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Walter Benjamin und die europäische Moderne

Im Suhrkamp Verlag erscheint die auf 21 Bände angelegte historisch-kritische Edition der Werke Walter Benjamins.

Ein kurze Einführung in sein Denken von Jürgen Nielsen-Sikora

Die europäische Moderne bietet kein einheitliches Bild. Ihr Prozessverlauf muss angesichts der verschiedenen Zeit-, Raum- und Gesellschaftshorizonte als heterogen bezeichnet werden. Im Zentrum dieser Heterogenität steht eine Idee von Fortschritt, die es näher zu bestimmen gilt. In diesem Kontext ist insbesondere das Interdependenzverhältnis von Progression und Bedrohung, von Entwicklung und Krise zu bedenken. Es spiegelt sich nicht zuletzt im dialektischen Spannungsfeld von Fortschrittsideologie einerseits und Archaik und Mythos andererseits wider.

Der Kritiker, Philosoph und Essayist Walter Benjamin (1892-1940) hat sich diesem Antagonismus in seinen Schriften immer wieder gestellt und in Wort und Bild die Moderne in ihren Grundfesten untersucht.

Seine Analysen warfen ein neues Licht auf das 19. Jahrhundert, das in seinen vielfältigsten gesellschaftlichen Ausprägungen als das Jahrhundert der Moderne gelten darf.
Benjamins kultureller Blick richtet sich in erster Linie auf Baudelaire und seinen Gedichtzyklus »Fleurs du Mal« aus dem Jahre 1857. Baudelaires Themen sind der Überdruss, die Mutlosigkeit und die Melancholie. Die Moderne ist Baudelaire nicht bloß Epoche, sondern eine Art Energie, welche sich die Antike einverleibt. Die Fleurs du Mal, so Benjamin, sind darüber hinaus »das letzte Gedichtbuch von gesamteuropäischer Wirkung«. Mit ihm berührt der französische Lyriker die metropolitanen Massen. Und gerade die Massen und die Vermassung der Gesellschaft bilden von Le Bon bis Ortega y Gasset das Epizentrum der europäischen Moderne. Sie sind der Schleier, durch den hindurch Benjamin Paris, die »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« betrachtet.

Mit dem Wegbereiter der europäischen literarischen Moderne, mit Baudelaire, erörtert Benjamin aber auch die Einsamkeit in der Menge. Immer wieder ist es Baudelaires Geburtsort Paris, die Benjamins Aufmerksamkeit auf sich zieht. Paris ist die Stadt der Tempel und Heiligtümer, der Passagen, Boulevards, der Panoramen und Katakomben, die die Rückstände einer Traumwelt bilden. Es ist die Stadt der umfriedeten Plätze und Künstlerklauseln. Wenn es einen Ort auf der Welt gab, der sich modern nennen durfte, so war es Paris. Die Stadt schuf auch einen neuen Menschentypus – den Flaneur, oder, um es in den Worten Edgar Allan Poes zu sagen: den »Mann in der Menge«.

Dieser neue Menschentyp erfährt die Moderne am eigenen Leib und durchwandert sie zu Fuß. Er erkennt zugleich die Unmöglichkeit, nur ein einziges modernes Leben zu schildern. Wenn jemand also paradigmatisch für die Heterogenität der europäischen Moderne steht, so ist es der Flaneur, der philosophische Spaziergänger, der unstet in der sozialen Wildnis der Großstadt umherschweift und den Begriff der Käuflichkeit selbst spazieren führt.
Der Flaneur kennt das Paris der Weltausstellung und der Barrikaden, der Fotografie und der Reklame. Und er weiß, es gab »eine Generation, die noch mit der Pferdekutsche zur Schule gefahren war«, um nun unter freiem Himmel zu stehen, »in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.« Benjamin schreibt diese Zeilen im Jahre 1933. Es ist die Zeit, in der er auch die Geborgenheit seiner Kindertage Revue passieren lässt. Von Selbstmordplänen ergriffen, flieht er alsbald aus Deutschland. Zunächst nach Ibiza, dann – endlich – nach Paris.

