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»Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken!«

Adornos gezielte Improvisationen vor dem deutschen Nachkriegspublikum.
Zum neuen Band mit Adornos Vorträgen 1949 1968, herausgegeben von Michael Schwarz.

Von Wolfgang Bock

 

„Hat mir ferngelegen – ist mir nahe gegangen!“
(Wolfgang Neuss)

Theodor W. Adorno hatte anscheinend eine Aversion gegen die freie Rede. Viele seiner gesprochenen Texte hat er nicht zum Druck freigegeben, ehe er sie nicht bearbeitet und das Manuskript wasserdicht gemacht hatte. Das ist sicherlich der politischen Situation nach dem Krieg in Deutschland geschuldet. Vielleicht verhält es sich aber auch so, dass was ihm angeblich zu fern gelegen haben soll, ihm im Gegenteil zu nahe war? Denn nicht nur erarbeiteten Max Horkheimer und er die Dialektik der Aufklärung und andere Texte mit Hilfe von diktierten Tonbändern, sondern möglicherweise ist diese Sphäre der Rede und ihre besondere Zugewandtheit an die Zuhörerinnen und Zuhörer gerade ein Reflexionsmedium, das den genuinen Kern der kritischen Theorie ausmacht. Vom jungen Max Horkheimer ist bekannt, dass er im Gespräch und persönlichen Umgang zu liebenswürdig gewesen sei – wegen seiner Probleme, einem Gegenüber nichts abschlagen zu können, hatte er sich 1927 mit Erfolg psychoanalysieren lassen. Es war dieser persönliche und sachliche Kontext, der die bestimmte Synthese von Marxismus und Psychoanalyse ermöglichte, die als interdisziplinärer Forschungszusammenhang die Frankfurter Schule konstituieren half.
Adorno dagegen sollte man eine solche persönliche Schwäche vordergründig nicht zutrauen. Wenn man allerdings die transkribierten Vorträge in der vorliegenden Ausgabe liest, so könnte einem doch auch ein entsprechender Verdacht kommen: Lust und Angst vor einem öffentlichen Vortrag mögen auch bei ihm eng zusammenzugehören, sich aber anders äußern. Bei den jetzt veröffentlichten Vorträgen merkt man ihm vor allen Dingen deutlich die Freude daran an, sich einem Publikum mit seinem Anliegen voll und ganz zuzuwenden. Beispielsweise sucht er in seinem Vortrag von 1954 über die Neue Musik dieses Publikum genau bei seinen Vorurteilen abzuholen. Er imaginiert sich wieder und wieder in es hinein. Und an anderer Stelle (in Die menschliche Gesellschaft heute, 1957) appellierte er sogar – ansonsten für ihn höchst ungewöhnlich – an den gesunden Menschenverstand im Publikum gegen einen falschen Glauben an die Wissenschaft:

Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf. Sie sollen sich nicht imponieren lassen, auch nicht von der Wissenschaft, sondern sich in Gottes Namen auf Ihren gesunden Menschenverstand verlassen, der heute längst nicht mehr mit der Wissenschaft ohne weiteres übereinstimmt. Lassen Sie sich nicht dumm machen, vor allem nicht einreden, daß, was da in der akademischen Welt gedeiht, nun ohne weiteres die höhere Einsicht vertritt, sondern denken Sie daran, daß, im Gegensatz zu der offiziellen Bildungswelt, in der des Volkes immer auch eine Tradition der Skepsis, der Ironie, des wachen Bewußtseins am Werke war, vielleicht die beste Quelle, um die Welt zu verändern, über welche die Menschheit heute überhaupt verfügt.[1]

Die öffentliche Sphäre der Ironie und des kritischen Bewusstseins zur Veränderung der Welt wird hier von ihm höchst emphatisch aufgerufen. Kurz, wir erleben Adorno hier nicht primär als geschliffenen Essayisten, sondern als ein genuines und improvisierendes Theaterkind vor dem deutschen Publikum der Nachkriegszeit von 1940 bis 1968, an dessen kritische und skeptische Seiten er appelliert. Und obwohl der letzte Vortrag damit mehr als 50 Jahre zurückliegt, sagt er viele Dinge, die bis heute unabgegolten geblieben sind. Das macht ihre Sperrigkeit aus. Sie liegen quer zur Idee einer vorwärtsstrebenden Zeit.

