Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 
 

Der Dramatiker der Moderne

Frank Wedekind zum 150. Geburtstag

Von Dieter Kaltwasser




 

Vielen seiner Zeitgenossen blieb Frank Wedekind ein Rätsel, der umstrittenste Schriftsteller in seiner Generation war er gewiss. Seine Werke werden bis heute kontrovers diskutiert. Die Literaturkritik vor allem tat sich schwer mit ihm. Wir kennen Wedekind als Dichter, Schauspieler, Kabarettist und Journalist, der in München für die satirische Wochenzeitschrift »Simplicissimus« schrieb. Mit seinen gesellschaftskritischen Theaterstücken kämpfte er gegen die Schule als Dressurort, die bürgerliche Fassadenwelt und sexuelle Prüderie, er gehörte zu den meistgespielten Dramatikern seiner Epoche. Seine Texte fielen der Zensur zum Opfer und wurden wegen ihres anstößigen sexuellen Inhalts als sittenwidrig angesehen und beschlagnahmt. Es kam zu Gerichtsprozessen, wegen Majestätsbeleidigung aufgrund eines Spottgedichts wurde er in Festungshaft genommen.

Frank Wedekind wird am 24. Juli 1864 in Hannover geboren, nachdem sein Vater Friedrich Wilhelm Wedekind nach fast zwanzigjährigem Aufenthalt in Kalifornien nach Europa zurückgekehrt ist. In der Schweiz geht er zur Schule, in dieser Zeit entstehen seine ersten Texte. 1884 geht Wedekind nach Lausanne und anschließend nach München, um Jura zu studieren. In den Jahren 1887 bis 1890 lebt Wedekind abwechselnd in Zürich, Berlin und München, wo er nun häufig das Café Luitpold besucht. Ab 1888, nach einer kurzen beruflichen Episode bei Maggi als Vorsteher der Werbeabteilung und abgebrochenem Jurastudium, arbeitet er als freier Schriftsteller in Zürich. Zwei Jahre später beginnt er die Arbeit an »Frühlings Erwachen«, in den 1890er Jahren entsteht nach und nach die Kunstfigur »Lulu«. Im Dezember 1891 reist Frank Wedekind nach Paris, wo er in einer Dachstube wohnt und mit seinem Freund, dem Komponisten Richard Weinhöppel, häufig das Moulin Rouge und ähnliche Etablissements besucht. In Paris beginnt er mit der Arbeit an seinem Drama »Lulu«, das ihn zur Recherche nach London führt, in die Stadt des Frauenmörders Jack the Ripper. Der Stoff wird später von Alban Berg zu seiner gleichnamigen Oper umgearbeitet, die den Wortlaut der Texte fast unverändert übernimmt. Frauen, Erotik und Sexualität sind Wedekinds Lebensthemen, sein Frauenbild jedoch bleibt widersprüchlich.

Zurück in München wird Wedekind Mitarbeiter der von Albert Langen herausgegebenen Satirezeitschrift Simplicissimus, allein im ersten Jahrgang 1896 erscheinen 24 Beiträge von ihm.  Er lernt Lou Andrea-Salomé, August und Frida Strindberg, mit der er eine Affäre und einen gemeinsamen Sohn hat, Thomas und Heinrich Mann sowie die legendäre Dame der Schwabinger Bohème, die überschöne Franziska zu Reventlow, kennen. Erst nach der Jahrhundertwende, die Wedekind in Festungshaft erlebt, feiert er seinen Durchbruch als Dramatiker.

1905 trifft er die um 20 Jahre jüngere Schauspielerin Tilly Newes, die in Graz die Rolle der Lulu probt. Die Heirat erfolgt ein Jahr später. Endlich gelingt auch der künstlerische Durchbruch mit der Berliner Uraufführung von Frühlings Erwachen unter der Regie von Max Reinhardt. Am 12. Dezember 1906 wird die Tochter Anna Pamela geboren, die Familie bezieht eine Wohnung in der Münchner Prinzregentenstraße. Die letzten zwölf Jahre seines Lebens verbringt Wedekind, trotz immer wiederkehrenden Krisen und Trennungsabsichten, Auseinandersetzungen und  gegenseitigen Kränkungen, an der Seite seiner über zwanzig Jahre jüngeren Frau Tilly, die ihn um mehr als ein halbes Jahrhundert überleben wird. Sein Enkel Anatol Regnier stellt in seiner 2007 erschienenen Biographie des Großvaters  die Diskrepanzen vor, die hervortreten, wenn private Aufzeichnungen und das Werk des Autors kontrastiert werden: "In seinen Tagebüchern scheint sich Wedekind von außen zu betrachten, sich selbst zu ironisieren. In seinen dichterischen Texten steigt er hinab in die Tiefen und Abgründe seines Wesens und zeigt sich in geradezu zwanghafter, vielleicht auch übertriebener Ehrlichkeit nackt."

