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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 01.04.14

Der Unergründbare

Choderlos de Laclos: Was wir über den Autor
der »Gefährlichen Liebschaften« wissen.

Ein Essay von Martin Göll




 

   Welch Glanz, welche Schönheit! Die Interieurs sind prunkvoll, der Alltag wird wie ein Theaterstück inszeniert, die prächtige Kleidung erfordert eine aufwendige Toilette. Man parliert, um seinen Esprit unter Beweis zu stellen, man geht in die Oper, begibt sich zum Diner, kultiviert den Müßiggang. Unter der makellosen Oberfläche jedoch, da werden Bosheit und Heimtücke zum Zeitvertreib erhoben. Der Ruf der Marquise de Merteuil ist untadelig, doch diese Witwe hat sich eine ganze Garde von Liebhabern herangezüchtet, über die sie nach Belieben verfügt und die sie, wenn sie von ihnen enttäuscht wird, fallen lässt und zum Gespött der Salons macht. Der schwerste Fehler, den man in dieser Gesellschaft begehen kann, ist es, sich lächerlich zu machen. Das geht so weit, dass selbst die Liebe zu einer Lächerlichkeit erklärt wird. Und trotzdem, mit welcher Anmut sind diese Abgründe verkleidet!

   Wir befinden uns im Frankreich des 18. Jahrhunderts, in der Welt des dekadenten französischen Adels. In diesem Milieu ist der Roman Gefährliche Liebschaften von Choderlos de Laclos angesiedelt. Doch wer war eigentlich jener Mann, der dieses einzigartige Buch in der Geschichte des Gesellschaftsromans geschrieben hat, das so souverän von der im 18. Jahrhundert in Mode gekommenen Form des Briefromans Gebrauch macht? Es ist ein Buch, das einerseits in so dunklen Farben gemalt ist, dass es Entsetzen einflößt, andererseits so bewundernswert eindringlich aus dem Leben gegriffen ist, dass es eine tiefe Kenntnis der geheimsten Winkel des Herzens offenbart, eine ganze Palette an Gefühlen. Noch dazu ist die Handlung derart meisterhaft gesponnen, die Charakterisierungskunst so ausgefeilt, dass man geradezu von einem Geniestreich sprechen kann. Barbey d’Aurevilly hat dieses Buch als den schönsten Roman bezeichnet, der jemals geschrieben worden ist. Es ist ein perfektes Buch, welches das Ende einer Welt, einer Literatur bedeutet, den vollendeten Ausdruck eines tragischen Augenblicks in der französischen Geschichte.

   Der Autor dieses Werks weiß zu viel über das Laster, als dass er es nicht selbst studiert haben muss. Man wüsste zu gerne, was er für ein Mensch gewesen ist, wie er die Welt kennenlernte, was er von ihr gesehen hat. Doch dieser Mann bleibt unergründbar. Er gibt sein Geheimnis nicht preis. Hier ist ein Mann, der alles über dich weiß, während du über ihn so gut wie nichts weißt.

   Was uns von diesem Offizier der Artillerie, der es bis zum General gebracht hat, überliefert worden ist, vermag die Oberfläche nicht zu durchdringen. Wir wissen, wie er ausgesehen hat. In Versailles kann man sein Portrait besichtigen, von Boilly gemalt: es ist ein Gesicht mit klarem Blick, intelligent, konzentriert, leicht nach vorne gebeugt, um besser sehen zu können, sympathisch. Der Porträtierte ist Herr seiner selbst, gibt dem Betrachter keine Blöße. Das andere Portrait, von Ducreux, gleicht ersterem nur durch die Augen. Es ist eine Pose, deren Eleganz typischer für die Epoche ist als geeignet, etwas über den Menschen auszusagen. Es ist hübsch, aber nichtssagend.