Ein zugewandter Adorno als politischer Redner

Adorno spricht in seinen Vorträgen auf Bildungsveranstaltungen, Symposien und Kunstakademien gegen die Erinnerungslosigkeit in Deutschland. Er tut das in einer politischen Tradition, die gerade nicht antiquarisch oder restaurativ ist. Und wir wissen, dass er – mit einem amerikanischen Pass und dem US-Hochkommissar im Rücken – auch das Chorsingen verbieten und mobile Aufklärungskommandos in die deutsche Provinz schicken wollte, um gegen die Dummheit des Landlebens aufklärend, umfassend bildend und ganz praktisch vorzugehen. In dem Band finden sich daher überproportional viele Vorträge zur Bildung, vor allem politischer Bildung, aber auch über Literatur, Neue Musik und Rechtsradikale. Die Texte sind durchweg durch die Einsicht getragen: „Ich überlasse Ihnen das zum Weiterdenken!“, wie es im Vortrag über Frank Wedekind heißt.[2] Er versucht damit der Quadratur des Kreises herrzuwerden, dass sich dieses Publikum, welches sich eben noch einen Herrn Hitler erwählt hatte, nun an seinem eigenen demokratischen Schopf aus dem zuvor sich selbst eingebrockten Sumpf ziehen müsste. Daran will er mittun, das ist sein Programm.

Vieles trägt Adorno frei vor, der verdienstvolle Abdruck der Stichworte zu den Vorträgen im Anhang zeigt, wie er gezielt er zu improvisieren versteht. Das ist also eine besondere Form. Er muss freilich auch die Erfahrung gemacht haben, dass er im Ablesen von Manuskripten weitgehend unverständlich geblieben ist. Das ist unser Glück, denn seine gesprochenen Vorträge sind sehr viel leichter aufzufassen als seine – man möchte fast sagen: schriftlichen Schriften und beleuchten diese im Nachherein. Das liegt an ihrem in der Rhetorik deutlicher vermittelnden und an die Sache heranführenden einprägsamen Charakter. Adorno spricht also nicht, wie es ein Vorurteil will, wie gedruckt, sondern anders. Das wird nicht zuletzt durch die Arbeit des Herausgebers Michael Schwarz deutlich, der für die schriftliche, bildliche oder akustische Überlieferung zuständig war und nochmals auf beispielgebende Weise weitere erläuternde Zugaben aus dem Nachlass und der Korrespondenz hinzufügt. So still wie diese Tätigkeit in der persönlichen Zurücknahme des Kommentators erscheint, so untergründig und mächtig bildet sie doch erst das Medium – nun in Schriftform – in dem Adorno umso mehr als Vortragsredner glänzen kann: ein Riese nun auf den Schultern von nur vermeintlichen Zwergen.

Kein neuer Adorno?

Dieser komplexe Zusammenhang wird nicht immer vollständig gewürdigt. Es gebe keinen neuen Adorno zu entdecken, befand jedenfalls dabei durchaus freundlich gesinnt der Politologe Alfons Söllner als Festredner auf der gut besuchten Vorstellungsveranstaltung des Bands in der Akademie der Künste am 19. 11. 2019 in Berlin. Um dann mit seiner Einschätzung fortzufahren, dass Adorno auch nicht zu den einflussreichsten Remigranten in Deutschland nach dem Krieg gehörte. Das sei immerhin sein eigenes Forschungsfeld und damit kenne er sich aus. Überhaupt habe Adorno keine rechte säkulare politische Orientierung. Er sei im Grunde immer der Typ des deutschen Geisteswissenschaftlers und Ästheten geblieben, der auf eine klassische geisteswissenschaftliche Weise die deutsche Kunstreligion vertreten und sich nicht wirklich auf eine politische Welt eingelassen habe. Der Germanist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma sprang ihm bei und fügte hinzu, dass Adorno trotz aller bekannten Meriten nicht zu den wesentlichen deutschen Germanisten – sein Forschungsfeld – gehörte. Reemtsma wiederholte damit eine Einschätzung, die er bereits 2003 vor einem anderen Publikum – nämlich auf dem Kongress in Frankfurt am Main zu Adornos 100-jährigen Geburtstag – formuliert hatte. Immerhin sympathisierten alle vorne Beteiligten des Abends – die beiden Damen Kerstin Hensel von der Akademie der Künste und Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag übrigens deutlich ambivalenzfreier mit Adorno. Reemtsma bekanntermaßen auch praktisch, indem er Forschungsinstitute und -archive finanziert. In diesen konnte dann der wahre Held des Abends, nämlich Michael Schwarz, als vorbildlich bescheidener Herausgeber seiner stillen Arbeit effektiv und routiniert nachgehen. Da kann man insgesamt nicht meckern.

