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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 












Wie gerecht ist unsere Gesellschaft?

Thomas Piketty sucht in seinem Buch nach Regelmäßigkeiten
im Kapitalismus mit Hilfe einer schier unglaublichen Fülle
empirisch erhobener Daten. Das Zahlenwerk ist zugleich
die Suche nach einem Gesetz der Geschichte und einer
Weltformel für die Ökonomie.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Polarisierung

Über 800 Seiten, ein rotes Lesebändchen, goldfarbene Buchdeckel. Schon die Optik zeigt an: Ein wichtiges Buch. Und es trifft den Zeitgeist. Kaum ein anderes wissenschaftliches Werk dieser Tage hat so großen Erfolg wie Thomas Pikettys Buch über das Kapital im 21. Jahrhundert. Nobelpreisträger Paul Krugman und der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Josef Stiglitz, lobten Pikettys Werk als Meilenstein der Politischen Ökonomie, obwohl sie selbst darin als Wirtschaftsnostalgiker abgekanzelt werden.

Woher rührt die große öffentliche Aufmerksamkeit? Seit der Finanzkrise 2008 und dem medialen Erfolg der Occupy-Bewegung 2011 ist die Diskussion über soziale Ungleichheiten, über die Schere zwischen Arm und Reich, über Spekulationsgeschäfte, Freihandelsabkommen und den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik in vollem Gange. Der immer wieder erhobene Vorwurf lautet: Es gibt eine unverhältnismäßige Konzentration des Kapitals in den Händen weniger Menschen. Reichtum und Armut bedingten sich wechselseitig, getreu Brechts Anklage des armen Mannes: »Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.«

Pikettys voluminöses Buch liefert dieser Debatte neuen Zündstoff und stellt die Frage nach dem Zusammenhalt der modernen Gesellschaft angesichts der ungleichen Verteilung von Vermögen: »Den an Vermögen ärmsten 50% gehören stets weniger als 10%, ja im Allgemeinen weniger als 5% des Nationalvermögens.«

»Das Kapital« möchte insofern einen Beitrag »zur Bestimmung der sozialen Organisationsformen, Institutionen und Politiken« liefern, »die am besten geeignet sind, eine gut funktionierende gerechte Gesellschaft zu schaffen.«

Pikettys zentrale These lautet, ein scheinbar geringer Abstand zwischen Kapitalrendite und Wachstumsrate habe »langfristig sehr große und destabilisierende Auswirkungen auf Struktur und Dynamik der Ungleichheit in einer Gesellschaft.«

Kapitalismus=Ungleichheit?

1971 in Clichy bei Paris geboren, war Piketty  zunächst Assistenzprofessor am renommierten Massachusetts Institute of Technology und arbeitet derzeit an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sein Buch erschien im Herbst 2013 auf Französisch. Doch erst die englische Ausgabe im Frühjahr 2014 erregte öffentliche Aufmerksamkeit und entfachte einen intensiven Streit zwischen den verschiedenen Lagern der Ökonomen.

Was war passiert? Thomas Piketty sucht in seinem Buch nach Regelmäßigkeiten im Kapitalismus mit Hilfe einer schier unglaublichen Fülle empirisch erhobener Daten. Das Zahlenwerk ist zugleich die Suche nach einem Gesetz der Geschichte und einer Weltformel für die Ökonomie. Die zentrale Frage darin lautet: Führt der Kapitalismus zwangsläufig zu mehr Ungleichheit? Zwecks Beantwortung der Frage untersucht Piketty zunächst die Transformation des Kapitals in Frankreich und Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert und weitet diese Untersuchung anschließend auf andere europäische Länder aus. Zum Teil bedient er sich dort, wo keine oder kaum Daten vorliegen, Schätzungen, die laut Tabellen bis ins Jahr 0 zurückreichen. So greift er auch auf Romane von Jane Austen und Honoré de Balzac zurück, um an brauchbare Zahlen zu gelangen. Ob es jedoch sinnvoll ist, auf die Nudelfabrik von Père Goriot und die Plantagen von Sir Thomas zu blicken, um ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu berechnen, sei dahingestellt. Sein Fazit jedenfalls lautet: Zwar habe sich die Form des Kapitals völlig verändert, aber seine Bedeutung sei ungebrochen. Charakteristikum des 20. Jahrhunderts sei der maßgebliche Strukturwandel der Verteilung von Reichtümern in den Industrieländern und die Heraufkunft einer »vermögenden Mittelschicht« gewesen.

