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Heldendämmerung?

Ulrich Bröcklings Zeitbild
»Postheroische Helden«

Von Jürgen Nielsen-Sikora


 

I Transformationen

Der Held (Ïρως, Halbgott) symbolisierte seit alters her ein Ideal und galt als Personifikation des Tugendhaften. In der Antike diente der Held, wie er etwa in der Ilias und der Odyssee des Homer dargestellt wird, als Vorbild (εκών) der moralisch legitimierten Handlungsweise des Menschen. Autorisiert wurde er durch den Glauben an eine göttliche Ordnung der Welt (κόσμος), aus der eine Ordnung der (politischen) Gemeinschaft (πόλις) abgeleitet war. Der Held entsprang der kulturellen Imaginationskraft dieser Gemeinschaft und war Symbolfigur antiker Tugenden wie der Tapferkeit (ανδρεία) oder der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη).

Die Legitimationskraft dieser Ordnung ist längst verloren. An ihre Stelle sind im Mittelalter zunächst die Ritter, in der Moderne dann der militante Heroismus der Frontsoldaten, nach 1945 schließlich zahlreiche, stark divergierende Quellen der Autorisierung getreten, die die Symbolfigur des Helden transformiert und zur Projektionsfläche moralisch getränkter und affektiv aufgeladener Diskurse gemacht haben, auf der heute soziale Konflikte, kulturelle Spannungen und politische Überzeugungen ausgetragen und medial inszeniert werden.

Das Spektrum dieser Helden-Inszenierungen ist breit gefächert, aber auf zwei wesentliche Typen reduzierbar: a) Helden des Alltags, die den Alltag auf eine besondere Weise meistern und sich hierbei als vorbildlich präsentieren (z.B. der tapfere Polizist, der sein Leben aufs Spiel setzt) und b) exzeptionelle Helden im engeren Sinne, die den Alltag, bestimmte Lebensgewohnheiten und Handlungsweisen selbst hinterfragen (z.B. Greta Thunberg, Carola Rackete, Edward Snowden).

Diese beiden neuen Typen des Heroischen sind jedoch keine unumstrittene Symbolisierung bestimmter Tugenden. Vielmehr werden moralisch strittige, ambige Aspekte der Gesellschaft der Gegenwart mit Bezugnahme auf jene Symbolfiguren neu ausgehandelt. Emotionalität und Argumentation, Vermarktung, Kritik und Idealisierung gehen hierbei Hand in Hand.

II Helden in postheroischer Zeit

Ulrich Bröckling, Kultursoziologe in Freiburg und begnadeter Essayist, nimmt sich seit Jahren der Figur des Helden an und hat eine überaus lesenswerte Studie veröffentlicht, in der der Held als Ausnahmegestalt portraitiert wird. Gerade in Krisenzeiten hat diese Figur Hochkonjunktur.

Bröcklings zentrale These lautet, dass es eine Gleichzeitigkeit von Heroisierungen und Deheroisierungen gibt. Dieser Parallelaktion spürt er nach, denn: »Weder sind heroische Subjektanrufungen bloß anachronistische Restbestände einer verflossenen Epoche, noch impliziert die Diagnose einer postheroischen Gegenwart, diese sei per se heldenlos oder heldenfeindlich. Beide Momente sind ineinander verschränkt.«

Doch was charakterisiert eigentlich einen Helden? Zunächst einmal hebt er sich von der Masse ab und bekräftigt damit eine gewisse »Vertikalspannung« (Sloterdijk) innerhalb der Gesellschaft.

Helden sind stets eine Minderheit. Wenn viele oder gar alle Helden wären, gäbe es überhaupt kein Heldentum mehr. Wie Bröckling betont, benötigen Helden Kontrastfiguren und Bestätigung (Publikum), aber auch Widerstand (Schurken). Helden liefern vor dieser Folie narrative Begründungsfiguren sozialer Kontexte und personifizieren Konformität durch abweichendes Verhalten. Sie sind Störenfriede, die eine für die Gemeinschaft akzeptierte Ordnung wiederherzustellen vermögen. Der Held bewältigt Gefahren: »Wer sich nicht in Gefahr begibt, ist kein Held«, schreibt der Philosoph Dieter Thomä.

Der Held symbolisiert zudem bestimmte Werte und erzählt eine Geschichte über moralisch richtiges Handeln. Diese Geschichten sind bedeutsam für die Mythenbildung des Helden (so markiert des Jägers Geschichte von der Jagd den Unterschied zum Sammler durch eine gewisse Dramaturgie der Erzählung, die Aufmerksamkeit zu erregen versteht). Der Held handelt unter dem selbstlosen Einsatz seines eigenen Lebens für die Gemeinschaft. »Helden«, schreibt Thomä, »gehen in Vorleistung.« Demokratien seien nicht zuletzt aus diesem Grunde auch auf Helden angewiesen.

