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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit18.09.13
















Foto: smalltown box GNU-Lizenz für freie Dokumentation

»Mein Lieber, Sie hören die Glocken,
aber Sie wissen nicht, wo sie hängen.« MRR







Mythen befragt man nicht

Ein Nachwort auf Marcel Reich-Ranicki

Von Gregor Keuschnig


Foto: Andrea Diener
 

Die Lebensgeschichte von Marcel Reich-Ranickis Jugend und den ersten Erwachsenenjahren ist schrecklich. Er hat sie einfühlsam im ersten Teil seines Buches "Mein Leben" beschrieben. Im zweiten Teil schilderte er dann sein Engagement in der deutschen Literaturszene. Hier bleibt vor allem noch die Erinnerung an das Kapitel, in dem der damalige Herausgeber der FAZ, Joachim Fest, ihm, den Holocaust-Überlebenden, auf einer Feier Albert Speer, Hitlers Baumeister, vorstellte. In dieser Szene, in diesem Moment der Empörung ob dieses Vorgangs dieser Bestie auf einer Feier einfach vorgestellt zu werden war ich eins mit Marcel Reich-Ranicki.

Er liebte die deutsche Literatur derart, dass die Greuel der Nazizeit, die er am eigenen Leib erfahren hatte, dies nicht haben verhindern können. Hierin liegt seine großartige Leistung: Marcel Reich-Ranicki lebte für und in der Literatur. Es war vor allem die Literatur Thomas Manns, die zur Richtschnur seiner Ästhetik wurde. Natürlich auch die Klassiker. Kaum etwas anderes ließ er zu. Die zeitgenössische Literatur, die nicht wenigstens annährend in diese Richtung tendierte, hatte bei ihm keine Chancen. Das galt insbesondere für die aktuelle deutschsprachige Literatur. Manchmal erkannte er Schriftsteller in ihren Erstlingen. Danach fanden sie in den seltensten Fällen noch Gnade bei ihm. Grass und Walser – sie (und viele andere) sind verzweifelt an der Betonwand Reich-Ranicki. Wenn er nicht mehr weiter wusste, wurde Reich-Ranicki immer persönlich, schrieb oder sprach zum Beispiel von seiner Langeweile, als sei die ein literarisches Kriterium. 1968 hatte der junge Peter Handke Reich-Ranicki als den "unwichtigste(n), am wenigsten anregende(n), dabei am meisten selbstgerechte(n) deutsche(n) Literaturkritiker seit langem" bezeichnet. Der Österreicher kam von nun an beim "Literaturpapst" (er ließ diese Lächerlichkeit zu, obschon er pro forma immer Einwände erhob) nie mehr gut weg.    

Mit dem "Literarischen Quartett" trivialisierte Reich-Ranicki die Literaturkritik auf Facebook-Niveau: Daumen hoch - oder Daumen runter. Die gnadenlose Vereinfachung dominierte. Hier und da entdeckte er auch neue oder alte Schriftsteller. Aber es gab auch Ausfälle. Grass' Buch "Ein weites Feld" zerriss er demonstrativ auf dem "Spiegel"-Titel. "Der nächste Fall" – so lautete mehr als einmal eine Überleitung zur Besprechung eines neuen Buches in seiner Sendung.

Man mache sich nichts vor: Reich-Ranickis Ruhm gründet sich vor allem darauf, dass so viele von Literatur noch weniger verstanden und verstehen als er. In Hans-Werner Richters Tagebuchaufzeichnungen ist sehr schön aufgeführt, wie er und seine Freunde Walter Jens und Joachim Kaiser nach kurzer Zeit die Diskurshoheit in der Gruppe 47 übernahmen. "Frechheit siegt" – so könnte man es nennen. Nach der Lesung meldeten sich nicht mehr die Schriftstellerkollegen zu Wort, sondern die Kritiker spielten sich die Bälle zu. Mit dem Ruhm des Teilnehmers der Gruppe 47 alimentierte Reich-Ranicki von nun an seinen Ruf. Es gibt unzählige Kritiken von ihm, literaturwissenschaftliche Arbeiten jedoch eher wenige. Darin unterscheidet er sich beispielsweise vom jüngeren Fritz J. Raddatz. Wenn man jetzt liest, dass Reich-Ranicki der größte Literaturkritiker war, frage ich mich schon, nach welchen Kriterien da geurteilt wird. Natürlich war er längst zum Mythos geworden und Mythen befragt man nicht. Im Betrieb selber war er eine Macht; sich mit ihm zu überwerfen, konnte negative ökonomische Folgen haben. Medien lieben zugespitzte Formulierungen. Für den Meta-Diskurs in den Medien war Reich-Ranicki eine Idealbesetzung. Was bedarf es da noch Begründungen?

Vor vielen Jahren war ich auf einer Veranstaltung mit Marcel Reich-Ranicki. Er wurde interviewt von Volker Hage, wobei "Interview" oder "Gespräch" die Sache nicht traf. Hage war Stichwortgeber, "Sidekick" nennt man dies heute. Ich weiß nicht mehr, was Reich-Ranicki damals alles so sagte. Ich war dort, um mich mit einem Freund zu treffen. Als die Veranstaltung zu Ende war, signierte er noch ein paar Bücher. Und plötzlich stand er ganz alleine in einem Raum; alle anderen standen in Grüppchen. Ich sah in sein Gesicht und er wirkte nicht wie ein glücklicher Mensch in diesem Augenblick. Er war alleine. Jetzt merkte man, dass man eine Show gesehen hatte. Und ich überlegte, ob Reich-Ranicki vielleicht nicht nur ein großartiger Schauspieler einer Figur war. Einer Kritiker-Figur. Und ob dies dann nicht eine tragische Figur wäre.

Der Kritiker Reich-Ranicki hat mir wenig gesagt. Es reicht mir nicht, wenn ein Kritiker immer wieder nur seine persönlichen Befindlichkeiten auspackt. Als Mensch habe ich ihn geachtet und wertgeschätzt.

 


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