Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Der Schatten des Körpers des Schriftstellers

Auf der Suche nach Christian Linder.

Ein literarisches Puzzle von Jürgen Nielsen-Sikora

Zwischen Bild und Realität fällt machtvoll der Schatten,
und der Schatten ist für manchen gewiss manches,
er ist für mich Literatur.
[1]


I.

Ende September. Ein Dorf in der Eifel. Wälder ringsum. Eine alte Stadtmauer. Ein kleiner Marktplatz. Noch einmal flutet die Sonne Häuser und Straßen. Es duftet nach Brezeln und Frischgebackenem. Nach Kaffee und Morgenzeitungen. Laub und Kastanien bedecken das Pflaster. Ich mische mich unter die Passanten, gehe mit ihnen die Bürgersteige entlang; ich komme an vertrauten Orten vorbei, ich sehe bekannte Gesichter oder erblicke mich flüchtig in den Schaufenstern und in den Spiegeln, die sie hier und da umrahmen. So erscheint im Gehen für ein oder zwei Sekunden der Kopf, die Brust, der ganze Körper…[2]

Der Wind wirbelt Blätter auf und spielt ein Lied, das mir bekannt vorkommt. Irgendwo schon mal gehört. Doch kann ich nicht sagen, wo und wann. Dann ist es lange Zeit still. Ich bin in die Eifel gefahren, um mit dem Schriftsteller Christian Linder über seine Essaysammlung Noten an den Rand des Lebens[3] und sein Buch Sommermusik[4] zu sprechen. Sommermusik ist die faszinierende Geschichte über den Sommer des Jahres 1841, als Franz Liszt mit Marie d´Agoult mehrere Monate auf der südlich von Bonn, gegenüber von Rolandseck gelegenen Rheininsel Nonnenwerth verbringt und das kurze, melancholische Musikstück „Die Zelle in Nonnenwerth“ schreibt: An diesem Morgen am Rhein spürte er die Stille in sich sehr deutlich, aber sie sprach — zum ersten Mal wieder seit langer Zeit — von der Angst, die eigene Unwissenheit nicht zugeben und deshalb seine Leere nicht zum Sprechen und Klingen bringen zu können — weil vielleicht die Radikalität… nicht ausreichte, um einen neuen Blick aufs Leben und seine abgründigen Geheimnisse in seiner Musik ausdrücken zu können.[5]

Angst, das Geheimnis des Lebens, seines Lebens, nicht in eine Melodie übersetzen zu können. Angst, die Kunst sei Zeuge der eigenen Unvollkommenheit. Angst, nicht weit genug in sich selbst eindringen, in den eigenen, schweren Körper hineinblicken zu können, in die Schmerzen, das Leid, die Lust. Angst, die in der Sommermusik in einem von Liszt und Marie d’Agoult gemeinsam verfassten und sich durch das Buch ziehenden Gedicht benannt wird: dort, sagt Liszt, ist der Rhein und / die Insel Nonnenwerth und ich erkläre / dir mein Verständnis für die / Angst auf sich selbst zu schauen / Angst vielleicht nichts sehen zu können / Angst die beschwichtigt wird beim Aufzählen / der Dinge in der Landschaft / dort sind die Bäume die Wiesen / die Alleen das alte Haus der Himmel der/ Wind der Regen und der Schnee und dort ist die / Nacht und dort auch gleich nah / die schönen alten Hotels an der belgischen Küste / »Ich würde auch gern wieder mal am Wochenende / wegfahren« hörte ich dich sagen ich erinnere / mich als wir uns noch nicht kannten und / dies sage ich jetzt / dies ist Erinnerung und Gegenwart zugleich / auch dieser Sommer Sonntag Nachmittag / geht vorbei und / die Arbeit bleibt dieselbe / die Dispositionen die Bücher die Musik die Arbeit / die Dispositionen eines Lebens zu erklären / wieder und wieder/ was macht die Liebe? / es ist still / die Bäume stehen herum / hier ist niemand / nur noch einige Gespenster / die auf ihren Auftritt warten« /»Eine Wohnung so als eine Art Hochsitz«, sagte Marie d’Agoult, / »aber ich liebe sage ich zugleich / ich liebe doch deine Veränderungen und / die Schwächen meiner Noten / jetzt und ich möchte mich erinnern an unsere / Spaziergänge im Winter im Schnee was / werde ich sagen? / die warme Wohnung die Musik in allen Räumen / die Projektionen was werde ich sagen?« / »Deine wunderbaren Fluchtburgen«, sagte Marie d’Agoult, / »aber ich weiß«, antwortete Liszt sofort, / »hier ist niemand / es ist still / die Bäume stehen herum / zu sagen gab es heute nichts / zu lesen nur den Satz eines Dichters / der sich selbst zitierte / in der Vergangenheit: / »Hörte ich mich von der Liebe sagen: / sie allein bringt die Erleichterung / den Atem und den Schlaf« / so dass ich aufstand und mir die Jacke anzog / vor den Spiegel trat und / sagte: / was willst du?«
Angst vor dem Schweigen des Ichs, vor dem Echo, das aus der Tiefe des eigenen Lebens hallt.

Von Nähe und Ferne, die nicht immer zu unterscheiden sind, von Anfang und Ende und von der Angst, etwas zu Ende bringen zu müssen und es nicht zu Ende bringen zu können, erzählt sein Stück »Die Zelle von Nonnenwerth« auch.

Das Nahe und das Ferne. Sie wechseln unaufhörlich die Positionen auf der Kreisbahn des Lebens. Ich schlage das Buch zu und gehe ein Stück in Richtung der alten Burganlage. In einem geheimnisvollen Garten begegne ich einem einsamen Schatten. Für einen Augenblick ist es als richte er sein Wort an mich, als spräche er zu mir, über sich:
Schau dir die Schatten an… Beschreib die Schatten… Das Beste wäre natürlich, wenn deine schwarzen Sätze auf dem weißen Papier die Schatten nicht nur beschreiben, sondern die Schatten selber sind. Unbegreiflich und uner­klärbar.
Wortschatten, meine Sätze ein Teil davon; Schatten welcher Sprache, von wem gesprochen? Wo ist der Körper, in dessen langer Tollheit alle Worte auf unge­klärte Weise zusammenhängen? Wie muss der Körper eines Schriftstellers beschaffen sein, um diese eine unvergessene Melodie aus Sätzen zu spielen, diese ureigenen literarischen Noten, die das Gedächtnis niemals kennen wird?


II.

In seinen „Noten an den Rand des Lebens“ schrieb Novalis einst, das größte Geheimnis sei der Mensch sich selbst; Literatur sei der Versuch, dieses Geheimnis zu lüften. Aber lässt sich das Geheimnis jemals ganz lüften? Bleibt nicht immer ein Rest, der nicht aufgeht? Ein blinder Fleck in jedem Wort? Welche Literatur taugt schon zur Anthropologie? Welchem Wesen wollte sie denn auf den Grund gehen?
Ich suche den Schriftsteller Christian Linder, weil ich mir eine Antwort erhoffe — erscheint Literatur in seinen Noten an den Rand des Lebens, in seinen Kryptogrammen doch als Verschleierung, wenn nicht gar als Multiplikation menschlicher Mysterien. Der Mensch ist das Wesen, das spricht, und durch den Akt des Sprechens Nebelkerzen auf die eigene Identität losschießt.

Während ich in dem großen Garten des kleinen Eifeldorfes umher wandere, schlage ich Linders Buch auf, das den Titel des Novalis-Zitats trägt. Der Untertitel: Portraits und Perspektiven. Es handelt sich um Texte aus den vergangenen vierzig Jahren — teils älter als ich; Miniaturen der deutschen und europäischen Literatur seit den frühen 1970er Jahren. In einem kurzen Text aus dem Jahre 1979 über seinen Freund, den Kölner Dichter Jürgen Becker, bemerkt Linder gleich zu Beginn: Was in den Büchern steht, ist nicht wichtig; sondern, was nicht darin steht — und warum nicht.