Der Philosoph und Musiksoziologe Theodor W. Adorno fand 1932, 14 Jahre nach dem Tode des Schriftstellers, die berühmten Worte: »Wedekinds Dichtungen sind heute wie Chiffren ihrer selbst. Sie anzuschauen und sie verstehen ist eigentlich das gleiche. Darum taugen sie zur Erinnerung: die lautlose Bilderschrift des Jüngstvergangenen.« In dem Rundfunkvortrag beurteilt Adorno den Umgang der damaligen literarischen Öffentlichkeit mit Wedekind  als ein »Begräbnis erster Klasse« und beklagt das Fehlen der Stoffe Wedekinds ebenso wie seine Techniken, »als sei mit einem Mal den Menschen gänzlich gleichgültig, worum sie zuvor zitterten und ihre ganze Existenz angegriffen fühlten.« Wedekinds Dichtungen, so der Philosoph im hohen Ton Walter Benjamins, »schauen ihren Stoff, die Bürgerlichkeit der letzten Vorkriegsjahrzehnte, mit so starren, fremden, gleichsam hohlen Augen an, dass sie heute als vom gleichen Blick gedeutete sich kundgibt, die er vordem nur als erstarrende Fratze zu bannen schien«.  Adorno nennt  Wedekind einen Autor der literarischen Moderne, einen Vorläufer des Surrealismus und der Techniken Bertolt Brechts.

Theaterhöhepunkte der letzten vierzig Jahre sind zweifellos die Inszenierungen von »Frühlings Erwachen« durch das Berliner Ensemble am Theater am Schiffbauerdamm unter der Regie von Bernhard Klaus Tragelehn und Einar Schleef im Jahre 1974 sowie Peter Zadeks »Lulu« am Deutschen Theater in Hamburg 1988. Werke wie »Frühlings Erwachen«, »Erdgeist«, »Der Kammersänger«, »Marquis von Keith«, »Die Büchse der Pandora«, »König Nicolo«, »Musik«, »Franziska«  und »Lulu«, gehören zum Repertoire der Bühnen in der Gegenwart. Im Dezember 2013 sorgt die junge Autorin Helene Hegemann an der Kölner Oper für Furore. Die Pop-Autorin macht aus der 1908 erschienen Wedekind-Satire »Musik« eine Sadomaso-Groteske. Die Rockband Metallica veröffentlicht 2011 zusammen mit dem Ex-Velvet-Underground-Sänger Lou Reed eine CD namens »Lulu«, die von der Figur der »Monstretragödie« beeinflusst ist.

Frank Wedekind stirbt  am 9. März 1918 in München, auf dem dortigen Waldfriedhof wird er am 12. März unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt. Doch selbst seine Beerdigung gerät zu einer Theaterinszenierung; Skandal, Drama, Pathos und Peinlichkeit inklusive. Am offenen Grab werden Männern Hüte vom Kopf geschlagen. Thomas Mann tritt während der Grabrede seines Bruders, die ihn empört, die Flucht an. Bertolt Brecht reimt: »Sie standen ratlos in Zylinderhüten./ Wie um ein Geieraas. Verstörte Raben./ Und ob sie (Tränen schwitzend) sich bemühten:/Sie konnten diesen Gaukler nicht begraben.«

Artikel online seit 23.07.14

 

Literaturempfehlungen:

Anatol Regnier
Frank Wedekind. Eine Männertragödie
btb, München 2010.
464 Seiten
12,95 EUR
978-3-442-74094-9

Leseprobe

Anatol Regnier
Du auf Deinem höchsten Dach
Tilly Wedekind und ihre Töchter
btb, München 2005.
448 Seiten
10 EUR
978-3-442-72674-5

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste