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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 01.03.13

Von Quants und anderen Monstern

Frank Schirrmachers »Ego - Das Spiel des Lebens«
ist eine wilde Alarmmaschine und kapituliert allzu voreilig.


Von Gregor Keuschnig


 

 

Das Cover von "Ego - Das Spiel des Lebens" weckt Assoziationen an Mario Puzos Buch (und auch dem Film) »Der Pate«. Hier wie dort das Symbol der Manipulation: die Marionette. Am Ende zitiert Schirrmacher den französischen Schriftsteller Paul Valéry, dessen Figur Monsieur Teste die "Marionette" getötet hatte. Man muss genau lesen: Hier soll nicht die Marionette emanzipiert und von ihren Fäden befreit werden. Hier geht es um den Tod der Figur. Erst wenn diese tot ist, hat der Marionettenspieler keine Macht mehr. Das bemerkenswerte ist: Die Marionette sind wir selber bzw. das, was im Laufe der Zeit Besitz von uns genommen hat. Der Tod der Marionette ist, so kann man das interpretieren, die Exorzierung des Bösen in uns. Ob da der Satz Die Antwort war falsch als Slogan der Austreibung ausreicht?

Worum geht es? Schon früh das Bekenntnis, das Buch bestehe letztlich nur aus einer einzige[n] These, die des "ökonomische[n] Imperialismus": Damit ist gemeint, dass die Gedankenmodelle der Ökonomie praktisch alle anderen Sozialwissenschaften erobert haben und sie beherrschen. Den Keim für diese Entwicklung zum "Ökonomismus" (das ist meine Formulierung, die womöglich ungenau ist, aber vielleicht gerade in ihrer Vereinfachung vorübergehende Hilfestellung bietet) findet Schirrmacher im Erfolg der Spieltheorie, die, so die These, den Kalten Krieg sozusagen gewonnen habe. Als das planwirtschaftliche System obsolet wurde, ahnte niemand, welche Auswirkungen dies haben würde. Die Physiker wechselten an die Wall Street und implementierten die Logik des Kalten Krieges in die Maschinen, die dann ab den 1990er Jahre immer mehr den Privatraum der Menschen eroberten.

Der neue Kalte Krieg

Im Kalten Krieg galt das "Gleichgewicht des Schreckens". Wer den atomaren Erstschlag auslöste, musste damit rechnen, ebenfalls vernichtet zu werden. Zuerst zuschlagen hieß, als Zweiter vernichtet zu werden. Der Erstschlag bot keinen Gewinnanreiz. Dieses Szenario musste immer wieder neu angestrebt und als Prämisse etabliert bleiben bzw. werden. Damit war klar: Keiner würde riskieren, die Welt untergehen zu lassen, wenn er selbst dabei draufginge. Und das ist daraus nach 1990 geworden: Keiner wird riskieren, uns untergehen zu lassen, wenn wir dafür eine ganze Welt in den Abgrund stürzen, war 50 Jahre später nachweislich die Logik der Too-big-to-fail-Strategen von Lehman bis AIG.