   Wenn man anderswo sucht, kann man Laclos in den Erinnerungen seiner Zeitgenossen begegnen, aber verkleidet. Der Herzog von Lévis ist ihm begegnet, im Salon von Madame d’Angivilliers. Er beschreibt ihn uns als kühl, »geistreich, ohne liebenswert zu sein.« Talleyrand hat von seinem schlechten Ruf gesprochen, aber auch von seinem Ehrgeiz und seinem Geist, »wodurch er bei Monsieur dem Herzog von Orléans als ein Mann, der alles kann, angesehen war, den bei sich zu haben in stürmischen Zeiten von Vorteil war.« Die Intrigantin Madame de Genlis macht kein Hehl aus ihrer Abscheu wie aus ihrer Neugier für einen Mann, der die Fähigkeit besitzt, sie auszustechen, was den Einfluss auf ihren Liebhaber, den Herzog von Orléans, betrifft.

   Die Archive erlauben es uns ebenfalls nicht, das Rätsel dieses Mannes zu lösen. Die Akte des Generals Choderlos de Laclos des Kriegsministeriums, die Papiere, die die Familie der Nationalbibliothek hinterlassen hat, die Dokumente, die die Rolle betreffen, die er während der Revolution gespielt hat, als »Mann, der alles kann« in Diensten des Herzogs von Orléans, werfen nur ein undeutliches Licht auf einige Tage in der merkwürdigen Karriere dieses Artilleristen, der sich auch auf Psychologie verstanden haben muss. Stendhal, damals Offizier der Dragoner, hat ihn kurz vor seinem Tod, im September 1800 in Mailand getroffen, in der Loge des Generalstabs in der Opera Buffa, doch er hat nicht daran gedacht, uns diesen Mann näher zu beschreiben.

   Einzig die Briefe von Laclos, datiert aus den Jahren 1770-1785, könnten uns eine klarere Vorstellung von ihm geben. Doch bei denjenigen, die veröffentlicht worden sind, handelt es sich um Briefe, die aus dem Gefängnis von Picpus geschrieben wurden, während der Schreckensherrschaft der Revolutionsregierung nach dem Sturz der Girondisten, sympathische, familiäre, ja bürgerliche Briefe, die uns einen Laclos zeigen, der ganz anders ist als derjenige, den man sich erwartet hätte. Es sind hervorragende Biographien über den General Choderlos de Laclos geschrieben worden, doch auch sie bieten keinen Schlüssel zur Person. Eines jedoch zeigen sie: sein Leben war wie sein Buch, der Roman eines Ehrgeizigen. Dieser Mann wusste um seine Überlegenheit und wollte den größtmöglichen Vorteil daraus ziehen.

   Als Sohn eines Sekretärs der Intendantur der Picardie und des Artois im Jahre 1741 in Amiens geboren, gehört Laclos zu einer kultivierten Familie, die seit kurzem in den Adelsstand erhoben worden ist. Er wählt die Armee, um dort seine Karriere zu machen, und zwar in der Artillerie, einem Korps, wo bevorzugt die Söhne des Bürgertums und des Kleinadels dienen, die Geschmack an den Wissenschaften gefunden haben aber wenig Unterstützung bei Hofe. Er hat gute Zensuren, ist fleißig, voller Wissensdurst. Der Vertrag von Paris verbannt ihn, sobald er die Schule verlassen hat, zum tristen Garnisonsdienst und erlaubt seinem Ehrgeiz keine andere Aussicht als jene des Vorrückens nach Dienstalter: die einzige Gelegenheit, die sich ihm bietet, seine Talente zeigen zu können, ist die Errichtung eines Forts auf der Île d’Aix, vor La Rochelle. Um seine Freizeit auszufüllen und sich die Langeweile zu vertreiben, verfasst er kleine, geistreiche Verse, die in den Musen-Almanach aufgenommen werden.