In den Heldenerzählungen triumphiert der Protagonist am Ende über die Mächte des Bösen. Er ist die Ausnahme, die die Regel wieder in Kraft setzt. Bröckling nennt ihn zu Recht normensetzend, normerfüllend, doch auch Normen brechend, denn die Normüberschreitung ist in bestimmten Situationen geradezu gefordert, wenn es darum geht, eine Opposition gegen etablierte, verkrustete und fragwürdige Ordnungen zu führen und neue, zeitgemäße Gesetze und Ordnungen zu etablieren. Helden sind also, zumindest für die Dauer ihres Auftrags, Verkörperungen des gesellschaftlichen Fortschritts.

III Wer braucht heute noch Helden?

Kinder brauchen Helden, meint Bröckling, denn Helden kompensieren Ohnmachtserfahrungen und stellen Identifikationsangebote bereit. Somit trügen sie zur sozialen Reifung bei. Über die Identifikation mit Helden kann – in der Phantasie – der eigene Narzissmus ausagiert werden. Helden helfen Kindern als Protagonisten der Überwindung sozialer Konflikte zudem, Gut und Böse zu unterscheiden.

Was vom Helden verlangt wird, ist die Bereitschaft zum Selbstopfer. Das ist nicht immer leicht, denn »Helden sterben nicht im Bett«. Ihr Kampf findet auf den Schlachtfeldern gesellschaftlicher Spannungen statt. Verbindlich sei in diesem Kampf vor allem die Reinheit ihrer Motive: Man darf selbst kein Held sein wollen. Zum Helden wird man vielmehr von anderen gemacht. Im Hintergrund lauert permanent die Gefahr, in seiner Mission zu versagen oder unterzugehen. Ohne Erfolg aber gibt es keine Chance, ein Held zu werden.

Wie der Jäger vor Urzeiten, so war auch der Held der Vergangenheit fast immer männlicher Natur. Heute kompensiert er hingegen eher die »Risse im Gefüge männlicher Hegemonie«. Auch die Heldin sei aber im Grunde noch eine »Männerphantasie«, weil sie in ihrem Handeln auf männliche Attribute zurückgestutzt werde. Das ist zweifellos für das Konzept modernen Heldentums ein fragwürdiger Aspekt.

Hinzu kommt, dass es bei Heldengeschichten meist um eine radikale Vereinfachung der Sachverhalte geht. Denn Helden reduzieren insgesamt gesellschaftliche Komplexität auf die Differenz von Schwarz und Weiß. Sie erscheinen allerdings auch in dieser Reduktion äußerst wirkmächtig – und gleichen in ihrem Handeln hyperaktiven Kleinkindern: Immer unterwegs, immer das Ziel im Blick, immer in Action (im Gegensatz zum passiven Opfer). Gleichzeitig gehen sie gelassen an prekäre Situationen heran, die andere abschrecken, weil sie das Menschenmögliche zu überschreiten scheinen.

Der Held ist in seinen Aktionen stets ein Typus, betont Bröckling, niemals bloß individuelle Gestalt. Sein Stellenwert in der Gegenwart ist trotz allem nicht eindeutig geklärt, denn Hand aufs Herz: Wer braucht heute wirklich noch Helden?

IV Neue Heldinnen und Helden

Bröckling geht zum Schluss seiner Heldendiagnose auf die Alltagshelden und die moralischen Autoritäten, auf Vorbilder und Tugendhelden ein. Mit Ursula K. Le Guin will er die Helden vom hohen Sockel holen, ohne sie letztlich ganz aufgeben zu wollen. Aber es gebe eine Antiquiertheit des Helden: Da ist viel zu viel Pathos, zu viel Männlichkeit und Totenkult in den klassischen Heldensagen. Andererseits sei immer wieder eine Sehnsucht nach Helden zu verspüren. Der Held wird aus unseren Erzählungen nicht einfach verschwinden. »Jede Zeit wählt ihre Helden«, weiß Dieter Thomä. Wir leben in anderen Zeiten als ehedem, und in diesen sind nun einmal andere Helden als einst vonnöten: Der heroischen Vergangenheit stehe die postheroische Gegenwart gegenüber, glaubt Bröckling. Militanter Heroismus, das Schwelgen in Grausamkeit, Ernst Jüngers heroischer Realismus und die innere Aufrüstung sind Geschichten von vorgestern. Auch Joseph Campbells berühmtes Heldenbuch »Der Heros in tausend Gestalten« mit seiner Idee der Heldenreise, die zum Vorbild vieler Heldensagen in Literatur und Film geworden ist, taugt kaum noch für eine zeitgemäße Erzählung.