Ein neuer Marx?

Eine wirklich neue Erkenntnis ist das allerdings noch nicht. So diskutiert schon Marx, mit dem Piketty zuletzt oft verglichen wurde, in seinem »Kapital«-Buch, das zum Jahresende 1867 erschien, ebenfalls die Entstehung, die Organisation und die Gesetze der Ökonomie des 19. Jahrhunderts mit vergleichbaren Ergebnissen. Marx legt jedoch in erster Linie eine kritische Anatomie der Bourgeoisie vor. Für ihn ist die politische Ökonomie das Skelett der bürgerlichen Gesellschaft, ohne das sie zusammenbräche. Die Bourgeoisie hat grundsätzlich neue Bedingungen der Unterdrückung geschaffen, indem sie Kapital akkumuliert und durch diese Akkumulation eine Akkumulation des Elends auf Seiten der Arbeiter in Kauf genommen hat. Deshalb wachse die Widerwärtigkeit der Arbeit, wohingegen der Lohn abnehme. Je mehr das produktive Kapital wachse, desto mehr Arbeitsteilung gebe es. Dies führe zu einer schärferen Konkurrenz unter den Arbeitern, so dass sich der Lohn letzten Endes zusammenziehe. Marx´ Forderung ist deshalb die Abschaffung des Privateigentums.

Der Kapitalismus unserer Tage ist hiermit nur bedingt zu vergleichen. Denn er ist zwar noch gekennzeichnet vom Wert der Unternehmen, von Immobilien und Grundstücken einerseits, doch andererseits spielen weltweit zirkulierende Wertpapiere, Aktien, Anleihen, Derivate und Guthaben eine weit wichtigere Rolle für das Wohl und Weh der Gesellschaft als in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Kapital wächst im 21. Jahrhundert dank Renditen, Mieteinnahmen und Zinsen. Eine Reinvestition des Kapitals käme der Volkswirtschaft insgesamt zugute, doch inzwischen wird mit Kapital verstärkt an den Finanzmärkten spekuliert. Die Folgen hat bereits Robert Castel in seinem Buch über »Die Krise der Arbeit« geschildert: Ein nahezu völliger Verfall von Arbeit und sozialer Sicherheit. Labor ipse voluptas ist das Ideal längst vergangener Tage. Denn der Staat, so Castel, kann seine Doppelaufgabe als Rechts- und Sozialstaat gar nicht mehr garantieren. Doch diese Garantie ist die Grundvoraussetzung zur demokratischen Regulierung einer Gesellschaft von Individuen. In diese Richtung zielen auch Pikettys historisch unterfütterte Ausführungen.