   Diese poetischen Beschäftigungen halten den jungen Offizier des königlichen Artilleriekorps, dem die Disziplin die Kritikfähigkeit nicht ausgetrieben hat, jedoch keineswegs davon ab, an seine militärische Karriere zu denken. Noch im Gefängnis von Picpus nimmt er, um seine freie Zeit während der Haft zu nutzen, die Studien von La Rochelle über die »hohlen Kanonenkugeln« wieder auf, die zum Beschuss von Schiffen bestimmt sind, an deren Flanken sie durch ihr Zerbersten größeren Schaden anrichten sollen. Er schaltet sich in einen schweren Streit ein, der, kurz vor der Revolution, das gesamte Pionierkorps spaltet, betreffend das Thema, ob das Befestigungssystem, das der Marschall Vauban befürwortet hat, auch das Beste sei. In seinem Brief an die Herren der Académie Française über die Belobigung des Herrn Marschall Vauban, vorgeschlagen als Thema des Redewettbewerbs des Jahres 1787, erteilt der Hauptmann Laclos dem Komitee eine kühne Abfuhr, indem er den illustren Ingenieur Ludwigs XIV. beschuldigt, sein Leben damit verbracht zu haben, Festungswerke zu errichten, ohne die Kunst des Befestigungswesens auch nur einen Schritt weiter gebracht und mit erschreckender Verschwendungssucht Millionen begraben zu haben. Laute Proteste lassen sich sogleich gegen den unvorsichtigen Gotteslästerer hören. Der Marschall de Ségur, Kriegsminister, sendet seine Blitze: dafür, dass er ohne vorherige Genehmigung eine Meinung vertreten hat, die so wenig der militärischen Orthodoxie entspricht, wird Laclos schwer zurechtgewiesen und dringend zu seinem Regiment zurückbeordert, von dem er, wie auch immer er das angestellt haben mag, sieben oder acht Jahre abwesend war. Er erhält außerdem den Befehl, nichts mehr ohne Genehmigung zu veröffentlichen. Laclos, der soeben geheiratet hat und sich auf Urlaub befindet, begibt sich sogleich zu seinem Korps. Wenig später erklärt er dem Minister seinen Rücktritt.

   Während der Revolution findet man den Autor der Gefährlichen Liebschaften im Palais-Royal, wo der Vicomte de Ségur ihm die Stelle des Sekretärs im Oberkommando des Herzogs von Orléans verschafft hat. Was ihm vorschwebt: eine Regentschaft von Louis-Philippe II. Joseph de Bourbon, Herzog von Orléans. Gegen Madame de Genlis, und zur großen Empörung aller Feinde des Palais Royal, wird er, in den Augen seiner Feinde, zur »Seele der Partei der Orleanisten«. Als einziger hat Laclos es geschafft, sich die Gunst des Herzogs zu bewahren. Er dominiert ihn, wie man einen so leichtfertigen Menschen nur beherrschen kann, dessen Gunst man schnell wieder verspielt. Welchen Ehrgeiz, oder welchen Hass versucht Laclos zu befriedigen, indem er den Herzog von Orléans durch so viele Intrigen zu einer unwahrscheinlichen Regentschaft drängt, die schon allein als Idee durch die Ereignisse vereitelt wird? Er zieht damit nur den größten Teil der tiefen Abneigung auf sich, die der Prinz rund um ihn erregt, und das Geld, das er als sein Vertrauensmann verteilt (wenngleich ohne sich selbst die Taschen zu füllen), scheint ihm weder allzu viel Feindschaft zu ersparen noch ihm Anerkennung einzubringen.