Im Februar 1939 wird durch die Gestapo die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft Walter Benjamins mit der Begründung beantragt, Benjamin sei für die 1936 von Brecht, Bredel und Feuchtwanger in Moskau gegründete Monatsschrift »Das Wort« als Mitarbeiter tätig gewesen und befinde sich derzeit in Paris, »wohin er aus Palma di Mallorca geflüchtet« sei. Kurz darauf teilt auch Max Horkheimer dem Freund mit, die bislang in regelmäßigen Abständen eingegangenen Geldzahlungen einstellen zu müssen. Benjamin, der in diesen Tagen an einer Neufassung der »Berliner Kindheit« arbeitet, quälen zusätzlich gesundheitliche Probleme und der Ärger mit der Bürokratie bei dem Versuch, sich in Frankreich einbürgern zu lassen. In diese Zeit fällt auch der in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 in Moskau von dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare Wjatscheslaw Molotow unter den Augen des Generalsekretärs der KPdSU Josef Stalin unterzeichnete und unter dem Begriff »Hitler-Stalin-Pakt« bekannt gewordene deutsch-sowjetische Nichtangriffs-Vertrag. Bereits nach dem Fall Warschaus am 9. September sowie nach der Eroberung Restpolens rund drei Wochen darauf, können das Deutsche Reich und die Sowjetunion ihre Grenzen verschieben, regelt doch das Zusatzprotokoll die Teilung Polens und legt die deutsch-sowjetische Grenze entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San fest. Stalin marschiert daraufhin mit seinen Truppen bereits am 17. September in den Ostteil Polens ein. Der Schock, der seit den letzten Augusttagen ´39 allgemeine Wurzeln schlug, erfasst auch den damals 47-jährigen Benjamin, Mitglied des von Georges Bataille gegründeten Collège de Sociologie und freier Mitarbeiter des von Horkheimer und Adorno gegründeten Instituts für Sozialforschung, der bei Kriegsausbruch für knapp drei Monate mit anderen deutschen Flüchtlingen in einem Sammellager bei Nevers interniert worden war, um im November 1939 schließlich ins Exil nach Paris zurückzukehren.

Benjamins letzter Text, den er in jenen Pariser Tagen beginnt, bevor er Ende September 1940 an der französisch-spanischen Grenze in Portbou stirbt, trägt den Titel Über den Begriff der Geschichte. Es ist eine in loser Abfolge von Thesen formulierte Arbeit, in der sein gesamtes Geschichtsverständnis kulminiert. Benjamin arbeitet die Winter- und Frühjahrsmonate des Jahres 1940 an dem als eine Art konzeptionelles Vorwort der Passagenarbeit gedachten Traktats.
Das philosophische Fundament seiner Thesen bildet der historische Materialismus mit seinem Ahnherrn Karl Marx. Marx definiert als Programm des Histomat, die Philosophie müsse die Welt aus dem Traume über sich selbst aufwecken. Diesbezüglich weist bereits Marx auf das Janusgesicht der Moderne hin. Denn die Moderne war angetreten mit dem Anspruch, den Menschen individuelle Freiheit und Gleichheit jenseits aller natal prädestinierten Beschränkungen zu gewährleisten. Doch durch die Herauslösung einmal freigesetzter Individuen aus ihren traditionalen, familiären und sozial-kulturellen Bindungen brechen die Klassengegensätze hervor und wurden zum herausragenden Wesensmerkmal der Moderne. Sie markiert in letzter Konsequenz den Übergang vom Handwerk zur Fabrik, der den Arbeiter zur elendsten Ware, zum Knecht des Kapitals werden lässt. Der Kapitalismus, so Benjamin, habe die mythischen Kräfte reaktiviert. Nur die müßigen Götter, die Kapitalisten, so gesteht er Marx zu, können es sich von nun an leisten, nicht für ihren Bedarf, sondern allein für den Profit Waren zu produzieren. Sie leiden bloß noch am toten Mammon.

Das 19. Jahrhundert blieb insofern gefangen im mythischen Glauben an eine Industriegesellschaft, die ihr Gesellschaftsbild, ihr Demokratieverständnis und ihr Technikverehrung für modern hielt. Benjamin versucht nun, diesen Glauben als Teil der Moderne zu entlarven. Dieser Versuch gipfelt in dem Satz: »Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.« Die Moderne hat demnach ein Bild vom Menschen entworfen, das durch ein Ineinander von Mythos und Moderne geprägt ist. Die europäische Moderne überblendet den Mythos und legt sich über das Archaische. Sie ist ein Palimpsest der Geschichte, in dem sich die Schichten gegenseitig durchdringen.
Benjamin aber bleibt nicht bei Marx stehen. Denn dem Marxismus stellt er die Theologie beiseite. Nur im Verbund der beiden, so Benjamin, sei es möglich, die Welt aus dem Träume über sich selbst zu erwecken.
In den geschichtsphilosophischen Thesen präsentiert er die Theologie als den Zwerg an der Seite des Histomat. Dieser Zwerg, dessen Tod im 19. Jahrhundert bereits proklamiert worden war, und den Benjamin nun revitalisiert, bilde den Garant für einen wirklichen Umsturz der herrschenden Verhältnisse. Denn die Geschichte könne nicht atheologisch begriffen werden.