Schirrmacher nennt dies pathetisch den neuen Kalten Krieg im Herzen unserer Gesellschaft, der nach dem Mauerfall zielgerichtet und lange Zeit unbemerkt vorbereitet wurde. Der bisher abgeschnittene Teil der Welt wurde sukzessive durch den neuen Informationskapitalismus erobert. Hierfür wurden Raubtieralgorithmen von den Quants (den Physikern des Kalten Krieges) entwickelt, verfeinert und in die Computersysteme implantiert. Inzwischen haben sich diese Systeme verselbständigt und optimieren sich unabhängig jeglichen Einflusses ihrer Schöpfer. Aus dem Homo oeconomicus des 19. Jahrhunderts, einem Wesen, das man nicht mehr durch diffuse Leidenschaften, sondern durch seine knallharten Interessen verstehen konnte, wird in der Gesellschaft des "ökonomischen Imperialismus", der alles zur Ökonomie machte in Verbindung mit dem Computer, diesem elektronischen Funken, der zwischen Maschine und Mensch übersprang ein Homunculus, der alle literarischen Monster (Frankenstein, Jekyll/Hyde) in den Schatten stellt. Schirrmacher scheut nicht vor der Vermenschlichung der Maschinen-Algorithmen zurück; er gibt ihnen ein Wesen (aber keine Seele). HAL9000, schon diffus in Payback aufleuchtend, ist Realität geworden. Der ökonomische Agent, eine Figur, die ausschließlich nach egoistischen Motiven handelt, wird ab sofort hyperventilierend "Nummer 2" genannt. Noch ist er abzugrenzen von "Nummer 1", dem echten Menschen mit Emotion, Kooperationsbereitschaft und Empathie. Aber "Nummer 2" nistet sich pandemisch in "Nummer 1" ein und lockt ihn mit falschen Versprechungen, sofern er sich rein ökonomistisch verhalte. Nummer 2 ist ein ideales, mathematisches Wesen, das gerne mörderische Spiele spielt. Man kann gut mit ihm rechnen, aber ziemlich schwer mit ihm leben. Er ist dabei nicht  v o r  dem Bildschirm, sondern  i n  der Maschine. Nummer 2, die soziale Programmierung des Menschen, habe nur zwei Gene: eines für Egoismus und eines für Profit (und vielleicht noch ein drittes für Angst). (Warum "vielleicht" ein drittes, wenn es zwei sein sollen?) Man möchte ihm antworten, dass es in Wirklichkeit nur eines ist: Diese Form des Profits um jeden Preis und der Egoismus sind die Doppelverglasungen des Fensters mit Ausblick auf die schöne, neue Huxley-Welt (schon in "Payback" sah Schirrmacher Huxley als wesentlich drohender an als Orwells "1984"). Am Ende des 20. Jahrhunderts, so Schirrmacher, operierte alles nach den Modellen der neoklassischen und neoliberalen Ökonomie. Und die Spieltheorie hatte es vermocht, selbst die zwischenmenschlichen Beziehungen nach diesem Bilde zu formen.

It's the economy, stupid

Schon will man widersprechen. Ist die Spieltheorie tatsächlich die Siegerwaffe des Kalten Krieges gewesen? Einflüsse werden in der Wissenschaft durchaus diskutiert. Aber wurde sie - wie damals so vieles - nur am Rande instrumentalisiert und ausprobiert? Aber man kommt nicht recht zur Ruhe in diesem Buch. Das Kontinuum vom Kalten Krieg zur Ökonomisierung der Gesellschaft reicht dem Autor nicht. Mit großem Furor jettet er wie die Hauptfigur in H. G. Wells Roman "Die Zeitmaschine" durch die Jahrhunderte und nahezu jeder Protagonist der Zeitgeschichte - ob Naturwissenschaftler oder Aufklärer - wird am Ende zum Baustein der Entwicklung, in der der Mensch des 21. Jahrhunderts Eloi und Morlock gleichzeitig ist. Damit werden nicht nur wir (die Zeitgenossen), die schon durch künstliche Monster zum Werkzeug degradiert sind, zur willenlosen Kreatur, sondern auch noch unsere Vorfahren, denn im Fortschritt der Jahrhunderte sind bereits die Wesensatome des Niederträchtigen implantiert und wachsen unausweichlich heran. So gebiert das fatalistische Weltmodell Schirrmachers en passant einen veritablen Geschichtsrevisionismus: Die Ökonomie, nicht die Philosophie und erst recht nicht die abstrakte "Aufklärung", setzte Technologie in soziale Organisation um. Wir ahnten es immer schon: It's the economy, stupid? Yeah!