Es soll nicht wichtig sein, was in den Büchern steht? — Das ist ein unerhörter, verstörender Satz, und er wirft einen mörderischen Schatten auf die Geschichte der Literatur, auf das Dunkle der Texte, die es zu beleuchten gilt. Denn da steht ja das alles entscheidende Warum nicht? Wer könnte das schon beantworten? Und selbst, wenn es eine Antwort gäbe, blendet sie doch wieder anderes aus. Jede Antwort vernarbt nur die Fragen, die ihr vorausgehen. Ist also nicht letztlich das, was nicht in den Büchern steht, selber der Schleier, der über die Literatur geworfen wird, um sie zu »entlarven«?
Dieses Interesse an dem, was nicht in den Büchern steht, denke ich, nachdem die erste Erregung in meinem Körper wieder abgeklungen ist — lässt es sich nicht zurückverfolgen in der Geschichte der Dichtungen und Dramen, der Prosastücke und Poesien? Ich denke insbesondere an Hugo von Hofmannsthals lyrisches Drama „Der Tor und der Tod“. Darin charakterisiert der Tod am Ende die Haltung der Menschen:

„Wie wundervoll sind diese Wesen,
Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,
Was nie geschrieben wurde, lesen,
Verworrenes beherrschend binden
Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.“
[6]

Was nie geschrieben wurde, lesen. Das unterstellt der Tod den Menschen und findet sie „wundervoll“. Man kann die Zeile als Aufforderung interpretieren. Aber ist es wirklich so einfach, wie der Tod glaubt, Verworrenes zusammenzubinden und Wege im Ewig-Dunklen zu finden? Zwar lässt sich Christian Linders Arbeit mit den Worten des Todes vielleicht am besten charakterisieren. Gleichwohl frage ich mich: Was steht bei ihm selbst nicht geschrieben? Welches Geheimnis hütet der Schriftsteller Linder in seinen Büchern? Das möchte ich wissen, und vor allem deshalb bin ich auf der Suche nach ihm. Aus diesem Grunde bin ich in die Eifel gefahren, um mir ein Bild zu machen von dem, der wissen will, was in den Büchern verheimlicht wird.

Noch während ich in dem kleinen Ort darüber nachdenke, öffnen sich die Straßen zu anderen Straßen, zu baumbeschatteten Plätzen mit rieselnden Brunnen… Häuserzeilen, Wohnungen mit offenen Fenstertüren, wo man mich ruft… die Straße mit den verfallenen Häusern, mit den von blühenden Glyzinien und Kletterpflanzen bewachsenen Fassaden; Häuser, deren Salons mit bunten Fenstern hier und da über die Gärten blicken… Genau hier. Doch die Zeit ist da, wo der Schatten immer dichter und kühler werden will…[7]


III.

Der Schatten, der die ganze Zeit über hastig rauchend neben mir her gegangen ist, hält plötzlich inne und kommentiert mein Hofmannsthalzitat: Das Nie-Geschriebene lesen – eine elegante Formulierung, aber vielleicht auch ein bisschen zu preziös.
— „Wieso preziös?“, möchte ich wissen.
— Nun, trotz aller Verstellungs- und Verschleierungsversuche eines Autors – wenn er sich zum Beispiel einer gefährlichen Wahrheit nähert – verrät sich jeder Schriftsteller am Ende doch immer.
— „Inwiefern verrät er sich immer?“ hake ich nach.
— Man muss nur hinter den offiziellen Text schauen, die dunklen Schichten aufdecken, die unter dem liegen, was wir sagen, die Schattenbereiche zwischen den Wörtern. Es ist, wie Roland Barthes gesagt hat, der Körper, der die Bücher schreibt. Und die Erinnerungen des Körpers geben dem Nicht-Geschriebenen hinter dem offiziellen Text die Gewalt; auch das Verzerrte und Monströse.
— „Ich verstehe“, sage ich zu dem Schatten. „Man muss den Körper des
Schriftstellers lesen.“
— „Möglich“ antwortet der Schatten hustend.
In der Sommermusik lässt Christian Linder seinen Protagonisten Franz Liszt in Anlehnung an einen französischen Romancier des 20. Jahrhunderts sagen: Mein Körper hat andere Erinnerungen als mein Gedächtnis, Marie. Aber die Erinnerungen meines Körpers kenne ich nicht. Das Glücksgefühl beim Sterben wird dann jedoch hoffentlich sein, dass der Körper alle Erinnerungen freigibt und man im Schlussbild noch einmal sehen kann, was denn nun wirklich passiert ist.
Am Ende des Lebens ist alles zitierfähig geworden, alles liegt offen zutage. Doch es ist nicht etwa der Messias, der durch die Pforte kommt, die letzte Wahrheit verkündet und die Geschichte an ihr Ende führt, wie die Religion es will, sondern der menschliche Körper, der verletzbare, gebrechliche, leidende, lustvolle, angstbesetzte, taumelnde Körper, der uns sagt, wie es eigentlich gewesen. Die Literatur siegt über den Glauben.

„Es fällt natürlich auf“, sage ich zu dem mich begleitenden Schatten, „dass in all den Büchern von ihm der Körper eine, wenn nicht die zentrale Rolle spielt. Auch in dem Gespräch zwischen ihm und Claude Simon in den Noten heißt es, es sei natürlich immer der Körper, der die Bücher schreibt. Diese Idee zieht sich als roter Faden durch alle Schriften, vom Carl Schmitt-Buch[8] über die Böll-Biografie[9] bis hin zur Sommermusik, die den Körper zum Instrument der Sprache macht und mit Zitaten spielt als wären Worte Tasten eines Klaviers. Das Buch über den Kölner Literaturnobelpreisträger Böll hingegen trägt den Titel Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils — nach dem Jean Paulschen Hinweis, dass »das Schicksal den Pfeil des Todes aus der Ewigkeit abschickt«, sobald jemand zu leben beginnt, die Flugbahn des Pfeils beschreibt und die Frage aufwirft, ob Böll irgendwann in seinem Leben die Möglichkeit gehabt hat, das Schwirren des heranfliegenden Pfeils zu hören und daraufhin meinte, eine Kurskorrektur vornehmen zu müssen. Die Frage stellt sich natürlich für uns alle: Wann ist uns gewiss, dass uns der Pfeil treffen wird? Und wie bringen wir das zur Sprache? Wie kommen wir überhaupt zur Sprache? Nicht jeder, der leidet, ist ein guter Schriftsteller, mitunter mag das Schreiben das Leiden gar verdoppeln...
Ich denke auch an das Carl Schmitt-Buch, in dem Schmitts monströses politisches Theorie-Gebäude als reine Literatur gelesen und entziffert, die politisch-dramatische Inszenierung der Sätze, sein magischer Begriffsrealismus dechiffriert wird. Schmitts Gedanken funktionieren nur als Bild, und diese Bilder nutzt er, um die Langeweile und Kraftlosigkeit seiner Existenz zu überblenden, den Staat als Kunstwerk in seinen Schriften zu inszenieren.

Wie hängt das alles zusammen? Böll, der unentwegt gegen die Wirren der Zeit seine Kindheit verteidigt; Schmitt, der auf lebenslanger Fahrt ins Unbekannte des Staates, ins abgelegene Gehöft der Politik vorstößt, wo die Spinnen die großen Namen der Welt weben; Liszts Körpergedächtnis, das eine melancholische Sommermusik ersinnt — so unterschiedlich die Themen sein mögen, Linder liest in den Eingeweiden seiner „Helden“. Der Körper des Schriftstellers, sein eigener, versucht stets, mit jeder Silbe und jedem Jota eine Einheit zu stiften, wo es im Grunde keine Einheit geben kann; er versucht, alles, was einem bislang vertraut erschien, in einem neuen Licht aufleuchten zu lassen. Alles Neue beginnt zweifellos als Abweichung und wird begleitet von Verunsicherung, begleitet von der Ahnung, welch unüberschaubares System nicht nur die Sprache ist, die wir sprechen, es wird ebenso begleitet von der Furcht vor einer immer komplexer werdenden Welt. In dem Moment, in dem drei Finger schreiben und der ganze Leib leidet, in dem Augenblick, in dem die schreibende Hand stirbt während sie schreibt und so den Grenzen des Sagbaren entgleitet, in dem Moment, in dem die Augen trübe werden und die Qual in alle Glieder fährt, das Herz so laut schlägt wie die Glocken eines Kirchturms und sich die Kehle zuschnürt, spürt einer wie Linder den Bewegungen des schreibenden Körpers unerbittlich nach: Zum Beispiel dem stotternden, hässlichen und ne­groid wirkenden Siegfried Kracauer in seinen Noten an den Rand des Lebens.“


IV.