   In London, wohin er Louis-Philippe nach seiner Flucht folgt, arbeitet er den ganzen Tag im Geheimen, spinnt die Fäden der Intrige und überwacht Paris. Überschüttet mit Briefen, verlässt er sein Arbeitszimmer nicht, schreibt ohne Unterlass. Alle Briefe gehen über seinen Schreibtisch, er zeigt großes diplomatisches Geschick im Dienste eines Prinzen, der ein Wirrkopf ist, mehr mit seinen Vergnügungen als mit der Politik beschäftigt, kurz, eines solchen Dieners kaum würdig. Zurück in Frankreich, stürzt sich Laclos endlich auf eigene Faust in die Politik, bietet seine Dienste den Jakobinern an, für die er eine wichtige Rolle spielt (aber nur hinter den Kulissen), bekämpft die Feinde – ohne mehr zu erreichen, als alle Parteien zu beunruhigen und die Interessen aller zu durchkreuzen. Nachdem er sich aus ihrem Klub zurückgezogen hat, entfernen ihn die Jakobiner aus der gesetzgebenden Versammlung. Er hat nun die Gunst des Palais Royal verloren, ist von der Kommune abgewiesen worden und muss auf jegliche politische Tätigkeit verzichten. Da tritt Danton auf den Plan, der ihm seine Freundschaft bewahrt hat und seine Intelligenz zweifellos schätzt, und bringt ihn an der Seite Servans unter, im Kriegsministerium. Hier soll der alte Offizier nun wieder dienen können. Er wird in seiner Eigenschaft als Kommissar des provisorischen Rates der Armee zum Generalissimus versetzt, dem alten Marschall Luckner. Schnell erkennt er die Notwendigkeit, diesen Unfähigen zur Vernunft zu bringen und beteiligt sich maßgeblich an den energischen Maßnahmen, die getroffen worden sind, um den Erfolg Valmys zu sichern. Das wird aber nicht reichen, um ihn während des Sturzes der Partei der Orleanisten zu retten. Er wird verhaftet, wieder freigelassen, erneut verhaftet und entkommt nur wie durch ein Wunder der Guillotine. Vielleicht verdankt er es Robespierre, dass man ihn verschont hat, als jemanden, der mit den Geheimnissen des Palais Royal vertraut und nützlich zu behalten war. Seine Feinde versichern, dass er seine Rettung seiner Mitarbeit an den Reden des Unbestechlichen verdanke. Wie dem auch sei, er hat überlebt. Die Leute, die ihn nicht mögen, vergeben ihm das nicht.

   Doch mit dem 9. Thermidor, dem Sturz und der Verhaftung Robespierres, ist er endgültig gerettet, und der Regierungsantritt des Generals Bonaparte, Artillerist wie er, eröffnet dem wendigen Laclos eine neue Perspektive. Ohne Rücksicht auf das Reglement verhilft ihm die Gunst des Ersten Konsuls, dessen Staatsstreich er vielleicht sogar unterstützt hat, zum Wiedereintritt in die Armee, im Rang eines Generals. Man findet ihn also bei den Feldzügen am Rhein, schließlich in Italien. Bald darauf, im Jahre 1803, stirbt er an der Malaria, in Tarent, als er unter dem Befehl von Gouvion-Saint-Cyr die Schiffsreise nach Ancona antreten soll.

   Das Schicksal dieses überlegenen Menschen war es, nicht viel Glück gehabt zu haben. Als Soldat verließ er die Armee just zu jener Zeit, als die Revolution ihm die Gelegenheit bieten hätte können, die er bis dahin vergeblich gesucht hatte, nämlich sich durch Tapferkeit auszuzeichnen, und er kehrte erst wieder in die Armee zurück, als er schon gealtert war, um eine Reserve zu kommandieren. Als Politiker kam er nicht über die Intrige hinaus, rieb sich im gefahrvollen Dienst für andere auf. An die Macht gelangte er nicht. Trotzdem, welche Möglichkeiten hätte es für ihn gegeben! Er hätte selbst Napoleon als Trumpf ausspielen können. Aber das Verhängnis über seinem Schicksal hinderte ihn daran, einen größeren Vorteil aus dieser letzten, unerwarteten Chance zu ziehen.

