbst ist aber stärker an der Semantik interessiert und bringt auf diese Weise den deutschen Ansatz der Hermeneutik in die Wissenschaftssprache ein, die er damit gleichsam nun für sich und seine eigenen Zwecke kapert. Derrida entwickelt seine Methode, weil er sich als Algerier und Jude diskriminiert fühlt, Foucault war als Homosexueller von der Mehrheit ausgesperrt und drehte deswegen den Spieß der Interpretation von Normalität und Ausdruck um. Lyotard fand sich als Maoist nicht in der offiziellen großen französischen Vaterlandserzählung von Pierre Nora wieder und verlegte seine Methode auf die kleinen Narrative. Reinhart Koselleck indessen fühlte sich wie sein Lehrer Carl Schmitt diskriminiert, weil sein deutscher Wissenschaftsansatz aus der positivistischen Geschichtsvorstellung der Alliierten offiziell getilgt werden sollte. Das sind geweinte Krokodilstränen: in der Theorie wie der Praxis liefen die alte Wissenschaft in Deutschland ebenso wie die alten Personen weiter, wie nicht allein Wolfgang Fritz Haugs Hilfloser Antifaschismus aufzeigt. Es gab ja kein anderes Personal.

Die Aufsätze des Bändchens von Koselleck tragen damit zu der Diagnose bei, dass die alte Wissenschaft, nun im beleidigten Ton vorgetragen, auch noch in den sechziger und siebziger Jahren und danach in Deutschland ihren Platz hat. Koselleck beharrt auf Differenz also nicht aus Gründen der Minderheit – wie etwa auch die heutige LGBTQ-Bewegung –, sondern vielmehr aus Gründen einer Mehrheit, die angeblich niemand gefragt hat. Sie, so sein Ansatz, hätte einem Friedensvertrag nicht zugestimmt, der von den Alliierten als Siegermächte Deutschland befohlen worden war (der von den Hochkommissaren ergangene Auftrag an den parlamentarischen Rat 1948-49 ein Grundgesetz zu verfassen, wurde unlängst gefeiert). Historisches Vorbild des Trotzes gegen eine solche Nachkriegsordnung ist der Vertrag von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg, in der Sprache der rechten Historiker nur als das Versailler Diktat bekannt, gegen den der Faschismus sich erhob. Man hofft auf einen ähnlichen Effekt.

Alte Welt und prekäre Aufklärung
Koselleck setzt drei große Blöcke. Die Texte des ersten Teils machen die Leser zunächst mit seiner Methode bekannt. Der titelgebende Aufsatz „Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit“ beschäftigt sich mit im Verhältnis von Heilsgeschichte und säkularer Geschichte, wie er sich typisch in Zuge der Reformationskriege der frühen Neuzeit herausbildet. Carl Schmitt, seine Autoren wie Jean Bodin, Louis de Bonald oder Juan Donoso Cortés, und seine Welt sind dabei allerdings immer nur einen Steinwurf entfernt. Koselleck denkt in der Tradition von dessen politischem Modell, das die Hauptquelle seiner Begriffe abgibt. Tatsächlich verweist die Erstdruckangabe auf eine Festschrift zu dessen Ehren.

Begriff, Bild und alte Seilschaften
Der zweite thematische Block beginnt mit einem Stück zur Bestimmung von Begriffs- und Sozialgeschichte als Disziplinen, die ineinandergreifen. In Begriffen würden Kräfte formuliert, die Einfluss auf die Zukunft besäßen. Kosellecks Argumentation spielt sich offenkundig in dem Kontext des von ihm mit herausgegebenem Lexikon ab. Koselleck greift in der Sache auf eine affirmative Hermeneutik zurück, um Banalitäten wie die Bedeutung der Begriffe Staat, Bund, Demokratie etc. in ihrer Zeit und heute festhalten zu wollen. Bei allem Wortgeklingel wird dabei nur auch wieder das begründet, was Schmitt in seinen Studien zur politischen Theologie, Diktatur, zum Staat etc. macht. Kosellecks Text ist von 1973. Er zitiert Quellen wie Hermann Lübbe und sein Buch Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg-München 1965). Auch Lübbe steht der konservativen Revolution nahe. In „Darstellung, Ereignis und Struktur“ geht es dann um Überlegungen von 1973, die sich allgemein auf die französische Schule der Annales beziehen. Hier bezieht er sich zustimmend auf den reaktionären Romanisten, früheren SS-Mann und strammen Nationalsozialisten Hans Robert Jauß, dessen Aufdeckung als glühender Faschist auch noch während der Bundesrepublik erst in den 1990er Jahre einsetzte. Man bekommt also Antworten auf Fragen – frei nach Lessings Nathan, der Weise – nicht nur nach Kosellecks Konzept, sondern auch auf seine Ethik als Frage nach seinem Umgang: Auf wen bezieht er sich, mit wem redet er?