Der Schatten zündet sich eine weitere Zigarette an und behauptet mir gegenüber:
Der stotternde Kracauer – das ist er natürlich selbst.
— „Das heißt: Er ist das Stottern Kracauers, nur das? Dieser Körper, der nicht so will, wie der Gedanke, den er fasst? Nicht die Person Kracauers, auch nicht das, was Kracauer schreibt, sondern dieser Bruch, das Hindernis, die Zäsur im Sprechen Kracauers, das Holpern der Sätze selbst? Das, was nicht so reibungslos läuft, wie es sollte, der Umweg, den die Sprache nimmt?“
— „Genau das“, sagt der Schatten.
— „Und das verstümmelte Ich Max Frischs?“
— „Kennt er auch von sich selbst“, erwidert der Schatten.
— „Nein, nein“, wende ich ein, „er ist diese Verstümmelung. Genau so wie der Innenraum des leeren Gefängnisses, das er bei Peter Weiss dia­gnostiziert. Diese Leere, das Rezeptakulum für alles und jedes, das alles in sich aufbewahrt, das ist er!“[10] Eines der Lieblingszitate Bruce Chatwins, das er in den Noten zitiert, dürfte auch eines seiner eigenen Lieblingszitate sein: »Pompejus verlangte, nachdem er in Jerusalem den Tempel gestürmt hatte, dass man ihm das Allerheiligste zeige, und war erstaunt, dass er sich in einem leeren Raum befand.« »Ich bin in diesem Raum,« sagt der Schatten. Als Bewohner dieses Raums hat er natürlich einen besonderen Blick für das Inventar in den innersten, heiligen Räumen eines Schriftstellers. In der Biographie über Heinrich Böll steigt er in dessen tiefstes Kellergewölbe, sein Versteck, und das liest sich so: Ein kleiner, enger, nach kaltem Moder riechender Kellerraum, in den durch ein schmales, verdrecktes Oberfenster, hinter dem keine Außenwelt erkennbar ist, ein Dämmerlicht fällt; unterhalb des kleinen Fensters ein Tischchen mit einem darauf liegenden Zettel. Während ich, neugierig, ob Heinrich Böll uns eine Geheimbotschaft hinterlassen hat, an den Tisch trete, ein flüchtiger Blick auf die völlig verstaubten Dinge im Raum, alte Familienfotos an den Wänden, in einer Ecke ein verrostetes Fahrrad, ein Kinderbett, ein Regal mit (offenbar gefüllten) Einmachgläsern, in einer anderen Ecke aufeinander gestapelt mehrere Kartons mit alten Schulbüchern und Papieren und schmalen grünen Pappkladden (die beim kurzen Hinschauen als Volksschulzeugnisse zu erkennen sind); obenauf auch ein etwas verschmutztes Kartenspiel. Dann stehe ich aber schon vor dem Tisch und nehme den Zettel in die Hand. Oben rechts in Bölls Handschrift ein Datum: 19. November 1943. Der anschließende Text hat folgenden Wortlaut: Der Wortlaut dieser in einem Brief an Bölls Mutter versteckten überraschenden Geheimbotschaft, dieses Geheimtextes unterhalb der offiziellen Böllschen Literatur, sei hier nicht verraten. Hingewiesen sei im Zusammenhang mit den erwähnten »Volksschulheften« nur auf eine ganz toll klingende Behauptung Linders im Zusammenhang mit seiner eigenen Volksschulzeit, denn da behauptet er tatsächlich im Nachwort:
Die früheste Anregung zu diesem Buch kam, wie ich heute weiß, von Kirsten Hohage, Pestalozzi-Schule, Lüdenscheid, 1958. Fünfundzwanzig Jahre später verführte mich Roland Barthes in seinem Michelet-Buch, ein Leben und Werk aus sich selbst heraus zu erklären und zu erkunden, wie ich diese Methode mit meinem eigenen Leben verbinden könnte. Dass dann in meiner Erinnerung der Blick eines achtjährigen Mädchens wieder auftauchte und mir noch einmal meinen Hintergrund gab, war aber doch eine Überraschung.

„Diese Leere, das Rezeptakulum für alles und jedes, das alles in sich aufbewahrt, das ist er!“ fasse ich noch einmal zusammen.
— Ja, antwortet der Schatten, und insofern sind alle seine Texte immer auch heimliche Selbstporträts. Im Text über Alexander Kluge sagt er es ja deutlich: „Ich rede hier natürlich die ganze Zeit immer auch von mir; sonst könnte ich das alles ja auch gar nicht sehen, wenn ich all diese möglichen Dispositionen nicht auch in mir selbst hätte, wie jeder Mensch. Es kann mir also im Augenblick nicht darum gehen, diese Bücher und Filme zurückzuweisen. Aber sie sind eben kritisierbar und man kann sich davon unterscheiden oder abgrenzen.“
— Außerdem,
fügt der Schatten hinzu, außerdem darf man ja auch nicht vergessen, dass, was immer an Büchern zu kritisieren ist, nur deshalb zu kritisieren ist, weil der Schriftsteller überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, indem er sein Werk geschaffen hat.
— „Ja“, entgegne ich, „Werke, wie sie der an Tuberkulose erkrankte Roland Barthes, der krankhaft narzisstische, untersetzte Max Frisch und der spöttische, emotionslose und von innen her erfrorene Alexander Kluge geschaffen haben. Kluge, schreibt Linder, vertote sein Material. Und Bruce Chatwin tritt bei ihm auf als ein vom Fieberwahn befallener Krüppel, Günter Wallraff als leidender, gedemütigter und zu Boden geschlagener Journalist; und auch im Text über Dieter Wellershoff sitzt der Stachel tief im Fleisch der Schrift.“
Kaum habe ich den Satz beendet, zitiert der Schatten auch schon aus den Schatten von Dieter Wellershoff: „Und das hier bin ich. Ich fühle nur die Stelle, wo ich sein muss, eine Stelle im Raum. Hier. Ja. Ohne mich berühren zu können, mit den Händen. Ich habe keine Hände. Auch keinen Körper, keinen Kopf. Aber ich bin hier. Ich bin ich.“
— „Eine sehr wichtige Stelle. Wenn es der Körper ist, der schreibt, dieser Körper aber“ — und ich weiß schon nicht mehr, ob ich mit dem Schatten spreche oder bloß mein eigener Zuhörer bin —, „dieser Körper ein permanent leidender ist, ein kranker, sterbender, verschwindender, dem Vergehen anheim gegebener — so wird er zum eigentlichen Problem der Schrift. Was taugen dann noch die Worte, die dieser Körper in seinen unvollkommenen Bewegungen verfasst?“
— „Es gibt möglicherweise nur eine einzige Lösung“, sagt der Schatten. Franz Liszt benennt sie in der Sommermusik:
Beginne einen Satz ohne an sein Ende zu denken, öffne ihn, lass ihn auswuchern, zeige, wie ein Bild ganz dicht aus einem anderen hervorkommt und die Bilder, obwohl sie scheinbar nichts miteinander zu tun haben, doch zusammen gehören und dieses Zusammengehörige auch erschrecken kann… Zeig das Zerbrechliche, Dissonante, das rohe Fleisch der Bilder. Zeig die Verwüstungen, die unsere Blicke der Welt zufügen… riskiere einen hungrigen Blick, um endlich wieder einmal verliebt zu sein und alle Aufregungen und Ängste zu spüren, den ganzen Thrill und das Abenteuer, das die Lust ausmacht beim Leben.


V.