Man fragt sich freilich, welche Vorträge die Kollegen dann tatsächlich gelesen haben mögen? Denn diejenigen, die in diesem Band versammelt sind, zeichnen sich nicht nur durch eine sich zum Publikum hingewandte Sprache und Geste im Allgemeinen aus, sondern vor allem dadurch, dass Adorno sich hier gerade ausgesprochen politisch zeigt. Obwohl er beispielsweise in seinen Einlassungen zum literarischen und dramatischen Feld wie Ad Proust oder über Wedekind oder auch in denen zur Neuen Musik tief in die ästhetische Sphäre eintaucht, so bleibt er doch dabei auch immer ganz politisch bewußt. So spricht er über Städtebau oder Bildung, zur Aktualität der Soziologie oder verteidigt den amerikanischen Begriff der culture dialektisch gegen die europäische Kultur.[3] Ähnlich auch bei der kritischen Erläuterung des Begriffs des Menschen und der negativen Anthropologie oder wenn er über die Ergebnisse der Vorurteilsstudien und der Arbeit über den autoritären Charakter redet: Immer und immer wieder verweist er auf die dialektische Verbindung der Sphären der eigenen Meinung oder der einzelnen Wissenschaften mit der allgemeinen Verfasstheit und den politisch sich wandelnden Bedingungen der Gesellschaft. So beispielsweise in dem Vortrag Der Begriff der politischen Bildung von 1963. Hier zeigt er, dass ein soziologisch ausgerichteter Sozialkundeunterricht an Schulen sehr wohl gegen die Symptome des autoritären Charakters impfe:

Die Wirksamkeit eines soziologisch orientierten Unterrichts in politischer Bildung auf die Strukturen des politischen Bewußtseins, die zeigt sich auch darin, daß in diesen Klassen, also denen, die was von Soziologie gelernt haben, die Neigung zu autoritätsgebundenen Reaktionen, die Disposition zu Vorurteilen, etwa dem antisemitischen oder dem negerfeindlichen, weitaus geringer ist als in solchen Klassen, in denen man sich nur mit formaler Politik oder politischer Geschichte befaßt und in denen soziologische Themen nicht vorkommen.[4]

Oder er spricht sich gegen eine falsche Formalisierung des Demokratiebegriffs aus:

Sie dürfen eben, meine Damen und Herren — und ich kann das nicht nachdrücklich genug sagen und deshalb wiederhole ich es —, die politische Form, unter der wir leben, mit dem realen gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschen nicht gleichsetzen. Man kann in einer Demokratie leben und kann trotzdem seinem Bewußtsein nach ganz und gar von Vorstellungen und Formen beherrscht sein, die mit der Demokratie, selbst wenn man sich sogar zu ihr bekennt, wie das sehr viele Menschen heute tun, unvereinbar sind.[5]

Daraus folge ein bis heute fatales endemisches Ressentiment gegen die Politiker im Allgemeinen:

Das genaue Korrelat zu dieser Vergleichgültigung oder Neutralisierung der Politik ist dann die Rancune, die in Amerika tief eingewurzelte und verbreitete Rancune gegen den Politiker, gegen den Berufspolitiker, die sich auch bei uns in Deutschland ganz deutlich anzeigt und in der so etwas steckt wie das Ressentiment darüber, daß, nachdem ich es nun nicht selber tue, was ich eigentlich selber tun müßte, daß dann der, der es besorgt, weil ich's ihm überlassen habe, daß der ein bedenklicher Mann sei, der mir eigentlich nur das Fell über die Ohren zieht.[6]