   Noch verstörender ist das, was wir über das Leben des Privatmenschen Laclos wissen. Wie viele Widersprüche zu dem Bild, dass man sich nach der Lektüre seines Buches, wenn man nichts anderes über ihn wüsste, vom Autor der Gefährlichen Liebschaften machen könnte! Dieser grausame Verleumder, dieser teuflische Denunziant der weiblichen Treulosigkeit, dieser durchtriebene Mensch, der zu viel über das Laster weiß, als dass er es nicht selbst studiert haben muss, dieser Machiavelli des Gefühls ist, im Privaten, so wie ihn seine familiären Briefe zeigen, ein Mann mit sehr viel Herz, zärtlich, ergriffen von Rousseau, ein Mann von ernsthafter Sittlichkeit, der den idyllischsten Helden des Apostels der empfindsamen Herzen gerecht wird. Wenn Laclos jemals Valmont gewesen ist, wie sehr muss er sich für diese Rolle verändert haben!

   Als er, ein kleiner Garnisonsoffizier von 43 Jahren, in La Rochelle ankommt, eilt ihm sein Ruf als Autor der Gefährlichen Liebschaften bereits voraus. Mademoiselle Duperré, die Tochter einer angesehenen Familie des Ortes, soll ihre Abscheu vor dem Autor eines so schrecklichen Buches mit den Worten kundgetan haben, Monsieur de Laclos werde niemals in ihrem Salon Zutritt erlangen. Laclos erwidert ruhig, er denke daran, sich zu verheiraten, und er möchte noch im Laufe der nächsten sechs Monate Mademoiselle Duperré zu seiner Frau nehmen. Und Tatsache ist, dass er sie heiratet – wenn auch erst zwei Jahre später, nachdem sie ihm bereits einen Sohn geboren hat (doch selbst da ist die Familie der Braut noch gegen die Heirat). Es scheint außer Zweifel zu stehen, dass er sie ehrlich geliebt hat und sein ganzes Leben, mit dem bürgerlichsten Herzen und Geiste, diese – im besten Sinne des Wortes – gute und treue Gemahlin verehrt hat.

    Ob Laclos jemals seinem Valmont ähnlich war, wissen wir nicht. Was hat ihn jedoch dazu veranlasst, ein solches Buch zu schreiben? War er ein Verteidiger der Moral, der mit seinem Roman nichts anderes bezwecken wollte, als »die schlechten Sitten der guten Gesellschaft« zu brandmarken, wessen er sich auch, mitten unter der Schreckensherrschaft der Revolution, gerühmt hat? War er ein Unzufriedener, voller Hass, der sich am alten Adel, dem gegenüber er sich als Neuadeliger stets benachteiligt fühlen musste, mit einem »infamen« Buch rächen wollte? Oder hat er einfach so, zum Vergnügen, um sich in seiner Freizeit zu beschäftigen, mit immensem Talent und in einer meisterhaften Form, ein Sittenbild seines Jahrhunderts auf dem Papier festzuhalten beliebt, um danach zu anderen Dingen überzugehen, erstaunt über den Erfolg ebenso wie den Skandal, den seine zufällige Schöpfung hervorrief, ein Erfolg, um den er sich, wie es den Anschein hat, gar nicht kümmerte, der ihn vielleicht nicht einmal interessiert hat?

   Man könnte es fast meinen, wenn sich nicht die Vorsichtsmaßregeln, die er im Vorwort der Gefährlichen Liebschaften getroffen hat, die Beteuerungen, dass er die Offenlegung des Lasters nur im Dienste der Tugend betreibe, so ironisch lesen würden, wenn sein Vergnügen nicht so groß wäre, als er beispielsweise seiner Frau berichtet, dass sein Buch in Italien in seiner französischen Fassung viel gelesen werde, dass sogar der Bischof von Mailand, bei dem er im Jahre 1800 wohnt, ihm seinen Wunsch mitgeteilt habe, ein Exemplar der Gefährlichen Liebschaften zu erhalten, und zwar aus der Hand des Autors, und als dem Bischof dieser Wunsch erfüllt worden sei, er gemeint habe, es sei ein höchst moralisches Werk, seine Lektüre sei zu empfehlen, insbesondere den jungen Damen. Lässt sich, trotz aller scheinheiliger Beteuerungen, die ganze Sympathie, die ganze Bewunderung des Autors für die Boshaftigkeit der beiden Hauptfiguren seines Romans nicht erahnen?