Das rohe Fleisch der Bilder, die Verwüstungen, der Thrill. Der Körper als reines Erkenntnisinstrument, der Lebensmelodie auf der Spur. Das Bild des leeren Körpers als Grundlage der Texte. Die Literatur ist nicht unschuldig in einer Welt, in der alles nur erscheint, um zu verschwinden.
— „Aber ist es das wert? Dieses Leben am Rande des Erträglichen, das gewaltsame Auswringen des Körpers um der Schrift willen? Ist es das wert, ununter­brochen den Schweiß der Schrift auszuschwitzen und gegen die Sterne zu schleudern?“
— Du willst wissen, sagt der Schatten, ob das wirklich erstrebenswert ist: Muss ein aktuell misslungenes Leben der Preis sein für ein bedeutendes Werk? Sollte ein Schriftsteller nicht auch versuchen, seinen Mythos zu bekämpfen? Worum geht es? Die Welt darzustellen? Oder eine permanente Entäußerung zu erleben im Entstehen eines Textes und in der Entäußerung eines Textes die Einverleibung von Welt? Oder geht es darum, dahinzu kommen, zu wissen, dass die Welt auch ohne einen da ist, um sich dann in freier Subjektivität ihr zuwenden oder von ihr abwenden zu können? Geht es überhaupt darum, die Wirklichkeit und sich selbst in ihr beurteilen zu können? Hat nicht jemand wie Walter Benjamin recht – und sicher hat er recht —, wenn er feststellt, was ein Werk wie das Prousts hervorgebracht habe, sei gewesen: »ein ausgefallenes Leiden, ungemeiner Reichtum und eine anormale Veranlagung«, wenn er vom Schriftsteller als dem »Regisseur seiner Krankheit« spricht, wenn er fragt: »Dürfen wir sagen, dass alle Leben, Werke, Taten, die zählen, nie anderes waren als die unbeirrte Entfaltung der banalsten und flüchtigsten und schwächsten Stunden im Dasein dessen, dem sie ge­hören?« Aber hat andererseits nicht auch jemand wie Sartre recht, wenn er Autoren wie Valéry und Gide, »die sich öffentlich die Seelen putzten und glaubten, sich in ihrer nackten Wahrheit zu enthüllen«, nach ihrem Tode hinterher rief, sie seien in Unwissenheit gestorben?


VI.

Wer schreibt, muss empfindsam sein und empfindsam bleiben, Sinn für die Melodie der Worte haben und über eine Sensibilität verfügen, mit der man die Bibliotheken dieser Welt niederbrennen könnte. Der muss die Fähigkeit besitzen, sich ohne Hilfsmittel in einen Rausch zu versetzen; in einen Rausch über die Schönheit der Sprache, der Dinge, der Landschaften in sich. Nur dann verwandelt sich das Leiden ohne je aufzuhören. Der muss sich an die Eindrücke halten, die sich ihm in seiner nächsten Umgebung aufdrängen.

Meine Hand führt den Bleistift über das Papier, von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile, obgleich ich deutlich die Gegenkraft in mir verspüre, die mich früher dazu zwang, meine Versuche abzubrechen und die mir auch jetzt bei jeder Wortreihe die ich dem Gesehenen und Gehörten nachforme einflüstert, dass dieses Gesehene und Gehörte allzu nichtig sei um festgehalten zu werden und dass ich auf diese Weise meine Stunden völlig nutzlos verbringe. Ich richte den steifen Körper auf, doch kaum stehe ich senkrecht, knicke ich schon wieder ein an den Kniekehlen, im Bauch und im Nacken. Die Hände fallen von Brust und Kehlkopf herab, die Arme schlenkern in den Gelenken. Während ich mit weit geöffneten Augen vor mich hinblicke, entstehen allmählich aus den ungewissen, hin und her flackernden Schatten, Strahlen, Prismen, Farbflecken und Linien die ersten Andeutungen von Gestaltungen, anfangs unterbrochen von jähen Anflügen völliger Schwärze. Tief unter mir liegt eine Straße und ringsum breiten sich Dächer aus, doch die Straße ist nur eine schwarze Schlucht oder eine schmale Spalte.[11] Ich möchte vielleicht nie erfahren, was sich darinnen verbirgt. Wohingegen einer wie Linder die Wahrheit wissen will, keine Frage, und darin gleicht er den Gelehrten. Er will jedoch zugleich radikale Subjektivität, und darin zeigt er sich als Schriftsteller. Ist er am Ende beides? Ein Intellektueller, der sich permanent selbst am Rand des Lebens aufhält und aus dieser Ungewissheit, die dort herrscht, seine ganze Kraft schöpft? Ist er ein poetischer Philosoph, der die Streiche, die ihm der eigene Körper hin und wieder spielt, zu kanalisieren versucht. Schreibt er selbst, um die Sprache seines Körpers zu verflüssigen?
— „Ich würde stöhnen“, sagt der Schatten, „wäre mir die Gewissheit gegeben, ewig im Angesicht der Wahrheit zu leben. Was ich will, und was das menschliche Wesen in mir will: ich will einen Augenblick lang meine Grenze überschreiten, und ich will einen Augenblick lang von nichts aufgehalten werden.“[12]

— „Die Funktion der Kunst ist niemals“, belehre ich im Widerstreit mit meinen eigenen Gedanken den Schatten, „eine Wahrheit zu illustrieren – oder auch eine Frage –, die man schon kennt, sondern Fragen aufzuwerfen (und vielleicht auch zur rechten Zeit Antworten zu geben), die sich selbst noch nicht kennen.“[13]
— „Das ist gut möglich“, lacht der Schatten. „Man kann darin scheitern. Die ganze Sprache kann scheitern und in einen Sumpf der Phrasen absacken.“
— „»Ich ist ein anderer« — ist das vielleicht so ein Sumpf? Der Satz taucht mehrmals in Linders Portraits auf“, sage ich. „Auch Carl Einsteins »Bebuquin«, ein Klassiker der expressionistischen Literatur. Entfremdung und Fragmentarisierung durchziehen die Noten, dieses wundersame, unvergleichbare Buch.“
Ich mache eine kurze Pause und setze dann fort:
— „Man kann aber auch im Sumpf herumwühlen und etwas zutage fördern: Bebuquin wirkt in seiner multiplen Persönlichkeit auf mich geradezu wie der Prototyp jener Autoren, mit denen sich Linder kritisch auseinandersetzt. Wie eben auch mit Peter Weiss, dessen Außenseitertum er am eigenen Leib erfährt; Weiss, den er als gehemmt beschreibt, durchsetzt von Ängsten, dem Zwang zur Selbstbestrafung und befangen in seiner hochgezüchteten Sprache. Oder Hans Magnus Enzensberger, der, wie Linder sagt, bloß an seinem eigenen Mythos arbeite. Er wird von ihm als ein doktrinärer Romantiker portraitiert, der sich permanent selbst inszeniere, nur durch Andeutungen politisch wirke, sich stets Rückzugsmöglichkeiten offen halte und dessen gesamte Literatur lediglich Attitüde sei. Martin Walser attestiert er hingegen schlichtweg Lebensangst. Er sei ein zerrissener Dandy mit der Sehnsucht nach der Lodenjacke; ein Jäger, der nur das angreife, so heißt es weiter, was er selbst haben oder sein wolle. Aber auch bei den von ihm geschätzten Autoren wie Roland Barthes stoßen wir auf das Fragmentarische, das Leben als Stückwerk, zusammengesetzt aus Zufällen, Verformungen, die zu einer literarischen Identität verwachsen sind. Dazu schreibt er, ein Schriftsteller sei jemand, der darunter leide, dass er sein Leben nicht erzählen könne. Literatur sei insofern gestörte Kommunikation. Nun wird gerade in dieser gestörten Kommunikation, in der Unfähigkeit miteinander zu leben, so lautet es im Gespräch mit Claude Simon, der Tod sichtbar. Er steckt hinter der Maske, den Blicken und Fotografien, von denen Linder erzählt. Zum Beispiel, wenn er John Berger einen Sekretär des Todes nennt, der darauf hinweise, dass die Fotografie, die den Lebensstrom unterbricht, immer mit dem Tod flirtet. Zudem durchziehen tote Gassen und leere Zeiten fast sämtliche Portraits.“


VII.

Ich durchwühle meine Hosentaschen: Kaugummis, Bahntickets, benutzte Taschentücher. Ich wandere in Gedanken durch die Zelte meiner Kindheit, die Schubladen der Erinnerung, durch all die ungelesenen Bibliotheken und andere Dinge, grabe mich blind wie ein Maulwurf durch den Tag. Ich zittere am ganzen Körper. Es geht immer darum, zitternd das zu suchen, was die offensichtliche Grundlage umstürzt…
Vom Garten aus blicke ich auf den Park, wo Holzkähne auf einem
kleinen Weiher treiben. Sie ähneln alten Philosophen, denen über die Frage nach dem Ursprung allen Seins die Schatten von unten den Körper hoch kriechen. Eine Schar Enten, stoisch und weichmütig, fängt den Nachmittag im Netz des Abends ein. Auf den Caféterrassen unterhalten sich zwei Denker ohne zu sprechen. Die Brandung der Hauptstraße ist kaum zu hören, und die Kähne schaukeln weiter als gelte es, einen Dialog zu Ende zu führen. Die Welt des kleinen Dorfes in meinen Händen wird zur Loseblattsammlung, die Schatten in dem Garten, durch den ich mit meinem Gesprächspartner wandere, werden länger. Mein Begleiter wirkt erschöpft, doch ich bin jetzt unerbittlich:

— „Der Flirt mit dem Tod bringt mich nochmals zurück auf Hofmannsthal“ sage ich. Hofmannsthal schreibt: „Steh auf! Wirf dies ererbte Graun von dir!“ So raunzt der Tod den Tor an. „Ist der Schriftsteller“ frage ich den Schatten des Körpers, „ist der Schriftsteller nicht jenem Tor vergleichbar, der, distanziert, seinem bloßen Ästhetizismus gehorchend, erst im Angesicht des eigenen Todes zu authentischen Gefühlen fähig ist? Einer, dessen ganzes so versäumtes Leben, verlorne Lust und nie geweinte Tränen als Roman, als Gedicht oder Essay aufscheinen? Als eben das Andere, das er sich selbst nicht wagt, einzugestehen?“
— „Gewiss“, sagt der Schatten. „Denn von hier aus ist alles möglich; man darf nur nicht zur einen oder anderen Seite schwanken, man muss die beiden Seiten weit von sich entfernt halten, man muss die vollkommene Öffnung sein, wo ich endlich sehe, was ich will, mich mit Muße im Umgekehrten bewege — ohne zu wachen, noch zu träumen, noch zu schlafen —; mir zum Trotz eine Fülle erschaffe und ordne, deren ich mich erinnere und die doch neu ist, vertraut, doch nie gekannt… als sei ich wieder an den Ort zurückgekehrt, wo alles begreifend eindringen will… wo man sich niederlassen könnte.“
[14]

VIII.
Dieser Ort… ein subjektives Universum, offen für alles, für Träume, Bilder, Abschweifungen, Erinnerungen, Zitate, Überlegungen, Liebe, ein Ort des Versprechens und des Begehrens — und der Sehnsucht nach dem Ende des Begehrens, der Befriedigung, ein Ort gedacht auch für die Verteidigung unserer Gefühle gegen die Wirklichkeit dort draußen, träumt Liszt. An diesem Ort, wünscht er sich, müsste die Dichte der Vergangenheit zunehmen, jeden Tag, und im gleichen Maße aber auch das Vergessen.

Der Inhaber des italienischen Eiscafés in dem kleinen Dorf in der Eifel lässt die Jalousien runter. Das Gerippe des geschlossenen Geschäfts reckt sich mühsam. Zeitungen von heute erzählen sich alte Geschichten und die Trottoirs stellen ihren gebrochenen Asphalt schamlos zur Schau. Ich setze mich neben den Schatten auf eine Wiese. An Wochentagen werden dort drüben Blumen verkauft. Und dort Brillen, Parfums und Fisch. Brötchen, Pizza, Kaffee und Spielwaren, Schnaps und antiquarische Bücher erwirbt, wer das nötige Kleingeld über die Ladentheke gibt. Jeden Tag kommen die älteren Frauen bei Kerzenlicht ins Café und bestellen Kirschtorte oder Waffeln mit Schlagsahne. Dann öffnen auch die Bordsteine langsam wieder ihre Poren.
Da drüben, im Schatten der Burg, ist ein kleiner Flohmarkt mit alten Fundstücken, die mich eine Zeitlang gefangen nehmen. Ich vergesse für wenige Minuten, was ich suche, vergesse den Schatten, die Schrift, die Sprache und blicke hinüber zu dem kleinen Markt in dem kleinen Dorf in der Eifel. Welche Geschichte mir die Dinge dort drüben wohl zu erzählen haben? Bevor ich einen Gegen­stand kaufe, will ich alles über seine Geschichte erfahren. Woher kommt dies Ding? Wer hat es besessen? Warum wird es verkauft? Das sprachliche Wesen des Menschen ist, dass er die Dinge benennt.[15] Doch wir müssen verneinen, was die Dinge voneinander unterscheidet, um die Leere, das nackte Nichts zu erkennen. Anders als noch im 19. Jahrhundert, da die keramischen Künste wiederentdeckt wurden und die Sammler auf der Suche nach den Bric-à-brac, den Gebrauchtwaren, zu den Trödelmärkten und Antiquitätenläden Europas gingen. Damals verkörperten die Dinge Gedächtnis und Glück. Die Innerlichkeit eines jeden Jahrhunderts war ablesbar an der Dingwelt. Bin ich selber Ding? Ich sage nicht, das bin ich, sondern da ist nur das, was um mich herum ist, das ist die Welt, in der ich mich bewege: Da fährt ein Auto, da steht eine Bank, ein Kind weint. Ein Flugzeug fliegt vorüber. Hundegebell. Schweinegrunzen. Eine Terrasse voller Gäste. Ein Puppenladen, ein Teller Salz, eine kaputte Spieldose, eine Axt, eine Säge, ein Schreibwarengeschäft, eine Parkuhr. Der Gutshof, der schlammige Horizont, abgebröckelter Putz, Regentropfen, ein Bücherregal, ein alter Plattenspieler… Ich suche weiter, und leere, unendlich gedehnte Zeit, umgreift die alte Burgmauer. Unhörbare Stimmen aus der Vergangenheit legen sich wie ein Palimpsest über den kleinen Ort. Jetzt ertönt ein Krähenkrächzen.

Die Remittenden, die man sonst in der Auslage des kleinen Buchladens nebenan sieht, sind verschwunden. Ein einziges, zusammengefaltetes Papier flattert die Gassen entlang, ein Brief vergangener Tage fliegt hinauf ins Dickicht der Spitzdächer und Hinterhofbalkone, hinaus in den Wald. Am Abend treffen sich die Hunde am Burgplatz. Die Treppenhäuser der alten Fachwerkhäuser knarren nun lauter unter den Schritten der müden Bewohner. Manchmal springt der Brunnen in der Platzmitte an und lockt die Kinder herbei. Nicht weit entfernt, zwischen korallenroten Häuserwänden führt eine Treppe in den kahl geschorenen Himmel. Ein Kind streut Vogelfutter für ein paar verkrüppelte Tauben auf das Pflaster. Ich wende mich wieder dem rauchenden Schatten zu:
— „Ist die Wiederherstellung von Fremdheit nicht der Anspruch, den Christian Linder in seinen Büchern verfolgt? Ist er sich am Ende selbst zu einer großen Frage geworden, die zu beantworten unendlich viel Kraft kostet?“
Der Schatten atmet schwer.
— „Ich meine“, setze ich fort „das gelingt hervorragend in den — mir äußerst sympathischen — Kritiken an Wondratschek, Strauß, Walser und anderen. Gleichwohl gibt es in seinen Texten auch das Vertraute, Diskursive in Form langer Zitate, die nicht bloß als Räuber am Wegesrande auftreten, um uns unsere Überzeugungen abzunehmen, wie Walter Benjamin glaubte. Nein, besonders die ein-, zweiseitigen Einschübe in vielen Texten bezeugen meines Erachtens nicht allein den Respekt, den er den Kollegen entgegenbringt, an ihnen entzündet sich darüber hinaus erst das Gespräch. Durch das Zitat wird der Portraitierte lebendig, weil er selbst zur Sprache kommt…“
Der Schatten schweigt weiter.
— „Wäre er hier“, sage ich, „würde ich ihn fragen, was ein Zitat mitbringen muss, damit er sich persönlich auf einen Dialog einlassen kann. Und inwiefern das Zitat ein Beitrag zur Wiederherstellung von Fremdheit ist, würde ich auch fragen.“
Nun ergreift der Schatten noch einmal das Wort:
Zitate, wenn sie über eine längere Strecke daherkommen, sind natürlich sein Kompliment an die Autoren und Dank, ihn so reich beschenkt zu haben. Zum anderen verwendet er sie in Form von Überblendungen, um die Geste eines Autors zu zeigen (gemäß der Roland Barthschen These): »Das soll gesagt sein«.
Hinter und in solchen Gesten verborgen sind ja die Produktionsgeschichten, die er zu erzählen versucht.