Hier benennt Adorno eine antidemokratische Tendenz, die im Schoß der Demokratien selbst heranwächst. Leider bleiben diese Einsichten aktuell. Ja, es handelt sich dabei um Beschreibungen von Zuständen, die gerade heute die bundesdeutsche Parteienlandschaft eruieren lassen. Zugleich bleibt Adorno ein überzeugter Demokrat und tritt für eine andere Politik ein. Diese sei zwar nach Marx der Teil des Überbaus, aber auch eine besondere Sphäre:

[…] die Politik ist die Gestalt der Ideologie, die in sich die Möglichkeit der Abschaffung von Ideologie enthält. Nun, wenn ich gesagt habe, daß Politik eigentlich als Soziologie zu bestimmen sei, dann bedeutet das immer zugleich auch, daß auf Grund der gesellschaftlichen Einsicht in die tragenden gesellschaftlichen Strukturen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der politischen Willensbildung eingegriffen wird.[7]

Wie man angesichts solcher eingreifenden Bestimmungen also auf die Idee kommen kann, hier von Adorno als einem traditionellen deutschen Anhänger einer Kunstreligion zu sprechen, muss dem Leser daher rätselhaft bleiben.

Der „olle Adorno“?

Einen neuen Adorno zu entdecken – das wäre unter solchen Umständen vielleicht auch zu viel verlangt, heißt doch einer seiner erfolgreichsten Essaybände bereits Eingriffe.[8] Wie wäre es dagegen damit, zunächst einmal den alten zu verstehen? Oder das bisherige Adornobild, dass man schon hatte, der neuen Konstellation anzupassen und nicht umgekehrt? Kann man da – in einer anderen Varianz von Hegels Herr-Knecht-Dialektik – vielleicht etwas von dem bescheidenen Gestus des Herausgebers lernen, der Adorno doch auch kennt, aber bei seiner Arbeit offenkundig immer klüger wird?

Aber hier sollen keine falschen Gräben aufgerissen werden. Das hieße in der Sache zunächst einmal den historischen Abstand zu uns Heutigen ernst zu nehmen und die Epoche direkt nach dem Krieg von dem heute noch Aktuellen dialektisch zu trennen. Adorno wird anscheinend bis heute in einer ebenso strengen wie fatalen Dichotomie zwischen einem verwerflichen Alten und zu rettendem Neuen, vorzüglich danach beurteilt, ob er akut – also wörtlich – aktualisierend gelesen werden kann oder nicht.
[9] So wurde in einer sehr erfolgreichen Sonderveröffentlichung des Suhrkamp-Verlages der Beitrag von 1967 Aspekte des neuen Rechtsradikalismus aus dem vorliegenden Vortragsband herausgenommen und in einem Vorwort, einem Kommentar und in anderen Erläuterungen auf die heutige Situation appliziert.[10] Daran ist viel Richtiges, denn Rechtsradikalismus und Antisemitismus erscheinen seltsam resistent der Zeit gegenüber. Aber vieles trifft hier unmittelbar auch eben nicht auf die heutige Zeit zu, auch dieser Vortrag Adornos ist deutlich auf seine Epoche bezogen. Wenn man die Texte des Vortragsbands liest, so ist der erste Eindruck daher keine Aktualisierung seiner Thesen, sondern der einer Zeitreise zurück in die Gründungsdekaden der westdeutschen Demokratie. Auch hier treffen wir auf eine verschlungene Rezeptionsfigur. Zugleich ist es eine Reise hin zu jemandem, der damals seiner Zeit so weit voraus war, dass er anscheinend bis heute noch neben der Spur liegt, auf die man ihn setzen möchte, um die eigene Orientierung nicht zu verlieren.