   Manches gibt Anlass zu der Vermutung, dass es eine Wette war, die den Autor dazu veranlasste, dieses Buch zu schreiben. Man kann hier eine gewisse Parallele zu Benjamin Constant ziehen. Auch dieser ist ein sich verzettelnder Ehrgeizling und der Autor eines einzigen Buchs, das zufällig zu einem Meisterwerk gerät, ohne dass der eine wie der andere auch nur daran gedacht hätte, eines zu schreiben. Beide, Laclos und Constant, repräsentieren den Typus des überlegenen Amateurs, beide haben sich niemals ausschließlich der Literatur gewidmet, beide ziehen Vorteil aus einer hohen geistigen Kultur, einer gründlichen Kenntnis der Menschen und der Welt und haben die vollendete Kunst des Umgangs mit dem psychologischen Räderwerk beherrschen gelernt, beide haben ihr Bestes in zwei unsterblichen Romanen gegeben, und beide haben, in allem, was sie außerhalb der Literatur unternommen haben, keinen Erfolg errungen, der mit dem vergleichbar wäre, den sie eines Tages zufällig in der Literatur gefunden haben. Von Benjamin Constant wissen wir aus seinem Munde, was ihn dazu veranlasst hat, den Roman Adolphe zu schreiben. Das Werk sei eine »Anekdote«, die einzig geschrieben worden sei, um zwei oder drei Freunde, die auf dem Lande vereint waren, davon zu überzeugen, dass es möglich sei, einen Roman zu schreiben, in dem nur zwei Personen vorkämen, deren Lage stets die gleich bleibe und der trotzdem interessant sei. Solche Wetten unter literarischen Amateuren waren nichts Ungewöhnliches. Vivant Denon sprach etwa davon, seine kurze Erzählung mit dem Titel Nur eine Nacht geschrieben zu haben, um zu beweisen, dass man auf elegante Weise ein Abenteuer nach einer wahren Begebenheit erzählen könne, und erst der Chefredakteur einer Zeitung, ein gewisser Dorat, dachte daran, es zu veröffentlichen, worauf die Öffentlichkeit Dorat für den Autor hielt. Denon, der in Neapel mit den Schönen Künsten und der Diplomatie beschäftigt war, schien sich auch nicht darum gekümmert zu haben oder war aus Diskretion daran interessiert, die Erzählung nicht unter seinem Namen erscheinen zu lassen. Sein Verleger reihte die Erzählung erst nach dem Tod des Autors unter Denons Werken ein.

   Ein Hinweis darauf, dass die Gefährlichen Liebschaften ihre Entstehung ebenfalls einer Wette des Autors zu verdanken haben, findet sich in den vertraulichen Mitteilungen Laclos’, die der Graf Alexander von Tilly in seinen Memoiren für die Nachwelt festgehalten hat. Demnach habe Laclos sich, nachdem er zum Zeitvertreib Poesie betrieben habe und sich im Klaren darüber gewesen sei, dass ihm das weder einen großen Aufstieg noch ein großes Ansehen einbringen werde, dazu entschlossen, ein Werk zu schaffen, dass »vom gewöhnlichen Wege« abweiche, Aufsehen errege, und dessen Widerhall noch auf der Erde zu hören sein werde, wenn es ihn einmal nicht mehr gebe. Tilly bemerkt dazu, dass ihm diese Mitteilungen umso mehr aufgefallen seien, als die Konversation Laclos’ ansonsten »kühl und methodisch, keineswegs von dieser Farbe« gewesen sei. Besser, als Laclos dies getan hat, kann man den Charakter seines Werkes nicht hervorheben, eines Romans, der eher dazu geschaffen worden scheint, für einen Skandal zu sorgen, als dass er dem, was die Berufsschriftsteller mit dem edlen Begriff »Inspiration« bezeichnen, entsprungen wäre.