Verschobene Emphase und die Leugnung der Geschichte
In dieser Hinsicht ist im dritten Teil der Aufsatz „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“ symptomatisch. Dieser Aufsatz von 1975 untersucht auf fünfzig Seiten die rhetorische Form von dichotomischen Gegensatzpaaren. Koselleck nimmt sich solche Benennungen vor, in denen der andere sich nicht zustimmend wiedererkennen könne. Er untersucht Hellenen und Barbaren, Christen und Heiden und Unmensch und Übermensch. Dabei investiert er viele Seiten in das Verhältnis der Griechen zu den Wilden als räumliche („die außerhalb der Polis wohnen“) und der Christen zu den Heiden als zeitliche Struktur („aus den Sündern sollen Christen werden“). In der Neuzeit ist er nur an den zuschreibenden Begriffen der Aufklärung interessiert, die mit der Französischen Revolution in einen militanten Zustand überginge, nach dem alle Menschen sich zum Humanismus zu bekennen hätten. Damit spricht Koselleck richtig die ideologische Seite des terreurs der Aufklärung an. Die Möglichkeiten der Aufklärung zur Befreiung, die in den Begriffen auch enthalten ist, aber bleiben unterbelichtet. Das Kapitel über das Begriffspaar Übermensch und Untermensch beginnt mit Luther, geht über den Sturm und Drang zu Marx, der mit dem totalen Menschen identifiziert wird und gelangt bald zu Nietzsche. Erwähnt wird immerhin der Unterschied zwischen Mensch und Untermensch als Arier und Nichtarier in der nationalsozialistischen Sprache. Dabei fällt kaum das Wort Jude. Stattdessen heißt es:

»Was den Arier zu einem politischen Terminus machte, war das von ihm negierte Begriffsfeld, in das jeder Gegner nach Belieben versetzt werden konnte. […] Dass die Juden speziell gemeint waren, ging aus dem Begriff nicht hervor, sie wurden, in dem sie unter die Kategorie des Nichtarier fielen, zu einer potentiellen Nichtexistenz. (S. 257-258).«

So geschieht es den Juden auch in Kosellecks Text. Sie und ihre Vernichtung kommen kaum vor. Das treibende Politische in Kosellecks Aufsatz, dass er in den ersten Abschnitten ausführlich ausgebreitet hat, wird immer kleiner, je näher er der Nazizeit kommt. Die Konstruktion also, mit der Schmitt gerade die Naziideologie und ihre Blutlehre, freilich als politisches Urphänomen amalgamiert, rechtfertigen wollte, hält Koselleck für adäquate Begriffe, um eine überhistorische Kategorie einzuführen, die heute noch gelte. Vor allem das Ende des Aufsatzes verschiebt die Emotionen deutlich: die Differenz zwischen Wollen und Schaffen in der Geschichte will Koselleck, wie es angesichts des „größten Feldherrn aller Zeiten“ und seinem grandiosen Scheitern naheläge, nicht an Deutschland, sondern an England zeigen. Was die Deutschen dagegen mit ihrem angestrebten „Dritten Reich“ als Ende der Geschichte vorhatten, wird zwergenhaft und betont unbeteiligt abgehandelt. Es steht indessen als Elefant im semantischen Raum der Schriften von Reinhart Koselleck. Der Aufsatz endet mit einer jubilierenden metahistorischen Apologie des Begriffspaares Freund und Feind als politisches Urphänomen bei Carl Schmitt.

So wie der japanische Kaiser Akihito sich bis heute hinter verklausulierenden Sprachformen hütet, die japanischen Kriegsverbrechen gegenüber Korea, Indonesien oder China zuzugeben, so Koselleck und die Seinen in den Aufsätzen in diesem Buch diejenigen Deutschlands. Auch dafür steht seine Methode der Begriffsgeschichte. Statt einer wilden Formel von einer „Vergangenen Zukunft“, wie sie im Titel der Aufsatzsammlung angesprochen werden soll, liegt hier ganz simpel eine Vergangenheit vor, die nicht vergehen will. Dabei hätte es helfen können, zu erzählen. Denn es gibt durchaus ein persönliches Verhältnis zur Geschichte. Koselleck und Schmitt liefern intellektuelles Futter für die Bierzeltreden von Gauland, Höcke und Aiwanger. Auch hier gilt: getrennt marschieren, vereint schlagen.

Wie gesagt, gilt das Urteil für die Texte des vorliegenden Bandes. Ob die späteren Stellungnahmen differenzierter ausfallen, wird sich erweisen. Deutlich wird hier vor allem: Koselleck Kritik der Moderne besitzt eine solche Schlagseite, dass er darunter das ganze Schiff versenken will. Er fordert eine Konvergenz von historischer Erfahrung und Erwartung; dieses symbolische Verhältnis aber ist dem ancien régime eigen. Die Moderne dagegen lebt von der offenen Differenz von Zeichen und Bedeutung.

Artikel online seit 12.09.23
 

Reinhart Koselleck
Vergangene Zukunft
Zur Semantik geschichtlicher Zeiten
stw
Broschur, 389 Seiten
20,00 €
978-3-518-28357-8

Leseprobe & Infos


 

 

 


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