IX.
»Mit der unbestätigten Sehnsucht nach dem Ort der Freiheit, hatte Kracauer 1931 dem unvollendeten Werk Franz Kafkas nachgerufen, bleiben wir hier,« heißt es am Schluss des Kracauer-Textes.
Hier bleiben. Als Gast in der Gegenwart, wie es bei Dieter Wellershoff geschrieben steht. Welcher Ort könnte damit gemeint sein? Ich denke an Linders Text über die Schnee-Eifel:
Ich bin aufs Land gefahren… Von einem überdachten Balkon der Blick auf den Ort. Darüber ein gemächliches Geschiebe der Wolken, über dessen Beobachtung man bald das eigene Drängen innen und nach draußen vergisst und sich beruhigt. Zeit für Gelassenheit und andere menschliche Möglichkeiten. Die Vögel geben ein Konzert bis in die frühe Nacht hinein. Später in der Ferne das Bellen anschlagender Hunde. Tief in der Nacht knallt ein Schuss, dann noch einer —da hat ein Jäger angesessen. Dann wieder Stille, zweimal unterbrochen von dem Geräusch eines Flugzeugs als Beweis, dass da draußen tatsächlich Menschen von einem Ort zum anderen unterwegs sind. So vergeht Zeit.[16]

— „Welche Bedeutung besitzt die Eifel für das Schreiben Christian Linders?“ will ich von dem Schatten des Körpers des Schriftstellers wissen, der sich nun über andere Schatten beugt, über den Schatten der Häuser des Dorfes, den Schatten der von Stahlgittern eingefassten Amberbäume, den Schatten der Wolken und den Schatten der jungen Frauen, die an uns vorbeischlendern. Dann ist auch er verschwunden, verschluckt von der hereinbrechenden Dunkelheit, dem Stück Nacht, das ein jeder von uns in sich trägt. Nur seine schwache, rauchige Stimme ist noch zu vernehmen:
— Welcher »Ort der Freiheit« gemeint sein könnte, weiß ich auch nicht. Wenn du in diesem Zusammenhang nach dem Verhältnis zur Eifel fragst – man ist hier einfach unbehelligt. Aber wie Liszt in der Sommermusik sagt: »Meine Sehnsucht ist immer dort, wo ich nicht bin«.

Ich setze mich auf eine der vielen Parkbänke und führe das Gespräch mit der Stimme des Schattens des Körpers des Schriftstellers fort mit dem Satz: „Bei Liszt finden sich Charakteristika eines Lebens, die Linder in seinen literarischen Portraits thematisiert: Das Genie, die Depression, die Ruhmsucht, die Reisewut... In Liszts Buch der Lieder heißt ein Stück: „Oh! quand je dors!“
Der leidende Liszt: Alles erschien ihm künstlich, die Unsichtbarkeit der Welt und der Menschen, die Ruhe und Stille, die er als Leere empfand und für die er keinen Ausdruck in sich ahnte. Er fürchtete diese Leere nicht, suchte sie sogar und wollte sie bewusst herstellen in dem Wissen, dass nicht aus der Fülle, sondern aus der Tiefe der Leere die Töne und Bilder und Wörter kommen,
die den konventionellen Blick auf die Welt und das Leben zerstören können – aber eben nur, wenn man diese Leere als Lehre außerhalb aller Formzwänge mit allen Risiken für die eigene Person zuließ.

— „Aber Liszt wollte eine Sommermusik schreiben, eine leichte helle Musik…“
 — … ohne Anfang und Ende, aus dem Nichts kommend und ins Nichts wieder verwehend, spielend mit den wenigen äußeren Erscheinungen wie der geräumigen Wohnung im Kloster, dem Rhein, den Bäumen, den Parkbänken, dem blauen Himmel und dem Wind, den abgemessenen Spaziergängen in dem gepflegten Inselpark, den Nachmittagen auf der großen Wiese vor dem Kloster mit Vögelgezwitscher und Gesprächen und Lektüren und den langen Abenden mit Wein und bei Kerzenlicht. Ansonsten müsste die Musik nur innere Bilder herantragen, die seinen geheimnisvollen Lebensweg beleuchten sollten. Zu Beginn der Musik vielleicht jenes leise Fluten, das er vorhin, als der Nebelvorhang sich hob, gehört hatte. Er hörte dieses Fluten jetzt wieder und spürte es auch körperlich mit jeder Welle, die sanft seine Füße berührte… In dieser Musik müsste hörbar werden… das Wehen des Windes in unseren Sätzen in diesem Sommer 1841 auf der abgeschiedenen Rheininsel Nonnenwerth mitten in Deutschland inmitten auf einer kleinen Kugel, die sich in einem dunkel schweigenden Universum dreht… Die Musik sollte ein leichtes Spiel sein, das nichts beweisen will, sondern sich selbst genügt.

— „Ein leichtes Spiel angesichts einer gespenstischen Leere der Vergangenheit?“ Vielleicht hätte ich diese Frage nicht stellen dürfen, doch zu spät. Zu spät bemerke ich die Angst in der Stimme, die Angst der Stimme vor der Enge…:

Liszt überlegte: Angst vor der Enge?, und dachte: ja genau diese Reihenfolge, Angst kommt vor Enge. Der Blick hinaus auf den weiten Platz, er schaute sich lange um. Aber er spürte sich in dem Au­gen­blick nicht, wie er da saß und sich umschaute, so als seien seine Augen ein unabhängiges Organ. Kein Gefühl; kein Gefühl für seinen Körper. So saß er da – kalt gemacht gegen die Depression. Die Welt unerreichbar. Die Welt leer. So war sie ihm in den letzten Tagen erschienen, kalt und unerreichbar und leer; gespenstisch leer. Er begriff in dem Moment, dort in diesem Café sitzend, nach dem langen mühseligen Weg dorthin, dass er eines Tages noch einmal durch die alten Bilder hindurch musste, durch die vergessenen Erinnerungen, um sich dahinter vielleicht zu finden als jemand anders, als ein Kind etwa, das eigentlich immer woanders hin wollte, als es auf die Welt kam. Was würde ihn wirklich erwarten, wenn er sich von dieser alten Welt lösen könnte? Würde er dann nicht mehr nur auf die Fotos in seinem Inneren stoßen, sondern auf die Welt, wie sie wirklich war, wie sie da war auch ohne ihn? Er schaute zum Fenster hinaus, er atmete die Luft ein und hatte das Verlangen, über sich selbst zu sprechen, über seine Augen, seine Liebe, seine Liebeslügen, seine Liebeswut und seinen ganzen Krieg.

Bin ich Zeuge dieser Loslösung? Je mehr ich nach ihm suche, desto mehr entzieht er sich meiner Gegenwart. Das macht mir Angst. Ich kenne die Angst, dass, wenn man alles um sich herum zertrümmert hat, man auch sein eigenes Inneres mit zertrümmert hat.
Angst vor der Sprachlosigkeit, dem Versagen der Stimme:
Warum kann ich mein Leben nicht erzählen? Was hinderte ihn, in dieser gesuchten äußeren Stille, die mit einer bewusst hergestellten inneren Stille offenbar korrespondierte, seine Person zum Sprechen zu bringen?... Das Sprechen rettet das Wissen, die Erinnerung an das, was war: da war doch was — was?

Lass die Sirenen singen, sagt Marie d’Agoult.
Ein schönes Bild, antwortet Liszt, aber auch ein bedrohliches. Natürlich bin ich nach Nonnenwerth gekommen, damit in dieser Stille und Leere mein Unterbewusstsein wieder zu sprechen beginnen kann, denn Phantasie entsteht ja immer in diesen Leerstellen, die gefüllt werden müssen. Und wenn man mitten tief in dieser Leere sitzt, dann kann man sie manchmal singen hören, die Sirenen, wie sie die süßesten Bilder der Verführung herantragen, und man hat das Gefühl, das sei eine totale Versprechung der Ekstase und des Glücks. Aber das ist eben auch das Bedrohliche dieser Versprechung: Du wirst dich aufgeben, du wirst außer dich geraten und wirst das Äußerste von dir erfahren. Die Sirene selbst ist dabei völlig realitätsunfähig, das Verführerische an ihr ist, dass sie nur Versprechungen macht, maßlose Versprechungen, und keine Realität gibt. Wenn man hinkommt, ist sie ein Raubvogel, der einen zerreißt, anstatt dass sie einen hochleben lässt. Das wusste Orpheus und konnte nur entkommen, indem er ihrem Gesang seinen eigenen Gesang entgegensetzte. Das wusste Odysseus, als er an der Insel vorbeikam, auf der die Sirenen der antiken Sage zufolge zu Hause waren, und ließ sich vorsichtshalber von seinen Seeleuten an einen Mast binden, während er ihnen befahl, sich die Ohren mit Bienenwachs zu stopfen; deshalb konnten sie sein Flehen auch nicht hören, ihn doch wieder von dem Mast loszubinden, damit er dieser Lockung hätte folgen können. So hat es Homer erzählt, und genauso habe ich mir diesen alten Mythos vom Gesang der Sirenen auch immer vorgestellt: Die antiken Seefahrer waren monate-, oft jahrelang auf den langsamen Segel- und Ruderschiffen unterwegs, weit weg von ihrer Heimat, und hörten immer nur das Geräusch des Windes und sahen immer nur dasselbe, manchmal einige Vögel oder auch nicht, fern mal ein Küstenstreifen, sonst nur das Sonnenlicht und die Wasserfläche, diese leere Fläche – und in dieser Leere begannen die Stimmen des Inneren zu sprechen und ihnen erotische Phantasien einzuflüstern, es war also ein Entzugssyndrom, das die Stimmen hervorrief, denn die Leute hatten keinerlei sozialen Kontakt… Und wir sind in derselben Situation. Diese Insel entspricht dem Schiff in der antiken Sage, das durch die leere Weite des Meeres und der Zeit fährt
.