Adorno bleibt so oder so hauptsächlich ein Ärgernis. Ein Kollege – er hatte in Lüneburg studiert – sprach beispielsweise immer davon, dass dies und das bereits der „olle Adorno“ gesagt hätte. Eine solche Schablone scheint aber gerade bei Adorno keinen Sinn zu machen. So endet der erste Vortrag von 1949 über Urbanistik mit dem dringenden Appell, angesichts der zerstörten deutschen Städte nicht zwangsneurotisch alles wieder so aufzubauen, wie es war. Adorno fordert vielmehr einen progressiven kategorischen Bau-Imperativ: „Wir haben Avantgardisten zu sein.“ Gehört hat freilich damals kaum jemand darauf; die sogenannte zweite Zerstörung Deutschlands durch den Wiederaufbau unter maßgeblicher Beteiligung der Neuen Heimat hat er jedenfalls nicht verhindern können.
[11] Die Folgen sind bis heute zu spüren.

Widergänger statt Wiedergänger

Auch an Adornos Vorträge ist daher das hermeneutische Existenzminimum als Interpretationsschema heranzutragen, das doppelt fragt: „Was bedeuteten die Texte zu ihrer Zeit?“ – „Und was sagen sie uns heute?“ Das exerziert Adorno selbst in seinen Vorträgen über Marcel Proust (1954) und besonders über Frank Wedekind (1962) und die undialektische Aufhebung der Sexualtabus in Lulu durch. Die Dichte der Erkenntnis, die Adorno in diesen beiden Stücken präsentiert, ist meilenweit von dem entfernt, was beispielsweise heutige Regisseure unter der Flagge eines „Postdramatischen Theaters“ (Hans-Thies Lehmann) als zeitgenössische Interpretation von Lulu oder Ibsens Schloss Rosmersholm auf die Bühne meinen bringen zu müssen. Hier ist die Regression solcher Erkenntnis mit Händen greifbar und man möchte die Bühne stürmen, täten das nicht gerade die Schauspieler die ganze Zeit, statt sich einen einzigen Gedanken zu erlauben. Aber auch an anderer Stelle erscheint vor allem die Zeitdistanz dämonisch, weil voll von Wiedergängern anstatt von Widergängern – also von Leuten, die etwas identisch als readymade repetieren wollen, anstatt adaptierend die Lehren daraus zu ziehen.

Für den Vortrag über den Rechtsradikalismus bedeutet es, dass bis in die Sechzigerjahre hinein die Rechtsradikalen nicht von außen, sondern im Wesentlichen von innen, durch ein Besetzen der Posten im Regierungsapparat, in der Armee, im Geheimdienst und in der Bürokratie ihre größte Wirkung entfalteten. Das sieht zumindest für einige Jahrzehnte in der BRD nach 1968 etwas differenzierter aus, möchte man meinen. Seit 2015 wird aber anscheinend etwas anderes deutlich, nämlich dass es sich bei den AfD-Anhängern weniger um Protestwähler oder depravierte „Wutbürger“ handelt, als vielmehr um genuin überwinternde autoritäre Charaktere aus einem „gutbürgerlichen“ Lager, die sich wie vorübergehende Schläfer angesichts der Flüchtlinge nun kollektiv selbst aktivieren. Sie treffen anscheinend überall auf Gleichgesinnte, die sich gegenseitig als solche erkennen – auch und vor allem international. Die Decke der Demokraten schmilzt dagegen so ab, wie das grönländische Festlandeis. Es verdichten sich also die Anzeichen, dass wir uns auch in dieser politischen Hinsicht gerade wieder in einem Rückschwung der Aufklärung, einer Großen Regression, befinden.[12] Denn die durch die AfD angereicherten Parteien mit ihren Stiftungen, ihren Posten und Pöstchen decken die autoritäre Struktur wieder deutlicher institutionell. Immer offener wird einer stärkeren Präsenz der Bundeswehr inklusive der entsprechenden Kosten, der „kulturellen Identität“, einer „neuen Führung“ und einem „Leitbild“ auf eine Weise das Wort geredet, als habe Adorno nicht dagegen angeschrieben.
Das Innen und das Außen der etablierten politischen Institutionen scheinen vielmehr heute unter einer rechten Ägide neu zusammenzuschlagen. Täglich erreichen uns neue Hiobsbotschaften über Hooligans und Hetzmassen, übrigens jeglicher Zusammensetzung wie in Köln, Chemnitz oder Augsburg und von „Einzeltätern“ wie in Kassel.
[13] Zugleich liest man über kampfbereite Rechtsradikale bei der Polizei, in der Bundeswehr, beim Verfassungsschutz, in den Geheimdiensten und in paramilitärischen Organisationen. Pegida und andere Figuren bedrohen auf dem platten Land insbesondere im Osten mutige BürgermeisterInnen, Regierungspräsidenten und andere Kommunalpolitiker, während sie andererseits vom Bundesinnenminister, aber auch von den entsprechenden Ministerpräsidenten immer noch Schützenhilfe bekommen. Die CDU zerreibt sich gerade unter dem Druck, mit der AfD in den östlichen Ländern eine Regierung zu bilden und ist über jede Ablenkung durch die internen Probleme der SPD dankbar.
Die Autoritäre Persönlichkeit aber, die Adorno im Vortrag zu den amerikanischen Untersuchungen aus gegebenem Anlass 1960 nochmals zusammenfassend schildert, feiert offenkundig fröhliche Urstände. Dieses Schicksal hat Adorno vorhergesehen:

Und es wäre wohl äußerst oberflächlich zu glauben, daß durch das politische Schicksal diese Dinge ein für allemal erledigt wären, denn die psychologischen wie überhaupt auch die ideologischen Momente haben eine außerordentliche Zähigkeit zu beharren und fortzudauern, auch in Situationen, die ihnen an sich fremd sind oder die mit ihnen scheinbar gar nichts zu tun haben.[14]

Hier gilt es sicherlich, eine diachrone und traurige Aktualität zu den von Adorno in den Sechzigerjahren diagnostizierten Problemen festzuhalten: Der Antisemitismus und die neue Beliebtheit der Rechtsradikalen fallen gleichsam aus einer simplen Vorstellung einer stetig progressiv gedachten Zeit heraus, die ihr Pathos daher bezieht, dass sie sich deren Verlauf wie in einem schlechten Frühlingsgedicht vorstellt, wie Walter Benjamin einmal gesagt hat.
Mit anderen Worten, was Adorno über Wedekind und die Debatte über dessen angebliches Veralten sagt, gilt auch für ihn selbst:

Aber ich möchte Sie wenigstens aufmerksam machen auf eine Möglichkeit, die ich einmal vor Jahren an Ibsen glaubte, konstatieren zu dürfen — daß nämlich der Eifer, mit dem man einen Künstler als „veraltet“ etikettiert, dazu dient, die Momente in seinem Werke, die nicht erledigt sind, vor allem solche Momente, die auf ein in der Realität in unserer Gesellschaft nicht Erledigtes hinweisen, dadurch zu entgiften, daß man sagt, alles das gelte gar nicht mehr.[15]

Vor Publikum

Diese Aufsätze Adorno sind also einem deutschen Publikum zugewandt, nun aber unter anderen ambivalenten Vorzeichen, als etwa bei Johann Gottfried Herders berühmter Rede von 1765.[16] Adorno hat einmal gesagt, dass man an der Stimme einer Frau hören könne, ob diese hübsch sei oder nicht. Denn die Stimme spiegele als Reflexionsmedium die Bewunderung wider, die ihr von außen zugetragen werde. Ähnliches ließe sich über diese Vorträge Adornos sagen, dass sie nämlich die Reflexion einer aufgeklärten Hörererwartung im Sprechenden in actu wiedergeben. Die Hörerinnen und Hörer geben eine Resonanz zu seiner Erwartung, die selbst eine weitere Figur der Verschlungenheit von Innen und Außen darstellt. Über den Umgang mit der anderen Kultur und der eigenen heißt es am Schluss des Vortrags über Kulture und culture von 1957:

Es kommt auch nicht darauf an, daß man sieht, das hat seine guten Seiten und jenes hat seine guten Seiten und seine schlechten Seiten. Wenn mein Vortrag in diesem Sinn verstanden würde, dann, glaube ich, würde er nicht richtig verstanden. Sondern ich glaube, es kommt wirklich darauf an, daß man am Eigenen wie an dem Anderen des kritischen Gedankens mächtig bleibt, anstatt daß man vor der Übermacht dessen, was hier und dort nun einmal so ist, kapituliert und sagt: „Das ist so, das muß so sein, das muß man hinnehmen“. Das, was wir versuchen sollten zu überwinden, dort und hier, ist eigentlich nichts anderes als die Verhärtung gegen den kritischen Gedanken überhaupt, und ich wollte eigentlich nicht mehr, als Ihre eigenen Gedanken anzuregen zu einer gewissen Verflüssigung dieser geronnenen Gegensätze, die ich freilich anders als in ihrer geronnenen Form Ihnen nicht präsentieren konnte, eben deshalb, weil sie heute in einer verdinglichten Welt nun einmal geronnen sind.[17]

In ähnlicher Weise hatte Goethe einmal über Weltliteratur geredet. Als er seine Texte ins Französische zu übersetzen versuchte, besann er sich ihrer prototypischen spanischen, englischen und französischen Voraussetzungen für ihre erste Fassung im Deutschen. Ähnliches muss man sich sowohl zum Publikum als auch zum Redner Adorno denken. Er wird zugleich dort vom Publikum gesprochen, wo er dieses über dessen weltbürgerliche Voraussetzungen des Denkens aufklären will. Den Vortragsband vor Augen habend, hören wir seine Stimme freilich nicht (obwohl einige Vorträge wohl auch als Höraufnahmen vorliegen). Wir lesen diese Vorträge daher am besten wie stumme Notenpartituren, bei denen die zugehörigen Töne im Überohr mitschwingen. Zugleich sehen wir vor unserem inneren Auge, wie Adorno sich seinem ihm derart begegnenden Publikum hingibt. Diese gegenseitige Zugewandtheit spiegelt sich als Reflexionsmedium nochmals zurück auf den Leser.

Das hat buchstäblich etwas von dem Licht-Werden, von dem bei Freud das Kind spricht, wenn es im Nebenraum die Stimme der Mutter hört und dadurch ein Licht sieht, obwohl es bei ihm doch dunkel ist. Es folgt zugleich einer weiteren goetheschen Maxime, nämlich derjenigen, wonach nur, weil das Auge sonnenhaft sei, es auch die Sonne sehen könne, weil es also Stoff von demselben Stoffe sei. Auch das ist Aufklärung, die ihre Voraussetzungen reflektiert. Darin zusammengefasst ist zugleich Adornos Lehre von der Mimesis und dem dialektischen Verhältnis des Denkens zur Natur, aus der es als Reflexionsform entsteht und zu der es stets zurückkehren will. Zu dieser Idee von Natur müssen wir uns in Adornos Vortragsstil ein korrespondierendes Analogon im Publikum denken. Adorno war so weit musikalischer Künstler, dass er die Spannung zwischen ernsthafter Erkenntnis und ihrer formalen Darstellung jeweils in den beiden ihm lieb gewonnenen Sphären vice versa spiegelte. Als Musiker blieb er der mitteilende Philosoph und eben nicht nur Unterhalter – und als Philosoph bereitete er den Stoff ganz zur dramatischen Darstellung auf. Aus dieser Form der bestimmten Improvisation rührt möglicherweise das Glück, dass auch auf die Lesenden abfärbt.


[1] S. 214-215.

[2] S. 343.

