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Auf den Spuren Walter Benjamins

Anläßlich der Benjamin-Biografie von Lorenz Jäger
»Das Leben eines Unvollendeten«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

I

Der Gedenkstein im spanischen Portbou ist von Kieselsteinen umsäumt, einige von ihnen sind – einer alten jüdischen Tradition folgend – an der Oberkante des Steins und dem dahinter liegenden Felsbrocken zu kleinen Haufen aufgetürmt. Unter der Gravur mit dem Namen »Walter Benjamin« findet sich ein Zitat aus der siebten These über den Begriff der Geschichte. Zwei Fehler haben sich in den Satz eingeschlichen. Dass ausgerechnet das Wort »Barbarei« falsch geschrieben wurde, gibt dem Andenken einen bitteren Beigeschmack. Eine spanische Übersetzung schließt die Erinnerung an den Schriftsteller und Philosophen Walter Benjamin ab. In Portbou nahm er sich, 48 Jahre alt, auf der Flucht vor den Nazis am 26. September 1940 das Leben.

Für die 12 Kilometer Fußweg von Banyuls-sur-Mer in Frankreich nach Portbou über die Pyrenäen gibt Google Maps knapp drei Stunden an. Heute gibt es dort einen Walter-Benjamin-Pfad, den man beschreiten kann und der den Wanderer vergessen lässt, dass der herzkranke Kritiker sich diesen Weg mit seinen Gefährten zu großen Teilen durch Gestrüpp und Geröll allererst erarbeiten musste.

Wer von Banyuls-sur-Mer mit dem Auto die Küste entlang über die Berge fährt, passiert nach etwa einer halben Stunde die französisch-spanische Grenze auf einem Hochplateau mit niedergerissenen Schlagbäumen und einem heruntergekommenen Grenzhäuschen voller Graffiti, ein recht trostloser Anblick. Was dann folgt, gleicht einer Zeitreise in die Vergangenheit. In Spanien werden die Straßen schmaler, steiler, kurvenreicher, wilder. In der Hoffnung, dass nun kein Auto mehr aus entgegengesetzter Richtung kommt, erreicht man nach ein paar Minuten Portbou und ist erstaunt, wie unaufgeregt es hier zugeht. In dieses gewiss nicht ganz leicht zu erreichende Örtchen verlieren sich nicht allzu viele Touristen.

In der Bucht lädt ein größeres Café zum Verweilen ein. Die mobile Imbissbude am Strand versorgt eine Handvoll Menschen mit Snacks. Nichts gleicht hier den beinahe schon mondän anmutenden Badeorten, die nur wenige Kilometer entfernt an der französischen Küste Menschen aus ganz Europa anlocken.

Die Gedenkstätte für Benjamin muss man suchen. Die Hinweisschilder sind so winzig wie seine Handschrift. Von einem Schotterparkplatz aus geht es zur Steilküste hinauf. Hier oben herrscht beinahe gespenstische Stille. Eine leichte Brise, ein paar Vögel, das Meer, vom Passagen-Denkmal aus betrachtet, die Frühjahrssonne am Ende einer Welt, die sonst nirgends so friedlich scheint.

Unter dem Namen »Benjamin Walter« ist er zunächst katholisch begraben worden, ehe man sich bewusst wurde, wer der Tote tatsächlich ist. Über den kleinen jüdischen Friedhof gehend erreicht man heute, in einer unscheinbaren Ecke gelegen, den schmucklosen Gedenkstein. Ich bin ganz allein hier oben. Die wohltuende Stille und der traumhafte Blick über das Meer sind unbeschreiblich. Man kann gar nicht anders als unmittelbar das Zwiegespräch mit Walter Benjamin zu suchen.

II

Lorenz Jäger führt ein solches Zwiegespräch mit Benjamin seit über zwei Jahrzehnten. Ohne Zweifel gehört er zu den ausgewiesenen Benjamin-Experten in Deutschland. Die Summe seiner Auseinandersetzungen hat er nun in eine Biografie einfließen lassen, die den »Unvollendeten« wohlwollend neutral charakterisiert. Auf eine Kontroverse wie damals bei seinem Adorno-Portrait hat es Jäger nicht angelegt. Überhaupt fragt man sich, für wen er Benjamins Leben nachgezeichnet hat. Im Grunde ist doch alles bereits gesagt, die Details, soweit möglich, weitestgehend aufgearbeitet und bekannt. Jäger kommt auch ganz ohne Archivmaterial aus, lässt man die Fotografien außer Acht. Doch selbst die zeigen meist Bekanntes. Das fängt bei Charlotte Joël-Heinzelmanns Cover-Fotografie an und hört bei den Schachaufnahmen von Brecht und Benjamin auf. Jägers Portrait schöpft aus Benjamins Schriften, Briefen und einigen Sekundärquellen. Genutzt hat Jäger die Gesammelten Schriften, nicht jedoch die noch nicht vollständig abgeschlossene, kommentierte Kritische Gesamtausgabe. Mit Ausnahme der älteren (nicht ganz fehlerfreien, aber wegweisenden) Biografie von Bernd Witte finden sich in der Literatur die einschlägigen Hinweise: Brodersen, Friedländer, Heye, Kramer, Lindner, die zweibändige Ausgabe zu Benjamins Begriffen von Opitz und Wizisla, ebenso Wizislas »Begenungen«, selbstredend Palmiers Standardwerk, zudem Steiner und Weigel.