Linder ist ein Odysseus, wie Liszt hoffend, einmal und endlich über sein Schicksal entscheiden zu können, vielleicht indem er einmal einem Menschen etwas preisgeben würde, was er sein ganzes Leben lang schon in sich verbarg und was ihn sich selbst gegenüber so fremd gemacht hatte. Er war der Fremde, in diesem Augenblick versunken in seine sumpfigen Träume, in denen er offenbar gerade schwer auftankte. So sah es aus. So sah er aus: wie jemand, der sein ganzes Leben lang an einem Sommersonntagnachmittag in einem halb verdunkelten Zimmer gesessen und seine Phantasien betrachtet hat.

Logik der Phantasie, die einen perfekten Spiegel aufbaut. Ich bin irritiert, dass ich selber darin vorkomme und behaupte einfach, es sei nur eine Spiegelung: Das kleine Kind, das beim Blick in den Spiegel lächelt, weil es sich selbst darin erkennt und verlangt: Fülle mein Leben mit deinen Sätzen, damit sie mir meine Wirklichkeit geben… um schließlich die eigene Verrücktheit zu leben und sich der eigenen Welt zuwenden zu können, während die Wörter obszön weiterwuchern. Alle Versuche von Verständnis und Kontrolle werden zunichte gemacht. Die Wörter — das Einzige, was zählt, verführen das Ich, dessen Begehren sich in den Wörtern spiegelt. In jedem Satz existiert immer etwas, das sich über das Ich und dessen eigene Melodie lustig macht.


X.
Ich lese in der Sommermusik, Liszts Musik handele vom
hier und jetzt. Vom Wehen des Windes in unseren Sätzen. Vom Blau des Himmels. Vom Gesang der Vögel. Vom Rauschen des Rheins. Von Nähe und Ferne. Vom Mond und von den Sternen. Vom Vergehen der Zeit. Vom Schauen mit geschlossenen Augen, ohne etwas zu suchen, ohne sich aufzuhalten. Von der Hingabe an die Einfälle.

Von der Hingabe an die Einfälle, an die Phantasie, vom Wuchern der Ideen. Davon spricht auch die Literatur. Davon erzählt das Werk Christian Linders. Doch mit diesem nicht aufgehenden Rest. Etwas bleibt unsagbar. Denn wer sagen kann, wie sehr er brennt, ist nur ein kleines Feuer.
Das wäre auch gar nicht als Literatur zu bezeichnen. Wenn da einer wäre, der unmittelbar die Wahrheit über sich kundtäte. Wer weiß, wer er ist und was er will, wird sich anderer Medien bedienen. Literatur ist Verstellung, Maske, Fassade. Ein Schutzwall gegen die Angst des Schriftstellers vor dem eigenen Ich und seinen Abgründen und Multiplikation dieser Abgründe in den Protagonisten, die sich der Autor in seinen Wunschbiografien herbeizitiert. Das mag als Kulturgut ausgelegt werden, zeigt aber in den Augen Linders nur die verborgene Seite derer, die schreibend dem Leben nachforschen und es zu erkennen versuchen: Wer bist du, und was erfahre ich bei dir über mich selbst?
Und er hebt hervor, dass es im Grunde egal sei, ob man ein Buch rezensiert oder einen Menschen beurteilt. Denn das Buch, das er geschrieben hat, das ist er selbst, sein Symptom.
Die Stimme pflichtet mir bei, ist aber um Differenzierung bemüht:
— Natürlich ist die These nicht falsch, die jedem Schüler eingepaukt wird: der Erzähler in einem Buch oder das lyrische Ich darin – das sei nicht der Autor; also Stiller, Gantenbein, Walter Faber – das sei niemals Frisch; natürlich nicht. Natürlich löst sich ein Text vom Autor und führt ein Eigenleben, ein Buch kann daherkommen als Flaschenpost, treibend in dem großen gesellschaftlichen Leben – aber ein Schriftsteller, das kann nicht oft genug gesagt werden, spricht aus seinem Leben heraus und möchte sein Leben erzählen, und weil er es nicht kann und weil er darunter leidet, dass er es nicht kann, schreibt er seine Bücher und nutzt die Strategie, Teile des eigenen Unterbewusstseins, der eigenen verbotenen Phantasiewelt dadurch angstfreier freilegen zu können, dass er scheinbar von anderen, erfundenen Personen spricht – nur die wenigsten Schriftsteller sind solche starke Persönlichkeiten, dass sie es schaffen, die Sperren direkt, sozusagen autobiographisch zu überwinden. Deshalb, wie es oft getan wird, zu verlangen: Finger weg vom Autor – das ist eine Beleidigung für jeden wirklichen Schriftsteller. Insofern braucht man überhaupt keine Skrupel haben, wenn man auf die Suche geht nach den Erfahrungen, aus denen heraus ein Schriftsteller seine Bücher geschrieben hat – wenn es auch grundsätzlich natürlich immer problematisch ist, in das Leben eines Menschen hineinzusprechen. Aber hier geht es um Literatur, eine öffentliche Angelegenheit. Warum sollte deshalb solche Beschäftigung zu indiskret, zu intim sein? Alles, was ein Schriftsteller an Materialien anbietet, ist öffentlich. Alles, was aus den veröffentlichten Texten erschließbar ist, darf gesagt werden. Jede Frage darf gestellt und beantwortet werden, soweit das Werk selbst Antwort gibt.


XI.
— „Zum Beispiel die Frage, ob es befriedigender sei, sich in der Welt
auszubreiten statt in ihr hoch zu wachsen?“
— „Ja, natürlich.“
— „Und?“
„Ich würde mich gerne in der Welt ausbreiten“, sagt die Stimme des Schattens, den ich nicht mehr sehe, „aber die Schriftsteller müssen hoch wachsen, weiter wachsen. Dort oben ist es dann immer noch möglich, sich auszubreiten, weil dort nicht mehr so viel wächst. Ist man erst einmal da oben, ist es leicht, sich in der Welt auszubreiten. Wäre ich Schriftsteller, ich würde ein Buch nur mit Wolkenbeschreibungen füllen, ohne jede Handlung.
Marie d´Agoult aber sagt zu Franz Liszt in der Sommermusik: Jeder hat das wahre Leben. Was hast du da für eine seltsame Sehnsucht nach einer anderen, wahren Biographie? Wenn wir auch alle unser Leben in unserem Handeln und Denken erfinden, so macht das doch nur Sinn, wenn wir dabei auf uns zu gehen und nicht von uns weg, weg zu einem Ideal.
— „Richtig, das sagt Marie d´Agoult, nicht Franz Liszt. Deshalb schreibt sie am Ende das Capriccio zu Liszts Musik auch nicht. Deshalb verstummen die Vögel, wenn Liszt zu spielen beginnt. Deshalb trennen sich die Wege der beiden schon bald. Deshalb leben sie verschiedene Leben.
»Was willst du?«, fragt Marie d’Agoult Liszt. »Der Welt nicht mehr gefallen müssen,« lautet die Antwort. >Marie d’Agoult ist völlig verblüfft und sagt sofort: »Der Welt nicht mehr gefallen müssen? Wollen? Aber stimmt das denn? Denn hier, in deinen Sätzen und Noten, verführst du ja richtig, führst durch deine Welt und führst auch durch deine Leerräume und zeigst die Ausstattung, zeigst, was in dir klingt und dich bewegt, aber es ist nie so, dass du sagst: Das bin ich, sondern du sagst: Das ist das, was um mich herum ist, das ist die Welt, in der ich mich bewege. Wenn das deine Identität ist, dann müsstest du spätestens in dem Augenblick, in dem du dich dem anderen aufdrängst, dich erst selbst entdecken, als jemand, der stark ist oder banal oder wie auch immer, das ist unbekannt. Denn so, hier, in deiner Musik, gefällst du ja wirklich, und du hast es auch so leicht zu gefallen, weil ja jeder in dieser Musik sich wiedererkennen und eine Welt entdecken kann, die er vielleicht immer schon erahnt hat, die bei ihm aber nie wirklich durchgedrungen war bis zur Wahrnehmung. Aber – bist du das denn? Hast du es nicht so gemacht, dass der andere das Gefühl hat, er sei es?«
„Geht es also letztlich immer nur um die Frage, wie man seine Lebensbehinderungen produktiv machen kann? Ist das nicht ein Unbehagen verursachendes Denken? Ein Denken, das bis zum Äußersten geht?“