[3] „Ich hatte vorhin von dem amerikanischen Verhältnis zu den Kindern geredet. Ich glaube, daß wir uns doch kaum vorstellen können, in welchem Maß in dieser amerikanischen Kultur die Kinder freier, weniger unterdrückt und unter weniger Gewalt heranwachsen, als das selbst heute noch bei uns der Fall ist, und vor allem, in welchem Maß doch die Errungenschaften der neuen Psychologie in Amerika in die Gestaltung selbst des täglichen Lebens eingedrungen sind. Eine Mutter, die weiß, mag es auch noch so grob und oberflächlich sein, daß, wenn sie ihr Kind verprügelt, daß das Kind dann möglicherweise dafür mit einer Neurose als Erwachsener zu bezahlen hat, eine solche Verhaltensweise scheint mir immer noch der Humanität näher zu sein als eine Verhaltensweise, die, indem sie vornehm erklärt, man sei ja über Freud längst heraus und Freud reiche etwa an die Tiefe unserer Existenz nicht heran, nun die Psychoanalyse überhaupt zum alten Eisen wirft und letztlich sich darauf herausredet, daß, wenn man die Kinder ordentlich verprügelt, daß sie dann bessere Soldaten werden. [Lachen im Auditorium] Also, ich würde schon sagen, daß man dieses Element hier, gerade wo es um die Kritik der sogenannten Flachheit geht, mit einbeziehen soll und daß man sich darüber klar sein soll, daß doch also die Freiheit von Autorität, in einem sehr spezifischen und in einem sehr fruchtbaren Sinn, in Amerika weiter gediehen ist als bei uns.“ (S. 166-167.) Hier erscheint auch seine Position zur Psychoanalyse klar wie selten: Er findet die pragmatischen Entwicklungen der Analytiker in Amerika weniger schlimm, als die absurde Vorstellung, die die NS-Neoanalytiker wie Harald Schultz-Hencke in Deutschland entwickelten, Freud vermeintlich „reformiert“ und „aufgehoben“ zu haben; eine Haltung, die trotz Alexander Mitscherlich bis in die 1980er Jahre in Deutschland vorherrschend war (vgl. Anthony Kauders, Der Freud-Komplex. Eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland, München: Piper 2014).

[4] S. 381.

[5] S. 380.

[6] S. 384.

[7] S. 386.

[8] Vgl. GS 10.2, S. 455ff.

[9] Bei einem Vortrag des Frankfurter Pädagogen Micha Brumlik vor einigen Jahren in Weimar beschwerte dieser sich, dass die heutigen jungen Studenten da keine Vermittlungsleistung vollbrächten: sie läsen Adorno so, als handele es sich bei ihm um einen wirklich radikalen zeitgenössischen Philosophen! Das klang zwar auch ein wenig eifersüchtig, weil despektierlich gegenüber Brumliks eigener Leseleistung, die auf diese Weise kaum gewürdigt wurde. Es hat aber eine entsprechend richtige Diagnose im Hintergrund.

[10] Theodor W. Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus - Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Volker Weiß, Berlin: Suhrkamp Juli 2019

[11] Die heutigen LeserInnen sind aber heute noch angerührt davon, was Michael Schwarz aus Adornos Tagebuch abdruckte, als dieser einen Tag nach seiner Ankunft in Frankfurt am 3. November 1949 über einen Gang durch die Trümmerstadt notierte: „Lang durch die Stadt. Erst die Bockenheimer Landstraße, für Frankfurt intakt, d. h. nur etwa jedes 2. Haus kaputt. Überall die wildeste Wiederaufbau-Aktivität. […] Die Altstadt ist ein nightmare, ein Angsttraum in dem man alles an der falschen Stelle sieht, so den ganzen Dom, vom Römerberg aus. Der einsam erhaltene Gerechtigkeitsbrunnen auf dem verwüsteten Römerberg. Erst auf dem Eisernen Steg kam mir das Phantastische des Ganzen recht ins Gefühl; mir war als wäre ich nicht da.“S. 595.

[12] Vgl. Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin: Suhrkamp 2017. Leider ist es eben nicht nur die geistige Situation, wenn sich Trumps Schwiegersohn Kushner, Orban, und Netanjahu zur Amtseinführung von Bolsenaro 2019 in Rio treffen.

[13] In der Dialektik der Aufklärung heißt es dazu bereits instruktiv: „Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt.“ (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung [1947], in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, Band 3, S. 195.

[14] S. 246.

[15] S. 332.

[16] Vgl. Johann Gottfried Herder, „Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?“ - In: Ders.: Werke in Zehn Banden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764-1772. Hrsg. von Ulrich Gaier, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985. S. 40-55.

[17] S. 176.

Artikel online seit 26.02.20
 




Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften
Abteilung V:
Vorträge und Gespräche: Band 1:
Vorträge 1949-1968, herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv, Michael Schwarz, et al.,
Suhrkamp Verlag
786 Seiten
58,00€

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