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Das
Subjekt in der Aura seiner Damaligkeit |
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»Hier war nichts zu erfinden. Ich konnte nichts erfinden«, so Peter Handke 2009, 46 Jahre nach der Veröffentlichung von »Wunschloses Unglück«, in der er das Leben und schließlich den Freitod seiner Mutter nach-erzählte. Handke gab in diesem Buch das abstrakte Erzähler-Ich zu Gunsten des eigenen, konkreten »Sohnes-Ichs« auf. Wenn das Dichter-Ich mit dem Erzähl-Ich (nahezu) verschmilzt, entfällt (weitgehend) die Suche des Lesers nach den Bestandteilen des Dichter-Ich in den Figuren. Durch diese Distanzverschiebung (gelegentlich sogar: Distanzlosigkeit) entsteht eine fast atemberaubende Unmittelbarkeit. Die Kritik nennt so etwas vielleicht »radikal subjektiv« oder – ein Modewort – »authentisch«. Beides sind Etiketten – für Flaschen nützlich, für Literatur eher ungeeignet. Für den Schriftsteller ist das Risiko eines solchen unmittelbaren Erzählens recht hoch. So drohen beispielsweise Selbststilisierungen, Verklärungen und Larmoyanz. Gleichzeitig liegt der Autor offen und ungeschützt auf einem Seziertisch, was an eine Unterwerfungsgeste im Tierreich erinnert, wenn beispielsweise ein Wolf seinem Rivalen die Kehle anbietet – und gerade dadurch die Beißhemmung beim anderen ausgeschaltet wird. Auch »Herkunft« von Botho Strauss ist ein solches Buch, in dem der Autor den Lesern die Kehle anbietet. Die Fusion von arriviertem Schriftstellers und Erzähler-Ich liegt auf der Hand: Geburtsjahr, Flucht aus Naumburg in der DDR nach Bad Ems und auf Seite 48 fällt sogar der Name »Strauss«. Die unleugbaren Übereinstimmungen (ver)führen dazu, »Herkunft« als originär autobiographischen Text von Botho Strauss zu lesen. Dieser lässt aber nicht nur seine Sozialisation Revue passieren, sondern befragt immer auch die Quelle hierzu, was dem Titel »Herkunft« eine schöne Doppeldeutigkeit verleiht: Zum einen geht es um die Her- bzw. Abkunft eines gewissen Botho Strauss, seines Zusammenlebens mit den Eltern in Bad Ems, seinen Begegnungen mit Mitschülern, Lehrern, der Literatur und dem Theater. Und zum anderen wird auch die »Herkunft« dieser Reminiszenzen, die Erinnerung, selber zum Gegenstand der Erzählung. Der Vater als Hauptperson Die Hauptperson in Strauss' Buch ist der Vater, Jahrgang 1890, der namenlos bleibt. Er zog freiwillig in den Krieg, wurde 1916 schwer verwundet und verlor ein Auge. Zeit seines Lebens mit diesem Handicap ausgestattet, werden Form und Haltung zu wichtigen Lebensmaximen, auch um den ungeliebten Beruf (ein Studium kam nicht infrage) ertragen zu können. So erzählt der Sohn die ausgiebige Morgentoilette, die sorgfältige Kleidung, der bis in Kleinigkeiten ritualisierte Tagesablauf des Vaters; in diesem Fall noch mehr als sonst ein Ausdruck des Wunsches, angekommen zu sein. Denn mit 60 begann der Vater, wie Strauss sich ausdrückt, noch einmal von vorne: Flucht nach Westdeutschland (im Osten wurde er unter dem fadenscheinigen Vorwurf des Zuckerschmuggels interniert), neuer Beruf als Gutachter für die Pharmaindustrie, neuer Lebensort. Und das alles mit Familie. Sogar ein Sachbuch erscheint (Nicht so früh sterben!); die 2. Auflage ist der ganze Stolz. Der Vater verehrt Thomas Mann, ist literarisch interessiert und umfassend gebildet, schreibt auch selber und der Sohn wird später leiden, wenn ihm seine satirischen Texte vorgelesen werden, was wiederum den alten Herrn kränkt. Mit großer Empathie schildert Strauss die sich im Verlauf der Jahre immer stärker entwickelnde Misanthropie des Vaters, seine Abscheu vor der Masse. Er bleibt ein Mann des 19. Jahrhunderts; mit der Neuzeit kann er wenig anfangen. Eigentlich konservativ, hat ihn der Krieg zum Pazifisten geformt. Für die Nazis empfand er zeit seines Lebens Abscheu. Umso rätselhafter viele Jahre später eine Entdeckung des Sohnes, der aus einem der Fachaufsätze des Vaters während des Dritten Reichs eine (nur eine) nazifreundliche Stelle findet. Der kühle Blick auf die Mutter Strauss' Blick auf den Vater ist von Zartheit und Liebe, teilweise sogar Sehnsucht geprägt. Zuweilen phantasiert er dessen Gegenwart, sieht ihn physisch vor sich. Sehr sparsam und fast kühl dagegen Strauss' Erinnerungen an seine Mutter, zwanzig Jahre jünger als der Vater. Bis auf eine etwas längere Stelle wird die Mutter als Greisin beschrieben, die ins Altenheim verbracht werden soll; eine Frau, die weitgehend von den anderen unbeachtet wird und selber verstehensmüde ist. Nur noch mit Mühe kann er die umsorgende, quirlige Mutter seiner Kindheit herbeiphantasieren. Selbst einige Lehrer bekommen rückblickend mehr Widmung. Diese waren, so erfährt man, in den 1960er Jahren in Ems noch ehrfurchtgebietend, lüpften den Hut zum Gruß, pflegten einen »Comment«, beteiligten sich am gesellschaftlichen Leben - kurz: es war eine Atmosphäre, die an die »Feuerzangenbowle« erinnert, zumal Strauss sich einmal wünscht, wieder Schüler zu sein und mit sich in einen Selbstdialog tritt: [M]öchtest du noch einmal im Einst-Weltlein leben? Ja, würde ich rufen, sofort! Aber nur so, daß ich es nie wieder verlassen müßte und mir sämtliche erworbene Erfahrung und Entwicklung gelöscht würde. Wirklich? Aber nein. Würdest du tatsächlich in die komplette erinnerungslose Realität deiner Frühe versetzt, so ginge es dort gar nicht besonders lieblich zu. Und dann das Eingeständnis der unschuldigste[n] Verzweiflung, des harten Unglücks in der Unruhe…des Aufwachsens. Kurz zuvor eine ähnliche Phantasie. Als Strauss seine aufkeimende Jugendlieben zur Musik, Literatur und vor allem zum Theater, jenem Ort, wo zuerst der Atem stockte rekapitulierte und sich als Oberschüler mit geschliffenem Urteil sah, wünschte er plötzlich nur einen Bruchteil dieser Unerfahrenheit, dieser fröhlichen Altklugheit des Novizen für das Heute zurück. Noch einmal diese Naivität von damals, die so schnell Begeisterung und Leidenschaft entzünden konnte. Etwas, was sich sicherlich jeder schon einmal ersehnte. Aber diese Zeit des mannigfachen, kindlichen Staunens – sie kehrt nicht mehr zurück. Montage von Erinnerungstexten Woher rühren diese melancholisch-heiteren Ausflüge in die Vergangenheit? Man muss sehr genau lesen, um festzustellen, dass es sich um eine kunstvolle Montage aus Texten handelt, die zu unterschiedlichen Zeiten verfasst wurden. So gibt es an zwei Stellen eindeutige Datierungen auf den 9.4.1990, dem 100. Geburtstag des Vaters, der damals 19 Jahre tot war. Da Strauss zu diesem Zeitpunkt aber erst 36 Jahre alt ist, wirken die Bemerkungen über das eigene fortschreitende Alter, die sich immer wieder finden, kokett, bis man erkennt, dass es mindestens noch eine andere Zeitebene geben muss. Festmachen lässt sich dies indirekt, etwa wenn von den vergangenen sechzig Jahren die Rede ist, in denen er, der Verfasser, täglich…in Friedenszimmern gesessen und Friedensaussichten genossen hat, während anderswo asymmetrische Kriege tob(t)en. Oder wenn er die Mutter vor sich sieht, wie sie vor fünfzig Jahren die Wäsche für einen Ausflug des Jungen gepackt hat. Das ist deutlich nach 1990, zu einer Zeit, als die Auflösung der elterlichen Wohnung anstand.
Das für den Leser zum Teil schwer zu erkennende Verbergen der jeweiligen Zeit-/Reflexionsebene verschafft dem Text wieder Distanz und Künstlichkeit. Der Satz Wer seine Erinnerungen erzählt, befindet sich nicht mehr im Zustand der Erinnerung kann man als die Programmatik für dieses Verfahren sehen. Die Erinnerungen von 1990 bzw. um 2005 werden aufs Kunstvollste miteinander verquickt. Dabei liegt die Ordnung der Erinnerungen jenseits erkennbarer »Fakten« oder »Daten«, was durch die freien Assoziationsketten, die sich jeder Chronologie entziehen, noch verstärkt wird. Im Jahr 2014 publiziert sind es dann Erinnerungen an Erinnerungen. Das ist ein anderer Text, als hätte Strauss (oder der Ich-Erzähler) dies erst 2014 aufgeschrieben. Auf diese Weise bekommt das mit seinen nur 96 Seiten eher schmale Buch eine zusätzliche Dimension. Am Ende beginnt man sofort noch einmal zu lesen und entdeckt Zusammenhänge, die man vorher nicht beachtet hatte, aber mit der zweiten Lektüre eine signifikante Bedeutung erhalten. Das Scheitern als Fatum Schließlich zieht Strauss Bilanz, entdeckt im lange[n] stolze[n] Weg der Verbitterung des Vaters ein Kontinuum, wenn nicht gar Fatum innerhalb der Familie: Den Vater und mich verbindet so etwas wie eine bürgerliche Moral des Scheiterns, das über Generationen sich fortsetzt… Da spielen die dann doch unterschiedlichen Lebenserfahrungen zwischen Vater und Sohn keine Rolle. Entscheidend ist, dass beider Ideale keine Entsprechung in der aktuellen Zeit mehr finden. Wie der Vater mit der modernen Welt nicht zurechtkam, so auch schon das Kind (und, wie sich immer wieder an Kleinigkeiten im Buch zeigt, jetzt der Erwachsene). Es beginnt bei der Einschulung im Gymnasium in Ems. Er musste alleine vor der ganzen Klasse vorsingen, wurde ob seines Namens verhöhnt. Welche Beklommenheit, die sich im Leben niemals wieder legte. Nur die Erinnerung der Formung zur Kunst vermag den Prozess des dauerhaften Aus-der-Welt-fallens nachträglich in milderes Licht zu tauchen. Und mit welcher Begeisterung werden die Erinnerungen an Theaterinszenierungen und – vor allem – berühmte, heute längst vergessene oder später vom Fernsehen korrumpierten Schauspieler evoziert, die Namen gesucht und gefunden.
Aber »Herkunft« ist nicht nur Evokation, sondern auch ein veritabler Essay über das Erinnern. Wie entsteht dieser Zoom in der Zeit? Welches sind die Bilder, die in unserem Leben ein eigenes Wachstum haben, indem sie sich selber niemals ganz der Wahrnehmung öffnen? Dabei wird klar: Nichts ansehnlich mehr…als was nicht die Augen der Herkunft sehen. Die Augen der Herkunft, der kindlich-jugendliche und sich immer verflüchtigende Blick verzaubert Personen, Gegenstände, Ereignisse. Danach gibt es nichts mehr Vergleichbares. Nennt man diese Kraft 'Erinnerung'? Nein, ein zu possierliches Wort. Strauss findet eine andere Definition, in dem er abstrahiert: Das Subjekt tritt in die Aura seiner Damaligkeit. Was war, überkommt es wie ein Anfall. Es ist ja kein ruhiges Tal, in das man besinnlich hinabschaut. Was war, liegt immer über dem gegenwärtigen Standpunkt. Ein unbezwingliches Reich, das keine Aufklärung je erobern könnte. Und ein andermal heißt es fast schon (alters-)sentimental: Man erinnert sich einer Zeit, da man noch den Schutz der Zukunft genoß: die Dinge, wie man ihnen auch begegnete, sie standen bevor. Das Einst-Weltlein zeigt sich nicht im rühr- oder bierseligen Weißt du noch? Das Gegenteil ist der Fall. Erinnerung wird zur dionysischen Erregung. Gelegentlich wird dies im Text mit Ach und Oh dezent unterstrichen. Beantwortet wird auch gleich die Frage nach der »Wahrheit« von Erinnerung (und en passant auch von Literatur): Die Überwältigung der Damaligkeit ist wahrhaftig. Die Aufgabe des Schriftstellers liegt in der Zähmung der Erinnerung, einer Dressur der Wehmut. Schon aus Gründen des Selbstschutzes. Das grandiose Buch endet mit einer nouveau-roman-ähnlichen Beschreibung des Briefbeschwerers des Vaters im speziellen und einer kurzen Betrachtung über die ideale Form von Briefbeschwerern im Allgemeinen. Hier bekommt der wohlbedachte, im Buch subkutan injizierte Hang des Autors zum Anachronismus noch einmal Raum und feiert die untergegangene Welt seiner Herkunft (ganz ohne Weh- oder Schwermut). Strauss lässt keinen Zweifel daran: Der Mann nach altem Ibsen-Format, der zu lieben und zu hassen vermochte – dieser Volksverächter mit törichten Verblendungen, der sein Vater war, das ist er eben auch selber - qua Herkunft. Es ist nur folgerichtig, wenn der letzte Satz feststellt, dass am nächsten Tag das Zuhause aufgelöst wird, nachdem am Ende des ersten Kapitels noch die Kindheit entrümpelt wurde. Beides ist für Strauss nicht zu trennen: die Kindheit bleibt das Zuhause – mit der Auflösung der elterlichen Wohnung kann sie nur noch durch die Verschriftlichung, durch die Literatur erhalten werden. Aber dieses Buch ist mehr als nur ein Archiv des Erinnerns. Es ist Botho Strauss' brillante wie eindrucksvolle Beschwörung und Manifestation seines So-Seins. Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.Artikel online seit 14.11.14 |
Botho Strauss |
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