— „Ich denke“, sagt die Stimme, „ich denke, in den »Noten« gibt es viele Vorschläge, die Linder daraufhin prüft, ob sie praktikabel sind. Schlüssige Antworten besitzt er natürlich auch nicht. Die für ihn selbst beste Antwort findet sich im Text über Vilém Flusser, indem er die alten Fragen stellt: »Wie setzt man sich mit der skandalösen Tatsache auseinander, dass nach dem Gesetz des Zufalls der eine dieses Lebenslos bekommt und der andere jenes? Wie geht man mit dem Problem um, dass die einmalige Chance des Lebens so ungleich bemessen wird, wie geht man mit der Zufälligkeit von Glück und Unglück um, wie mit der Kontingenz? Fragen, die man letztlich gar nicht beantworten kann, weil in jeder Antwort immer auch eine unlebbare Konsequenz steckt.“ Die einzige Antwort, die er dann riskiert, lässt er Liszt sagen: Ich kenne nur eine Regel: Alles so gut zu machen, dass das, was man heute gemacht hat, wahrgenommen hat, überhaupt gewesen ist und von einem selbst den anderen gegeben hat, gut genug war für diesen Tag und an diesem Tag.

So bleibt am Ende nichts anderes übrig, als in der eigenen Gegenwart weiterzuleben, so dünn sie einem auch erscheinen mag. Gefällt es dir hier, Franz?, fragt Marie d’Agoult. Ja, es gefällt mir. Obwohl immer etwas fehlt. Hier bin ich zwar, dies ist meine Zeit, doch zugleich bin ich mit meinen Erinnerungen in der Kindheit und mit den Phantasien im nächsten Jahrzehnt, so dass ich niemals den Platz ausfülle, auf dem ich jetzt gerade in diesem Moment lebe… Deshalb wird er seine Sommermusik auf Nonnenwerth auch nie schreiben, weil er eigentlich mitten in diesem Sommer 1841 schon vom nahenden Herbst und Winter träumt und weiß, dass man den Traum einer Sommermusik nur im Winter schreiben kann und die darin auszudrückende Stille vielleicht sogar eine Winterstimmung ist. Insofern ist das Buch Sommermusik wieder eine Lektüre von Nie-Geschriebenem. Mit dem Glücksgefühl des Weitermachens, der wartenden Arbeit: Er dachte an das leere weiße Papier, das sein Leben war und zugleich immer auch die Chance, aus Nichts ein Stück zu machen, dieser alte Traum, das Nichts an Stoff zu nützen, indem er das Papier mit seinen Noten füllte, die ihm seine Wirklichkeit geben sollten. Er hatte wie immer vor Beginn einer Arbeit keine Ahnung, wie diese Wirklichkeit aussehen könnte. Er war sich auch nicht sicher, ob er überhaupt einen Sinn oder eine Funktion suchte. Eigentlich will ich doch nur die Farbe Blau zeigen, dachte er, das Blau des Himmels bei bestimmten Lichtverhältnissen, oder vielleicht will ich auch nur den Grundriss einer Wohnung zeichnen, den meine Augen in einer vergangenen Zeit einmal gefilmt haben und der sich auf meinem Körper, in meiner Art, mich durch die Welt zu bewegen, abgedrückt hat. Einen Augenblick noch, dachte er, noch einen kleinen Augenblick.

Ein langer leichter Sommersonntagnachmittag… Dasselbe Gefühl der immer neu erstehenden Fülle, des ständigen und bleibenden Überschwanges, wenn ich dort durch die weiße Holzpforte hinaus, den trockenen Weg entlanggehe, der zu den Wiesen hinunterführt. Da laufe ich an der nassen Wäsche vorüber, die auf der Leine hängt…, da bin ich bei den Heuschobern und den Karren, deren Deichseln auf die Erde hängen; da schaue ich von weitem über den unsichtbaren Fluss, über den blaugrünen Wald im Hintergrund, der allein die Hitze erträgt, diesen Horizont aus Pflanzen zeichnet. Licht, summendes Gras, Fliegen, der Geruch des Misthaufens, und weit und breit keine Menschenseele… Und da ist wieder das sonnenerfüllte Zimmer. Über dem Bett schneidet das Licht ein Rechteck aus der gelben Wand. Der Kamin, der Spiegel, die Kommode, die roten Sessel, der Tisch, das Bett, alles steht an seinem Platz… die weißen Möwen stürzen, fliegen… die Luft erschaffend, dahinschwebend, aus dem Licht hervorgegangen… Durch das Laub, die Zweige… Grenzenloser Tag ohne Umrisse, anschwellend von der Geschichte und den Völkern, von Zufall und Zukunft… In den uneinnehmbaren, frisch beschnittenen Spindelbäumen… die verschlüsselten Gespräche… Und ich laufe durch die laue, lichterbunte Nacht, ich erreiche den zu dieser Stunde einsamen Park, ich laufe durch die dunklen Alleen, ich springe auf die Bänke, die eisernen Stühle, werfe sie um; ich laufe erleichtert, befreit, zwischen den Bäumen hindurch, das Gesicht zurückgeworfen, verloren, mich verlierend…[17]

Ich suche den Schriftsteller Christian Linder und finde immer nur mich selbst. Ich glaube nicht, dass ich etwas sagen wollte, was über das Geschriebene hinausgeht. Ich meine, dies ist die realistische Erzählung eines Mannes, der eine Existenz am Rande der Gesellschaft führt, unter Menschen, die genauso abgeschnitten sind vom normalen Leben wie er.[18] Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich langsam über die lange, dunkle Straße wieder nach Hause gehe.

[1]      Jörg Fauser, Strand der Städte (Schlaflos in der Zwischenzone). Berlin 2009.

[2]     Philippe Sollers, Der Park. Frankfurt a.M. 1963.

[3]    Christian Linder, Noten an den Rand des Lebens. Portraits und Perspektiven. Berlin 2011.

[4]    Christian Linder, Sommermusik. Ein Liebestraum Franz Liszts. Capriccio. Berlin 2011.

[5]     Wenn nicht anders angegeben, entstammen die Kursivpassagen den Texten und Worten von Christian Linder. Der Text geht auf ein Treffen zwischen uns in Nideggen am 26.09. 2011 zurück. Teils habe ich auch Passagen aus unserem Mailverkehr in den Text einfließen lassen. Der Text arbeitet also wie Linder auch mit steten Überblendungen und versteht sich insofern als Hommage an die Schreibweise des Schriftstellers.

[6]    Hugo von Hoffmannnsthal, Der Tor und der Tod. Frankfurt a.M. 1913.

[7]    Sollers, Park.

[8]   Christian Linder, Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land. Berlin 2008.

[9]  Christian Linder, Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll. Eine Biographie. Berlin 2010.

[10]  Vgl. hierzu Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hamburg 1999.

[11]  Paraphrasiert nach Peter Weiss, Der Schatten des Körpers des Kutschers. Frankfurt a.M. 1960.

[12]    Georges Bataille, Werkausgabe, Artikel II 1950-1961. Paris

[13]   Alain Robbe-Grillet, Argumente für einen neuen Roman. München 1965.

[14]   Sollers, Park.

[15]    Walter Benjamin, Über die Sprache des Menschen. Frankfurt a.M. 1977.

[16]   Christian Linder, Landleben, ein Traum. Über den Fluß und die Wälder — Spurensuche in der Schnee-Eifel. In: Lettre International 91 (Winter 2010).

[17] Sollers, Park.

[18] Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt a.M. 1986.

Artikel online seit 05.02.20
 






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