Doch der Hinweis auf den »Unvollendeten« reicht kaum aus, um einen neuen Aspekt in den Benjamin-Diskurs einzubringen. Zumal auch diese Umschreibung ja lediglich seinem Kafka-Aufsatz entliehen ist. Dort sind es die »Unfertigen« und »Ungeschickten«, die Benjamin als dritten Gestaltenkreis bei Kafka entdeckt. Es sind die Narren und Bauernfänger, die kauzigen Kreaturen, die sich aus der Schusslinie stehlen, wenn die beiden anderen Gestaltenkreise ihre Kämpfe austragen. Da ist zum einen die Welt der Väter, der Beamten, der durchgenormten Abläufe, der Ordnung und der unnachgiebigen Gerichtsbarkeit. Dem steht die Welt der Söhne gegenüber, die unverschuldet dieser Gerichtsbarkeit zum Opfer fallen, nichts ahnend, ungläubig, verzweifelt. Für die Unfertigen und Ungeschickten gibt es Hoffnung, alle anderen müssen sich dem Schicksal fügen.

Insbesondere der Protagonist K. aus dem »Prozess« leidet darunter. Benjamin macht diesbezüglich auf Kafkas Erzähltechnik aufmerksam: Immer dann, wenn andere Romanfiguren dem K. etwas Wichtiges oder Überraschendes mitteilten, so täten sie dies auf beiläufige Art und Weise, gerade so, als müsse er das doch schon längst gewusst haben. Jägers Erzähltechnik verhält sich genau umgekehrt. Er erzählt Bekanntes so, als hörten wir davon zum ersten Mal.

Lässt sich sein Portrait so deuten, dass Benjamin, der »Unvollendete«, zum Gestaltenkreis der Unfertigen und Ungeschickten zählt? Tatsächlich dürfte dies kaum zutreffen. Denn Benjamin vermochte es zeitlebens nicht, sich wie Kafkas neutraler Gestaltenkreis aus der Kampflinie zu nehmen. Bis zuletzt stand er zwischen allen Fronten. Mehr als den »Unfertigen« hat er sich Kafkas Romanfigur K. verbunden gefühlt. Seine Schriften waren die Offerte an diese Figur, sich selbst ein eigenes, ein anderes Schicksal zu geben.

III

Sein letzter Text, an dem er arbeitete, ehe er in Portbou starb, trägt den Titel Über den Begriff der Geschichte. Es ist eine in loser Abfolge von Thesen formulierte Arbeit, in die sein gesamtes Geschichtsverständnis kulminiert. Dort präsentiert er die Theologie als den Zwerg an der Seite des Historischen Materialismus. Dieser Zwerg, dessen Tod im 19. Jahrhundert bereits proklamiert worden war, und den Benjamin nun revitalisiert, bildet den Garant für einen wirklichen Umsturz der herrschenden Verhältnisse. Denn die Geschichte könne nicht atheologisch begriffen werden.

Schon die 1928 erschienene »Einbahnstraße« führt die Bemerkung mit sich, alle entscheidenden Schläge müssten mit der linken Hand, d. i. marxistisch, geführt werden. Nun, in den Thesen, stellt Benjamin seiner Maxime, die Geschichte gegen den Strich bürsten zu wollen, die jüdische Mystik beiseite, die letzten Endes die Last der Legitimation trägt. Vorbereitet hat er diese theoretische Grundlage schon in dem von Adorno so genannten »theologisch-politischen Fragment« der frühen 1920er Jahre. Dort heißt es, erst der Messias vollende alles historische Geschehen wie er zudem die Beziehung des historischen Geschehens zur Erlösung selbst initiiere. Die Geschichte, so Benjamin gegen den universalhistorischen Anspruch, sei keineswegs in der Lage, sich auf den Messias zu beziehen, weil sie endlich und Teil der Naturgeschichte des Menschen sei. Eine Beziehung kann allein der Messias stiften. Erlösung und Vollendung innerhalb der Geschichte sind aus diesem Grunde zu denken unmöglich. Somit fällt auch die paulinische Erwartung auf die Ankunft des Messias weg und das Reich Gottes ist nicht länger Telos historischer Dynamik, bricht doch der Messias die Geschichte ab.