Schon die 1928 erschienene »Einbahnstraße« führt die Bemerkung mit sich, alle entscheidenden Schläge müssten mit der linken Hand, d. i. marxistisch, geführt werden. Nun, in den Thesen, stellt Benjamin seiner Maxime, die Geschichte gegen den Strich bürsten zu wollen, die jüdische Mystik beiseite, die letzten Endes die Last der Legitimation trägt. Vorbereitet hat er diese theoretische Grundlage schon in dem von Adorno so genannten »theologisch-politischen Fragment« der frühen 1920er Jahre. Dort heißt es, erst der Messias vollende alles historische Geschehen wie er zudem die Beziehung des historischen Geschehens zur Erlösung selbst initiiere. Die Geschichte, so Benjamin gegen den universalhistorischen Anspruch, sei keineswegs in der Lage, sich auf den Messias zu beziehen, weil sie endlich und Teil der Naturgeschichte des Menschen sei. Eine Beziehung kann allein der Messias stiften. Erlösung und Vollendung innerhalb der Geschichte sind aus diesem Grunde zu denken unmöglich. Somit fällt auch die paulinische Erwartung auf die Ankunft des Messias weg und das Reich Gottes ist nicht länger Telos historischer Dynamik, bricht doch der Messias die Geschichte ab.

Benjamin geht es also bereits in dem zweiseitigen Fragment vor der Folie der Marxschen Philosophie in erster Linie um die Mobilmachung des Glaubens in einer zusehends profanen Welt: »Mein Denken«, schreibt er, »verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.«

Angelus novus , 1920, 32
Ölpause und Aquarell auf Papier auf Karton, 31.8 x 24.2 cm
Collection of the the Israel Museum, Jerusalem, Schenkung John
und Paul Herring, Jo Carole und Ronald Lauder, Fania und Gershom Scholem

Das Bild vom »Engel der Geschichte« aus den geschichtsphilosophischen Thesen bringt dieses Geschichtsverständnis noch einmal plastisch zum Ausdruck. In der bekannten neunten These heißt es: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Laut Talmud werden die Engel von Gott geschaffen. Vor ihm singen sie ihren Hymnus und vergehen anschließend im Nichts. Der Engel ist aber auch Bote. Im Judentum besitzt ein jeder Mensch einen persönlichen Engel, der das geheime Selbst symbolisiert (Benjamin hat dies im Agesilaus Santander aufgegriffen). Walter Benjamin verbannt diesen Engel nun in ein Bild, in dem es diesem unmöglich wird, seinen Hymnus abzusingen und zu vergehen. Der Blick des Engels kann deshalb nicht loslassen von dem, was war. Damit jedoch bleibt auch seine angelische Mission letzten Endes unerfüllt. Doch die Situation des Engels eröffnet sogleich neue Perspektiven auf die Geschichte als Katastrophengeschichte. Denn für Benjamin hat der Begriff des Fortschritts sein Fundament in der Katastrophe. Diese abzuwenden muss der Engel scheitern. Als Ursache des angelischen Versagens gilt der Fortschritt. Der Engel versagt an der Aufgabe, dem Trümmerberg, den Moderne und Fortschritt mit sich bringen, Einhalt zu gebieten. Er kann die Flügel nicht mehr schließen. Denn hierzu bedarf es des Messias.

Der Engel dient Benjamin als Allegorie der Kritik an der Idee von Kontinuität, Kausalität und Fortschritt in der Geschichte, insbesondere im Prozess der Moderne. Durch ihn weist Benjamin auf die Krise, die Brüche und Risse dieser Moderne hin. Das Bild einer homogen verlaufenden Entwicklung sowie die Idee einer geschichtsimmanenten Vernunft werden mit Hilfe dieser allegorischen Darstellung dekonstruiert. Von nun an genügt es nicht allein mehr, die Masse der Fakten zu rekonstruieren. Sie bilden nur noch die Last der ersten Schale auf der Waage der Geschichte. Die andere Schale birgt die Erkenntnis der Gegenwart. »Während auf der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und nicht zahlreich genug versammelt sein können, dürfen auf der zweiten nur einige wenige schwere, massive Gewichte liegen.«