Aber es bedurfte neben der Physik noch einer anderen Naturwissenschaft, das Lebewesen Mensch zu einer Fabrik für Egoismus zu machen - das übernahm die Biologie. Gemeint ist vor allem Richard Dawkins, einer von Darwins gefährliche[n] Schüler[n], die sich an 1976 mit den Thesen vom "egoistischen Gen" zu Zulieferern neoliberaler Ökonomen machte[n], die es dann flugs in die Spieltheorie einschleusten. Nach Ende des Kalten Krieges war der Weg frei. Das große Sozialexperiment mit dem Menschen der Zivilgesellschaft begann zuerst mit der Automatisierung des Parketthandels der Finanzmärkte. Schirrmacher vermisst die nicht mehr brüllenden Devisen- und Aktienhändler mit ihren allseits unverständlichen Geheimzeichen, die aber immerhin ein Gefühl einer möglichen Decodierung gaben. Es war ja auch zu schön, sie in Filmen wie "Wall Street" als Ureinwohner einer fremden, geheimnisvollen Welt bewundern zu dürfen, statt die inzwischen vor schaufenstergroßen PCs brütenden Schweiger, die man am besten (und am irritierendsten) mit protzig-unheilsschwangerer Wagner-Musik aus dem "Ring des Nibelungen" untermalen möchte (wenn sie nicht gerade ein Interview geben oder in einer Talkshow ihr Buch vorstellen).

Schirrmacher stellt klar: Es geht nicht um Psychologie (das war gestern), es geht um Analyse - und schließlich Infiltration. Das Problem ist, dass wir Zeugen eines Umbruchs werden, in dem […] Modelle die Wirklichkeit codieren und dadurch selbst wirklich werden. Dauernd weist er darauf hin, dass Nummer 2 nicht nur Beobachter, sondern immer auch Akteur ist, dessen Berechnungen zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, weil die Spieltheorie ist nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ. Sie postuliert nicht nur Egoisten, sie produziert sie. Nummer 2 handelt nicht mehr  i m  Markt, er  w a r  der Markt. Der Körper verschwindet in der Maschine. Einst als "Sklave" des Menschen gedacht, wird der Computer zum Herrscher desselben.

Nummer 2 ist davon besessen, die Spielzüge der anderen Seite vorauszusehen, zu reproduzieren und mithilfe des Nash-Gleichgewichts zu beantworten. Alle Resultate menschlichen Handelns werden darauf reduziert, ob sie dem jeweiligen Ich dienen. Es gibt, so die Theorie, kein altruistisches Verhalten mehr. Irgendwann kommt der Moment, in dem sich dieses Verhalten aus"zahlen" soll. Schirrmacher ist über diese Deutung immer wieder empört, plädiert in den seltenen Stellen die nicht deskriptiv sind, für die Unberechenbarkeit des Menschen und adelt ein bisschen naiv die menschlichen Schwächen zu Stärken (aber dazu später). 

Die Anthropomorphisierung

Inzwischen wurde die Mensch-Maschine-Kommunikation…von der Maschine-Maschine-Kommunikation abgelöst. Die Folgen sind paradoxerweise Unberechenbarkeiten - aber nicht von Menschen, sondern Maschinen, d. h. eines sich selbst überlassenen und ständig selbstoptimierenden Systems. Schirrmacher anthropomorphisiert permanent und spricht einmal sogar von annähernd biologische[n] Organismen.  Wäre es nicht so platt, könnte man Goethes Zauberlehrling als treffendes Bild zitieren. Die Deutung legt nahe, dass wir vom Zauberlehrling, dem die Codierungen abhanden gekommen sind zum schnöden Mitglied der Armee der wassertragenden Besen werden - oder bereits geworden sind.

Verharmlosung ist Schirrmachers Sache nicht und so muss die Skandalisierungsmaschine ständig am Laufen gehalten werden. Bis zum Zerreißen wird der Rekurs zum Kalten Krieg strapaziert: Nach einem 50 Jahre währenden Kalten Krieg zwischen einem sozialwirtschaftlichen und einem planwirtschaftlichen System, die beide über die Atombombe verfügten, befinden wir uns nach dem Ende des Kommunismus in einem neuen Kalten Krieg zwischen demokratischen Nationalstaaten und globalisierten Finanzmarktkörpern.

Dies hat naturgemäß Auswirkungen auf das Arbeitsleben der Menschen. Früher habe der Mensch seine Arbeitskraft "verkauft" - heute seine Seele, so die emphatisch-faustische Conclusio Schirrmachers und er fragt sich: Wie kann man auf Dauer ohne seelische Beschädigungen in einer Gesellschaft bleiben, die von jedem Menschen annimmt, er sei vernünftig, wenn er aus Eigennutz handelt? Es ist in Wirklichkeit eine Frage nach anderen Belohnungsmodellen als pekuniärer Natur. Aber diese Frage wird nicht gestellt; die Obsession will Futter, keine Rezepte.

In den besten Szenen des Buches führt die Spur von der manisch-besessenen Belegsuche in das Verräterische der Sprache. Etwa, wenn die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes "Risiko" herausarbeitet werden: Risiko, lautete die […] im Jahre 1921 formulierte Formel, ist etwas, an das man ein Preisetikett kleben kann. Risiko, sagten die Pokerspieler der RAND-Corporation, ist etwas, was man reduzieren kann, wenn man den Gegenspieler auf sein egoistisches Überlebensinteresse festnagelt. Risiko, sagten die Moody-Leute, ist etwas, für das der Preis so hochgetrieben werden muss, dass niemand es sich leisten kann, die Bombe platzen zu lassen. Oder auch wenn kurz über die Verheißungen der "Wissensgesellschaft" reflektiert wird: Die "Wissensgesellschaft" liebt immaterielle Güter und virtuelles Kapital, betreibt…die Entkleidung…Einzelner und ganzer Unternehmen, und ihr darwinistischer Evergreen heißt "lebenslanges Lernen". In Wahrheit bedeutet "lebenslanges Lernen" oft das Gegenteil dessen, was es suggeriert. Häufig genug geht es um die Fähigkeit, ständig zu verlernen, an was man noch gestern geglaubt hat, auch seine eigene Identität. Dabei ist der skandalisierend wirkende letzte Halbsatz eigentlich überflüssig - die Aussicht, sein Gelerntes in kürzester Zeit oft genug vergessen zu müssen, böte reichlich Stoff zur Diskussion (vielleicht läge hierin auch eine Chance zur Veränderung). Aber da ist der Autor ganz schnell wieder enteilt.

Der Vorletzte gewinnt das Spiel

Schirrmacher berichtet auch von einigen "schwarzen Schwänen" (Popper lässt grüßen), d. h. unbekannten und unkontrollierbaren Systemfehlern wie dem "Flash Crash" vom 6. Mai 2010, die kurzzeitig Kurse ins Bodenlose fallen lassen und die Agenten fassungslos auf ihre Maschinen blicken lassen. Diese Vorgänge seien ungeklärt, schreibt er und rührt ein bisschen in der Apokalypse-Trommel. Was wäre aber, wenn die gesamten Vermögenswerte auf der Welt plötzlich - und auch einmal dauerhaft - atomisiert würden? Eine theoretische Frage. Aber wie sieht es mit den Blasen aus, die es tatsächlich gibt? Für Schirrmacher sind es lediglich falsch eingesetzt[e] Informationen. Kann aber es nicht auch sein, dass die Modelle, die Berechnungen von Nummer 2, doch nicht derart antizipativ und analytisch sind, wie dies suggeriert wird? Denn sicher ist für ihn: Es handelt sich bei den krisenhaften Ausbuchtungen nicht um das Versagen Einzelner (Menschen). Denn die angeblichen menschlichen Schwächen sind ja für Schirrmacher Stärken. Was also, wenn diese Unberechenbarkeiten durch die "menschlichen Schwächen" – die ja Stärken sind – die algorithmischen Berechnungen konterkarieren? Da dies nicht sein darf - weil sonst das deterministische Weltbild angekratzt wird - kommt es nicht vor.

Und nur ganz am Rande werden die unterschiedlichen Modelle der Spieltheorie gestreift. Beispielsweise zwischen einmaligen und wiederholten Spielen. Zum einen gibt ein sogenanntes "One-Shot-Game". Hier wird ein Spiel simuliert, das es nur einmal gibt. Dies kommt dem Kalten Krieg sehr nahe. Grob gesagt bestand ja die Aufgabe darin, ein Gleichgewicht zu halten, damit das Spiel nicht fortschreitet bzw. endet. Eine andere Version geht jedoch von sich endlos wiederholenden Spielmöglichkeiten aus. Dies wären beispielsweise die Börsengeschäfte. (Daneben gibt es sehr wohl auch Spielmodelle, die kulturelle und soziale Parameter jenseits des reinen Egoismus-Denkens berücksichtigen.) Schirrmacher dämonisiert aber die Algorithmen und den implantierten Egoismus von Nummer 2 derart, dass dieser ohne Rücksicht auf die Verluste anderer agiere. Wenn er nun die Immobilienblase anspricht und die Perversion, die zur Verfügung gestellten Hauskredite noch als Aktiva verschleiert zu verkaufen, so bleibt die Frage, was passiert, wenn dieses Geschäft irgendwann an seine Grenzen kommt.

Hier zeigt sich, wie fragil der Vergleich zum Kalten Krieg und den spieltheoretischen Modellen ist. Damals wurde je nach Bedarf und Einschätzung aufgerüstet und es wurden Bomben gebaut. Schirrmacher schreibt, stattdessen würde heute Geld gedruckt. Aber dieses Verhalten ist doch nur eine rustikale Chemotherapie im Kampf gegen einen zäh sich weiter ausbreitenden Krebs, der den Körper, den er benötigt, am Ende zerstören wird. Und das hat wenig mit der Logik des Kalten Krieges zu tun (denn damals nahm man eben den finalen Crash gerade nicht in Kauf), sondern eher mit einem schnöden Schneeballsystem, dass nur darauf aus ist, am Ende Vorletzter zu sein, denn den Letzten "beißen die Hunde", d. h. der Letzte bleibt auf wertlosen Papieren sitzen. Im Kalten Krieg war dagegen auch der Vorletzte der Verlierer. Schirrmachers Kommentar hierzu ist unbefriedigend. Diffus rät er: Ein Systemfehler des Ausmaßes, mit dem wir heute zu tun haben, müsste eine große Revision einleiten. Aber wenn die Dominanz der Algorithmen bereits derart weit fortgeschritten ist - woher soll diese Revision kommen?

Die unterschätzte Politik

Den einzigen Mitspieler, der dies tun könnte, sieht Schirrmacher eher hilflos: die Politik, die sich spätestens seit 2008 im Irrflug befinde. Dabei wurden die Bedingungen für den Usurpator Nummer 2 weit vor 2008 geschaffen - und zwar von der Politik und nicht, wie Schirrmacher glauben macht, von den Kalten Kriegern um Reagan, irgendwelchen zu Quants mutierten Physikern, die vom Militär zur Ökonomie abgewandert waren oder Biologen, die glaubten egoistische Gene und Meme gefunden zu haben (die Hirnforscher ihre bunten MRT-Bildchen lässt Schirrmacher merkwürdigerweise unangetastet). Grandios unterschätzt Schirrmacher das, was man fast als "ökonomistische Wende" bezeichnen könnte und die in den angelsächsischen Ländern ihren Ursprung nahm und dann, zu Beginn der 00er Jahre nach Europa schwappte. Der erste Stein, der die Säulen der Neoklassik wieder errichtete, war die Aufhebung des Glass-Steagall-Paktesvon 1999 durch Bill Clinton. Dieses Abkommen war seit 1933 in Kraft und sah unter anderem und vor allem eine scharfe Trennung zwischen Investmentbanken und Geschäftsbanken vor. Die Aufhebung schuf nun die Grundlage für das, was dann Jahre später "systemrelevante Banken" genannt wurde. In wenigen Jahren waren derart große, eng und undurchsichtig miteinander verflochtene Banken entstanden, dass nicht nur die verhältnismäßig wenigen Spekulanten im Investmentbereich ihre Vermögen verlieren konnten, sondern auch Unternehmen und die Sparer der Mittelschicht. (Das die "Lehman"-Bank 2008 in die Pleite entlassen wurde, ging nur, weil es sich um eine reine Investmentbank handelte. Aber ihre Verflechtungen mit der übrigen Wirtschaft waren derart stark, dass längere Zeit ein Domino-Effekt drohte.) 

Spätestens ab Ende der 1990er Jahre wurden in Europa und den USA von der Politik die Schleusen für ein wirtschaftsliberales Modell gestellt, dass die Wohlfahrt großer Teile der Bevölkerung in die Hände von Unternehmen legte. Wenn es denen gut ginge, so die These, dann bliebe auch etwas für die Arbeitnehmer. Fords Spruch, dass Autos keine Autos kauften, wurde, polemisch formuliert, zum neuen Sozialstandard (insbesondere in den jungen osteuropäischen Demokratien). Die Deregulierung sollte verknöcherte Strukturen aufsprengen. Die Ineffizienz großer, staatlicher Institutionen galt als zu überwindendes Hindernis für den Wohlstand aller. Vergessen wurde dabei, dass auch große, private Institutionen bzw. Unternehmen ineffizient werden. Der Zeitgeist wehte das Ideal eines harmonischen Dreiklangs zwischen Ökonomie, Ökologie und Sozialdemokratie heran. 1998 stellten in 11 von damals 15 Ländern der EU Sozialdemokraten die Regierung. Der deutsche Bundeskanzler  schmückte sich mit dem Attribut "Genosse der Bosse". In atemberaubender Geschwindigkeit knüpfte Tony Blair in Großbritannien mit seiner "New-Labour"-Ideologie neue Fäden zum Thatcherismus der 1980er Jahre. Die USA bereiteten sich spätestens ab 2001 auf zwei Kriege vor, was am besten mit sinkenden Zinsen funktioniert. Fast "nebenbei" wurde die Binnenkonjunktur mit einem Bauboom angekurbelt. Vermutlich wurden jetzt erst die von Schirrmacher so gefürchteten Algorithmen implementiert. Aber vorher hatte die Politik gehandelt.

Natürlich passt die Politik als eher hilfloser Zuschauer besser in eine 300-seitige Verschwörungsschrift, deren erste Ausläufer bereits in "Payback" festzustellen waren. Indem Schirrmacher aber die Politik derart randständig behandelt, zeigt sich die Schwäche seiner Argumentation: Was Menschen geschaffen haben, können sie auch wieder abschaffen, resorbieren oder mindestens reglementieren. Niemand braucht einer Vision einer neuen Welt von, wie Schirrmacher die "Market-States"-Theorie von Philip Bobbitt übersetzt, in der aus Überwachungsstaaten Überwachungsmärkte werden, zu folgen. Computersysteme lassen sich, wenn sie nicht mehr umprogrammierbar sein sollten, vom Netz nehmen. Es gäbe andere Möglichkeiten, beispielsweise den Börsenhandel zu handhaben.

Einfach ausschalten

In die Niederungen dieser Überlegungen begibt sich Schirrmacher nicht. Das von Nummer 2 gekaperte Individuum ist das Fatum des modernen Menschen im 21. Jahrhundert. Jeder Mensch muss zum Manager seines eigenen Ichs werden wird da konstatiert und natürlich ist es der neue Kapitalismus, der es geschafft habe die Verantwortung auf das Ich der Menschen abzuwälzen. So bewege man sich ständig im Radarmodus, führe ein Leben wie ein Börsentrader, der menschliche Gedanken und Handlungen transmutiert in konsumierbare Stoffe. Jedes Kind weiß inzwischen Alles ist Geld. Wir finden uns wieder in einer Welt, die einem keine Chance gewährt, etwas anderes zu sein als eine Ego-Maschine, wenn er als rationales Wesen gelten will und am Gesamtkuchen ein kleines Stückchen abbekommen möchte. Die Frage, was geschehe, wenn die Systeme unsere Präferenzen nicht abbilden, sondern aktiv erschaffen, ist rhetorischer Natur – genauso wie Schirrmachers Antwort: Dann wäre technologischer Determinismus endgültig sozialer Determinismus geworden.

Gegen deterministische Sichtweisen lässt sich schwer argumentieren. Denn "wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel" (Paul Watzlawick zugeschrieben). Insofern erstaunt es nicht, dass Schirrmacher das vielbeschworene (und zuweilen medial reichlich strapazierte) "Primat der Politik" überhaupt nicht in Erwägung zieht; er dementiert es nicht einmal explizit. Stattdessen entwirft er gegen Ende nur recht schmallippig ein individuelles Aussteigermodell. Von der Grundannahme getragen, dass der Schalter, mit dem man seinen Computer und sein Handy anschaltet […] den elektrischen Funken, der Nummer 2 zum Leben erweckt entfacht kann der Ausweg nur darin bestehen, die Ökonomisierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrahteten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu trennen. Und vielleicht ist es ganz einfach: nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die Nummer 2 uns aufzwingt. Aber wenn die Vereinnahmung derart fortgeschritten, zum Teil sogar irreversibel sein soll wie behauptet wird, wie kann dann überhaupt eine Trennung durchgeführt werden? Und was, wenn das Refugium des Verweigerers, desjenigen, der nicht sein Handy auf Dauerbetrieb eingestellt hat, nicht davor schützt, von den weltweiten Spekulationen mittellos gemacht zu werden, und zwar in dem Moment, wenn das Finanzsystem zusammenbricht?

Wäre es tatsächlich unmöglich, dass die Ökonomisierung der Gesellschaft irgendwann wieder obsolet werden könnte? Wie lange dauern eigentlich Zyklen, die man, grob vereinfacht, Zeitgeist nennen könnte? Sind nicht die Verfechter der "Neoklassik" längst wieder auf dem Rückmarsch, weil sie die sozialen Verwerfungen nicht mehr kontrollieren können?  Indem Schirrmacher diese Fragen ausblendet und den Einzelnen als prädisponiertes Objekt eines Spiels definiert, dessen man sich maximal nur noch durch ausschalten entziehen kann (ohne dass sich damit tatsächlich etwas für ihn und seine Situation ändert), betreibt er selber eine jener selbsterfüllende Prophezeiungen, die er andererseits beklagt.

Es ist nicht nur die Krise des Finanzsystems, von dem wir reden, sondern eines kognitiven Systems, das zwischen Information und Wissen nicht mehr zu unterscheiden vermag, weil alles zu Spielzügen (oder Drehbuchszenen) geworden ist). Das ist die Quintessenz von Schirrmachers These. Dabei rekurriert er, wie sich am umfangreichen bibliografischen Teil zeigt, fast ausschließlich auf Quellen aus Großbritannien und vor allem den USA (erstaunlich, am Rande, dass von den 408 Quellenangaben 361 Kindle-Versionen sind, aus denen Schirrmacher zitiert – ein Technikfeind im klassischen Sinn ist Schirrmacher also nicht). 

Das gallische Dorf und Suhrkamp

Nach all diesem geballten Fatalismus ist es fast erstaunlich, dass Schirrmacher ein gallisches Dorf ausgemacht hat: Die große Transmutations-Maschine hat Deutschland noch nicht erreicht, aber nur  weil hier…die Realwirtschaft die Rolle der bodenständigen Vernunft spielen kann. Sonderbar dieser Rekurs auf die Bodenständigkeit der Vernunft – jene Vernunft, die ja in Angelsachsien schon durch hypertrophe Algorithmen in egomanische Aktion kanalisiert worden ist (sofern den die These stimmt). Schirrmacher sieht also in Deutschland durchaus eine Kultur des Verzichts auf Rendite zu Gunsten anderer, nicht sich direkt pekuniär niederschlagender Werte. Damit wird einem sofort klar, warum Schirrmacher Ende vergangenen Jahres mit enorm großer Vehemenz für die aktuelle Suhrkamp-Geschäftsführerin eingetreten war (Dies ist kein Schundroman, 20.12.2012 und Ein literarischer Stern soll verglühen, 27.12.2012). Ulla Unseld-Berkéwicz, die vor einigen Jahren im Feuilleton ob ihrer vermeintlichen Irrationalität(en) übel geschmähte, widersetzt sich der Forderung des Minderheitsgesellschafters Barlach nach einem auskömmlichen "Renditekorridor". Damit agiert sie ausdrücklich nicht nach dem Prinzip von Nummer 2. Für Schirrmacher ist dieses Verhalten ein Fanal.

Tatsächlich ist in den Medien weitgehend unberücksichtigt geblieben, dass der Suhrkamp-Verlag aktuell keine Kredite bei den Banken beansprucht, sondern im Gegenteil liquide Mittel auf Konten besitzt. In der Ansicht der Ökonomen der Neoklassik ist dies jedoch ein Makel: Der Verlag müsste nach ihrer Logik das Geld einsetzen und gegebenenfalls Kredite aufnehmen, um zu investieren oder - wie es Barlach suggeriert - ihn auszahlen zu können. Für Schirrmacher sind es Unternehmen wie Suhrkamp, die das Land vor der Auslieferung an die Ego-Monster bewahrt.

"Ego - Das Spiel des Lebens" ist ein hysterisches Buch geschrieben mit dem Vorschlaghammer eines grobschlächtigen Alarmismus. Damit bietet es sowohl den Verfechtern neoklassischer Finanzökonomie, euphemistisch (und damit falsch) als "neoliberal" oder auch nur "liberal" bezeichnet, als auch pseudo-avantgardistischen Intellektuellen, die die Aufklärung in Gefahr sehen (die sehen sie immer in Gefahr, wenn ihre Weltsicht nicht ausreichend kolportiert wird) breite Einfallstore. Allesamt feuern sie auf die (zahlreichen) weichen Flanken des Buches. Die einen entdecken am zwanghaft-reduktionistischen Festhalten an der Verbindung Kalter Krieg zum Ego-Kapitalismus über die Spieltheorie eine mehr als fragwürdige Kausalkette. Tatsächlich wurde der Kalte Krieg mit der reinen (algorithmischen) Spieltheorie nicht überwunden. Stattdessen wurden Verhandlungen,  Kooperationen und Abkommen zu einem essentiellen Bestandteil politischer (!) Entscheidungen. Unterschätzt wird auch die Attraktivität des Kapitalismus für diejenigen, die ihn gewaltsam entbehren mussten. Die anderen sehen wiederum ihr Märchenmodell vom "Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied" beschädigt, obwohl die entsprechenden Fußnoten eines solchen Systems sofern es zur alleinigen Maxime wird (nepotistische Netzwerkkommunikation in Eliten beispielsweise) im Buch gar nicht erst thematisiert werden.

Schirrmacher hält den Kapitalismus nicht per se für schlecht. Seine Kritik richtet sich auch nicht gegen den Homo oeconomicus auf dem Wochen- oder im Supermarkt. Sie richtet sich gegen den in der Gesellschaft drohenden, selbstverständlich gewordenen Diskurs, alles einzupreisen und zu ökonomisieren und egomanisches Verhalten als Selbstverständlichkeit und unausweichlich darzustellen und zu belohnen, soziales und kollaboratives dagegen eher abzustrafen (bzw. als zu langatmig zu verwerfen). Gegen ein Gemeinwesen, welches dem "Wettbewerb" alles unterwirft und in der sich Politik nach dem Marktverhalten ausrichtet. Sie richtet sich gegen die Nummer 2 in der Schul- und Universitätspolitik, in der Kultur, in der sozialen Interaktion zwischen Menschen.

Wer hier mit politischer Gesäßgeographie von "links" oder "rechts" kommt, hat nichts verstanden. Schirrmacher geht es um die Konservierung eines in Deutschland noch zum Teil sehr gut erhaltenen Kulturgutes: des Provinzialismus. So steht der deutsche, "vernünftige" ökonomische (und wohl auch politische) Provinzialismus, der Eigensinn des unternehmerischen Mittelstands, der sich nicht von smarten Universitätsjüngelchen in Renditekorridore zwängen lässt und die so oft verspottete Biederkeit der deutschen Politik für den Kontrapunkt zur "Brave New World" der Globalisierung, die Ulrich Beck noch 2007 so wunderbar naiv zähmen und in einen globalen Kosmopolitismus mit (deutschen) Sozialstandards überführen wollte.

Schirrmacher erzeugt mit den rhetorischen Mitteln der neurotischen Überreizung ein eher unelegantes, dystopisch-deterministisches  Verschwörungs-Narrativ, aber es kann nicht jeder ein Umberto Eco sein. Womöglich dient die überbordende, auf Dauer ermüdende Paranoia (dem Kalten-Krieg-Denken der 1950er/60er Jahre gelegentlich nicht ganz unähnlich) als rhetorischer Trick. Aber wenn es dann heißt, am Ende könne es sogar nur ein falscher Tweet sein, der alles aufs Spiel setzen vulgo: das Leben ruinieren kann, vermag man nur noch den Kopf zu schütteln.

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Frank Schirrmacher
Ego
Das Spiel des Lebens
Blessing Verlag
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag,
352 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-89667-427-2
€ 19,99

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