Die Rückkehr des Kapitals im 21. Jahrhundert

Wie schon für Marx, so gehören für Piketty ökonomische Modelle und geschichtswissenschaftliche Analyse untrennbar zusammen. Aus seinen durch historische Aufarbeitung gewonnenen ökonomischen Daten schlussfolgert er im Kern eine altbekannte Formel der Volkswirtschaft. Sie lautet: r>g. Das bedeutet, die Kapitalrendite r ist höher als die Wachstumsrate g. Kapitalerträge wachsen langfristig stärker als die gesamte Volkswirtschaft. r>g heißt, »dass die Vergangenheit sich anschickt, die Zukunft zu fressen. Die aus der Vergangenheit stammenden Reichtümer vermehren sich ohne Arbeit schneller als Reichtümer, die durch Arbeit geschaffen und angespart werden können.« Die Ungleichverteilung ererbten Kapitals, die Kapitalrenditen und die extreme Lohnungleichheit seien die fundamentale Triebkraft einer Divergenz. Sie führe in the long run dazu, dass Kapitalquoten zu- und Lohnquoten weiter abnehmen werden. Gewinner dieses historischen Prozesses seien die Kapitaleigner: Das Vermögen, und nicht mehr die Arbeit, bestimmt die Lebenschancen des Individuums vor allem im 21. Jahrhundert: »Die Rückkehr des Kapital-Einkommens-Verhältnisses zu einem strukturell höheren Niveau im 21. Jahrhundert, das dem im 18. und 19. Jahrhundert ähnlich ist, ist … auf ein schwaches Wachstum zurückzuführen. Es ist der Rückgang des Wachstums, … der zur Rückkehr des Kapitals führt.« Der Rückgang auf 1% Wachstum bei einer gleichzeitig hohen Sparquote könne eine Gesellschaft permanent tiefgreifend verändern und erneuern, denn dann kontrollierten die Kapitalbesitzer einen größeren Teil des Vermögens. So wie in den reichen Ländern der Erde. Dorthin sei das Kapital resp. ein »patrimonialer Kapitalismus« seit den 1970er Jahren »auf breiter Front« zurückgekehrt. Es habe eine Verlagerung von Staatsvermögen hin zu Privatvermögen stattgefunden. Allerdings betont Piketty zugleich, dass der Anteil des oberen Perzentils (1%) der Einkommenshierarchie im Laufe des 20. Jahrhunderts in einigen europäischen Staaten buchstäblich eingebrochen sei. Dieser Einbruch verdanke sich dem drastischen Rückgang sehr hoher Kapitaleinkommen, den er als »Niedergang der Rentiers« beschreibt. Die Rentiersgesellschaft sei von der Managergesellschaft abgelöst worden, so dass das oberste Perzentil vorrangig aus hochbezahlten Gehaltsempfängern besteht. Dieser Trend eines »schwindelerregenden Anstiegs der Spitzengehäter« habe seit den 1980er Jahren dramatische Züge angenommen. Ein struktureller »Prozess des allgemeinen Abbaus von Ungleichheit – namentlich der Arbeitseinkommen« spiele insofern keine Rolle. Doch nur wenige Seiten darauf erfährt der Leser in einer Grafik über die Ungleichheit der Einkommen, der Anteil des obersten Perzentils in Kontinentaleuropa und in Japan sei seit den 1970er Jahren »nur wenig gestiegen.« Ebenso zeigt eine weitere Grafik, dass die Ungleichheit der Vermögen (in Frankreich) seit 1810 deutlich gesunken ist. Piketty resümiert: »Ausgemacht ist in dieser Sache nichts.« Wie auch immer man diese Zahlen folglich interpretieren mag, Piketty verlangt am Ende seines Buches ein stärkeres Eingreifen der Politik durch eine grundlegende Erhöhung von Einkommens- und Erbschaftssteuern, um die Welt ein Stück weit gerechter zu machen. Dazu gehört für ihn auch eine grundlegende Modernisierung des Sozialstaats, und nicht dessen Abbau. Piketty diskutiert dies insbesondere im Kontext von Bildungszugängen und Altersvorsorge, auch in den Entwicklungsländern. Zudem plädiert er für eine europäische Vermögenssteuer und eine globale progressive Kapitalsteuer, die zwar eine politische Utopie ist, aber auch ein »ideales Werkzeug, der Ungleichheitsspirale Einhalt zu gebieten.« Ein extrem hohes Maß an Koordination der internationalen Politik wäre vonnöten.