Es reicht deshalb auch nicht mehr aus, sich bloß in die Sieger einzufühlen. Die Geschichte der Besiegten muss einer anderen Logik folgen als alle traditionelle Historiografie. Ihr geht es nämlich um Frakturen, Leerräume und Zäsuren, um den »Abfall der Geschichte«, sowie um das dialektische Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Benjamins Engel ist insofern der emblematische Prototyp des Entsetzens, welches mit dem neuen Geschichtsverständnis einhergeht. Die Trümmer, auf die er blickt, erhalten ihren Sinn aber erst durch unser gegenwärtiges Bewusstsein. Denn alle Geschichte, so Benjamin, als in einem Brennpunkt gesammelt, ruht in der Gegenwart als eines latent vollkommenen Zustands. Die weit aufgerissenen Augen des Engels bilden hierbei das Oneiroskop, dessen Brennweite insbesondere auf das 19. Jahrhundert eingestellt ist. Die unbewältigte Vergangenheit prägt die unmittelbare Gegenwart. Sie birgt den Sprengstoff, der zur Entzündung gebracht werden will, soll nicht nur der Dämmerzustand vorangegangener Generationen beendet, sondern auch die Gegenwart verändert werden. Die Jetzt-Zeit, so nennt sie Benjamin in seinen Thesen, ist die Schwelle, auf der wir innehalten müssen, um nichts verloren zu geben, um die Namenlosen nicht zu vergessen, das Unsagbare auszusprechen, das Anonyme.

Es geht Benjamin also um die Stillstellung der Gegenwart, um das, was er in Auseinandersetzung mit Brechts Vorstellung eines »Epischen Theaters« als »Eingedenken« bezeichnet. Dessen Intention ist ein geschärftes Bewusstsein für die Krisen, in die die Subjekte der Geschichte vor allem durch den Prozess der (europäischen) Moderne eingetreten sind. Eingedenken hebt in diesem Sinne ab auf eine die Gegenwart transformierende, sozialkritische Erinnerung. Im Eingedenken verschmelzen das paulinische ho nyn kairos mit der Apokatastasis pantou des Origines. Das heißt nichts anderes als dass mit Hilfe der Technik des Eingedenkens die Jetzt-Zeit herangeführt wird an die Wiederversöhnung des Menschen mit Gott. So ist die Idee der Apokatastasis zielführend bei dem Versuch Benjamins, die Überlieferung dem Konformismus abzugewinnen. Denn gerade der Konformismus steht für Benjamin im Begriff die Überlieferung zu überwältigen. Er spricht in diesem Zusammenhang von dem unwiederbringlichen Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu schwinden drohe. Daraus ergibt sich für ihn die Forderung, die Siege der Herrschenden infrage zu stellen.

»Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den fixen Punkt das 'Gewesene' und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewusstseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustellen ist Sache der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exemplarische Fall des Erinnerns: der Fall, in welchem es uns glückt, des Nächsten, Banalsten, Naheliegendsten uns zu erinnern. (…) Es gibt Noch-nicht-bewusstes-Wissen vom Gewesenen, dessen Förderung die Struktur des Erwachens hat.«

Diese Forderung ist auf wissenschaftstheoretischer Ebene gegen den Historismus gerichtet. Denn Empathie mit den Siegern bedeute Einwilligung in die herrschenden Zustände, die ihre Beute als Triumphzug mit sich führen. Diese Beute ist nichts anderes als die europäische Kultur, welche nicht ohne Grauen bedacht werden könne, sind die Dokumente der Kultur doch auch immer Dokumente der Barbarei. So lehrt die Tradition der Unterdrückten, dass der Ausnahmezustand die Regel ist. Es sei nun, so Benjamin, Aufgabe des Historikers, zu einem Begriff der Geschichte zu kommen, der diesem Zustand gerecht werde. Es gilt, aus dem 19. Jahrhundert, dass manch einer für modern hielt, aufzuwachen. Denn diese Moderne bleibt eine Traumform, eine Projektion auf Immergleiches, Uraltes, Archaisches, Mythisches. Dies ist die Urgeschichte der Moderne, die in den Augen Benjamins das phantasieloseste, aber faszinierendste Zeitalter war. Dem stellt Benjamin ein kommendes Erwachen gegenüber, das »wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traums« stehe. Ob ein solches Erwachen aus dem Traum und der Mythologie jedoch mit Hilfe der Mystik überhaupt möglich sein kann, wird allein der Leser von Benjamins Schriften beurteilen können. Dabei dürfte vor allem die Lektüre der kritischen Gesamtausgabe, die im Suhrkamp Verlag erscheint, eine entscheidende Hilfestellung bieten.
Jürgen Nielsen-Sikora

 



© Suhrkamp Verlag



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