Benjamin geht es in dem zweiseitigen Fragment vor der Folie der Marx´schen Philosophie in erster Linie um die Mobilmachung des Glaubens in einer zusehends profanen Welt: »Mein Denken«, schreibt er, »verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«

Das Bild einer homogen verlaufenden Entwicklung sowie die Idee einer geschichtsimmanenten Vernunft werden von Benjamin gleichfalls dekonstruiert. Die Geschichte, so Benjamin, als in einem Brennpunkt gesammelt, ruht in der Gegenwart als eines latent vollkommenen Zustands. Die weit aufgerissenen Augen des Engels der Geschichte, den er in der neunten These skizziert, bilden hierbei das Oneiroskop, dessen Brennweite insbesondere auf das 19. Jahrhundert eingestellt ist. Die unbewältigte Vergangenheit prägt die unmittelbare Gegenwart. Sie birgt den Sprengstoff, der zur Entzündung gebracht werden will, soll nicht nur der Dämmerzustand vorangegangener Generationen beendet, sondern auch die Gegenwart verändert werden. Die Jetzt-Zeit, so nennt sie Benjamin in seinen Thesen, ist die Schwelle, auf der wir innehalten müssen, um nichts verloren zu geben, um die Namenlosen nicht zu vergessen, das Unsagbare auszusprechen, das Anonyme: »Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den fixen Punkt das Gewesene und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewusstseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustellen ist Sache der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exemplarische Fall des Erinnerns: der Fall, in welchem es uns glückt, des Nächsten, Banalsten, Naheliegendsten uns zu erinnern.«

IV

Müsste eine Biografie über Benjamin nicht mit dieser Idee des Erwachens spielen und die Geschichte in die Gegenwart einfallen lassen, um sich des Naheliegendsten zu erinnern? Müsste man nicht, wie Jäger das 1992 gemäß den Worten Hugo von Hofmannsthal bereits getan hat, lesen, »was nie geschrieben wurde«?

Ohne Frage: Jäger hat Benjamin sehr genau gelesen, beinahe schon zu genau; er versteht es, sich souverän zu seinen Schriften zu äußern, rekapituliert den Lebensweg des Denkers detailliert; alles in allem eine überaus solide Arbeit. Allein, es fehlt der Biografie das Besondere, das sie von den ungezählten anderen Benjamin-Büchern abheben könnte. Zwar führt sie vieles zusammen, präsentiert aber lediglich bereits bekannte Aspekte. Benjamins eigener Anspruch ist das nicht.

Die 18 Kapitel orientieren sich an der Lebenschronologie und lassen in diese die einzelnen Arbeiten Benjamins einfließen. Von der Berliner Herkunft über die Jugendbewegung folgen wir Benjamin in die Schweiz, nach Paris bis hin nach Portbou. Äußerst gelungen ist die Beziehung Benjamins zu F.C. Rang, zu dem Jäger bereits zuvor gearbeitet hat. Auch die Exkurse in Benjamins Werk machen dieses verständlich und lassen die Kontexte noch einmal deutlich hervortreten.

Doch für wen ist das geschrieben? Für Benjamin-Kenner eher nicht. Für Benjamin-Interessierte vielleicht? Aber gibt es die neben den Kennern? Am ehesten wird das Buch einer Einführung gerecht. Doch im Klappentext heißt es: »Eine hochspannende Biographie, die das Werk dieses großen Denkers neu erschließt.« Freilich ist das nicht der Anspruch des Buches, denn in diesem geht es doch vorrangig um das Leben eines »Unvollendeten.«

Was Jäger jedoch wirklich vorzüglich glückt, ist das Ineinanderweben der Epoche, in der Benjamin gelebt hat, mit seinem Werk und seinem beschwerlichen Leben, das in Portbou, an der französisch-spanischen Grenze so abrupt und viel zu früh endete. Das ist immerhin nicht wenig.

Artikel online seit 02.03.17
 


Lorenz Jäger
Walter Benjamin
Das Leben eines Unvollendeten 
Rowohlt Verlag
400 Seiten
26,95 €
978-3-87134-821-1

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