Spätestens seit 1945 sei der klassische Held moralisch fragwürdig, weil in demokratischen Gesellschaften Kriegs- und Abenteuerhelden kein Ideal mehr darstellen. Schon Rousseau hat zur Mitte des 18. Jahrhunderts versucht, das Heldentum vom Kriegstreiben zu lösen, zunächst vergebens.

Doch Helden haben sich inzwischen gewandelt und die Loslösung tatsächlich vollzogen. Demokratien brauchen andere Helden als kriegerische Staaten. So beobachten wir heutzutage etwa den Aufstieg von Sporthelden. Ein paradoxer Effekt, so Bröckling, weil diese Helden im Zeitalter von Deheroisierungsprozessen immer wichtiger zu werden scheinen. Ihre Ideale sind: Leistung, Unterhaltung, Kraft, Training, Intelligenz und ein gewisses Maß an Selbstoptimierung.

Auch die Inflation der Superhelden zeigt, dass es einen Bedarf gibt, Geduld, Furchtlosigkeit und Würde sichtbar zu machen. Mit ästhetischen Mitteln werden in den Superhelden-Sagen seit 1938 imaginäre Welten erzeugt, die ebenfalls Identifikationsangebote bereitstellen. Sie dienen – ob mit oder ohne Umhang –, wie der Superhelden-Nerd Dietmar Dath sagt, als Vergrößerungsglas des Individualismus: »Superheldinnen und Superhelden sind Nichtmenschen, die wir wider die Natur, gegen die Vernunft und Lebenserfahrung lieben, und die diese Liebe so rückhaltlos erwidern, dass in ihrem Namen gewaltige Taten getan, ungeheuerliche Leiden erlitten und ganze Gesellschaften zur Überprüfung ihrer obersten, sittlichen Grundsätze gezwungen werden.«

Let's see, wie Superman zu sagen pflegt: In der Identifikation mit dem Superhelden à la DC, MARVEL und IMAGE kann man ohne schlechtes Gewissen die eigenen Allmachtsphantasien ausleben, aber auch ungefiltert den eigenen Ressentiments nachspüren: »Die Eifersüchteleien, einander abwechselnde Phasen von Hochstimmung und Niedergeschlagenheit, die Cliquen, zusammengewürfelt aus grundverschiedenen Individuen, das Gefühl, man werde von den Erwachsenen nicht verstanden …, die Auflehnung gegen deren Ordnung« zeigten, so Dath weiter, dass Superhelden gar nicht so weit vom Lebensalltag eines durchschnittlichen Schülers entfernt sind. Alan Moore und Chris Claremont sei Dank!

Was also ersetzt heute die heroischen Anforderungen von einst, da das Zeitalter des Nationalismus und Militarismus, in dem Kampfbereitschaft und Heldentod von allen erwartet werden durfte, vorüber scheinen? Es sind zum einen die unsterblichen Heldenfiktionen von Batman und Wonder Woman über James Bond bis hin zu Harry Potter, zum anderen ist es die rationale Behandlung von Krisen und Chaos, das Managen einer Gesellschaft im Ausnahmezustand (wie derzeit im Angesicht des Corona-Virus). In diesem Kontext wird zwar weitestgehend auf Heldenposen verzichtet, doch die postheroische Gesellschaft sei nicht ohne einen Restbestand an traditionellem Heldentum überlebensfähig, schreibt Bröckling: Greta Thunberg, Carola Rackete, Elin Ersson und andere sind aktuell jene rebellischen Gegenheldinnen, die eine Umkehr traditioneller Heldenmodelle vollziehen – und sei es hin und wieder auch nur für einen einzigen Tag.

Die Heldengeschichten leben weiter, konstatiert Bröckling, weil sie »auf fortdauernde Interessen- und Affektlagen antworten«. Der Utopiebedarf ist also ungebrochen – das zeigt dieser glänzend komponierte und erhellende Text über das zeitlose Phänomen des Heldentums.

Artikel online seit 16.03.20
 

Ulrich Bröckling
Postheroische Helden
Ein Zeitbild
Suhrkamp
277 Seiten
25,00 €
978-3-518-58747-8

Leseprobe

Weitere Literatur zum Thema:

Dieter Thomä
Warum Demokratien
Helden brauchen

Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus
Ullstein
272 Seiten
20,00 €
9783550200335

Dietmar Dath
Superhelden
Reclam
100 Seiten
10,00 €
978-3-15-020420-7

 


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