Kritik der Öffentlichkeit

Die Kritik an Piketty war nach der Veröffentlichung der englischen Ausgabe gewaltig. Sie zielte unter anderem auf die Tatsache, dass Daten resp. Schätzungen über das Wirtschaftswachstum, die bis weit ins Mittelalter und die Antike reichen, unseriös sind. Der französische Ökonom greife auf Schätzungen und Hochrechnungen zurück, um aus lückenhaften Daten Erkenntnisse zu gewinnen. Das aber sei unwissenschaftlich. Zu allem Überfluss widerspreche er sich in seinem Buch immer wieder selbst, interpretiere Zahlen mal so und mal so. Trotz der Datenmenge scheint deshalb ein verifizierbares Urteil über die Kluft zwischen Arm und Reich nahezu unmöglich.

Auch die von Piketty geäußerte Annahme einer Fortschreibung von r>g im 21. Jahrhundert sei zweifelhaft, denn die Zauberformel treffe nach seinen eigenen Erhebungen für das 20. Jahrhundert gar nicht zu. Sein Urteil schien einigen Kollegen doch allzu pauschal. Denn die Ungleichheit in den USA – so etwa Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung –, sei insbesondere eine Folge stark gestiegener Einkommen von Anwälten, Managern und Sportlern, also ganz bestimmter Berufsgruppen. Einige seiner Kollegen betrachteten die Ungleichheit der Einkommen eher als eine Folge des Cantillon-Effekts. Wieder andere konstatierten, Piketty schenke Veränderungen im Steuerrecht, schwankenden Zinsen und Marktpreisen als Ergebnis von Produktions- und Verteilungsprozessen viel zu wenig Aufmerksamkeit.

Mancher Kritiker fragte: Warum hat sich, da r>g scheinbar für Jahrhunderte galt, nie ein plutokratisches System herausgebildet, das die Welt beherrscht? Schließlich, so wurde eingewendet, zeigten Pikettys Daten die Einkommen vor Steuererhebungen. Eine Umverteilung durch bereits existierende Steuern werde somit gar nicht berücksichtigt. Sie gibt es bei Piketty schlichtweg nicht. Zudem gehe er davon aus, dass Vermögen in erster Linie gehortet und eben nicht vornehmlich reinvestiert würden.

Besonders sein Vorschlag der stark angehobenen Vermögenssteuer stieß in der Debatte auf harsche Kritik. Denn die sei auch dann fällig, wenn Unternehmen Verluste machen. Dann aber gefährde sie die Substanz der Unternehmen – und somit der Belegschaft. Es käme geradezu zu gravierenden Einschränkungen der ökonomischen Dynamiken mit Folgen für den gesamten Arbeitsmarkt. Stattdessen sei es sinnvoller, über eine Arbeitnehmerbeteiligung am Unternehmensgewinn nachzudenken. Eine solche Beteiligung wiederum hilft Langzeitarbeitslosen relativ wenig.

Wer Pikettys Buch gründlich und aufmerksam liest, wird rasch feststellen, dass er selber viele der kritisierten Punkte kontrovers diskutiert. Insofern ist auch die Kritik ein wenig zu pauschal und zweifellos nicht immer gerechtfertigt. Dennoch gibt es unverkennbar einige Redundanzen und kleine Unstimmigkeiten in seinen eigenen Ausführungen. Manchmal scheint es, er habe auf den 800 Seiten ein wenig den Gesamtüberblick verloren. Eine Konzentration auf die Zeit seit den 1970er Jahren wäre ausreichend gewesen und hätte ähnliche Ergebnisse geliefert. Der Rückgriff auf die Jahrhunderte und die vielen blinden Flecken der Geschichte ist wenig hilfreich für das Anliegen, einen Diskussionsbeitrag über die Vermögensverteilung im 21. Jahrhundert beizusteuern.

Artikel online seit 22.10.14

 



Thomas Piketty
Das Kapital im 21. Jahrhundert
Aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer
C.H. Beck Verlag
816 Seiten mit 97 Grafiken und 18 Tabellen. Gebunden
29,95 €
978-3-406-67131-9


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