    Die Gefährlichen Liebschaften datieren aus 1782. Sie erscheinen im März, nur unter den Initialen des Autors. Die erste Auflage des Buches ist innerhalb von vier Wochen vergriffen; der Autor wird über Nacht berühmt. Im ersten Jahr der Veröffentlichung folgen acht weitere Auflagen, Raubkopien verbreiten es in ganz Europa. Die Mode hat sich der Gefährlichen Liebschaften bemächtigt. Der Graf Alexander von Tilly berichtet, die Damen versteckten sich, um es zu lesen, noch mehr als sie sich versteckten, um zu vollbringen, was es lehre. Der Autor sieht sich mit einem Schlag zwischen Lob und Tadel, Wertschätzung und Verachtung, zwischen den hervorragenden Schriftstellern und jenen, die aus ihrem Schreibtalent einen unheilvollen Gebrauch gemacht haben. Jenes Buch, das alles in allem zum Ruhm der Macht der Frauen, wenn auch nicht völlig zu ihrer Ehre gereicht, das dem Autor einen so schnellen, so universalen Erfolg eingebracht hat, bringt ihm auch eine Bewunderung ein, die mit Entsetzen gepaart ist. Überall wird er empfangen, als wäre er der leibhaftige Valmont. Man berichtet von einer noblen Dame, die ihren Diener anwies, für Monsieur de Laclos nicht mehr zu sprechen zu sein: wenn sie mit ihm allein wäre, hätte sie Angst. Madame Riccoboni fühlt sich in ihrem Herzen als Französin und als eifrige Patriotin in der Ehre ihrer Nation verletzt und beschwert sich beim Autor gegen die so empörende Vorstellung von den Sitten und dem Geschmack ihrer Landsleute, die seine Fähigkeiten und seine Leichtigkeit, nicht weniger als die Vorzüge seines Stils, den Ausländern gäben. Sie behauptet außerdem, dass der Charakter von Madame de Merteuil nicht existieren könne. Selbst Marie-Antoinette besitzt ein Exemplar der Gefährlichen Liebschaften, und um ihre Umgebung nicht zu schockieren, lässt sie es taktvoll mit Saffianleder einbinden, ohne Titel auf dem Rücken.

   Laclos ist zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buchs vierzig Jahre alt. Zuvor, im September 1781, hat er einen Urlaub von sechs Monaten erhalten. Schreibt er das ganze Buch in dieser kurzen Frist? Man kann es annehmen. Doch man kann auch davon ausgehen, dass er die Idee dazu schon lange mit sich herumträgt. Stendhal berichtet in einer Anmerkung zu Über die Liebe davon, beim Marquis Berio ein Manuskript von mehr als dreihundert Seiten gelesen zu haben, das sehr skandalös gewesen sei, - »das Verzeichnis der großen Herren von 1778 mit Anmerkungen über ihre Moral, verfasst vom General Laclos.« War es das Manuskript der Gefährlichen Liebschaften, oder zumindest eine frühe Fassung des Romans? Es ist wahrscheinlich, und es stimmt mit dem überein, was Tilly berichtet, gemäß den Mitteilungen, die er dem Autor zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Romans zu entlocken weiß.

   Tilly hat schon lange den »maßlosen« Wunsch verspürt, diesen merkwürdigen Laclos kennenzulernen, der das weibliche Herz so gut versteht, in dem er sich selbst ebenfalls gut auskennt. Er will aus seinem Munde erfahren, was an seinem Roman der Wahrheit entspricht und was der Phantasie entspringt, da er davon überzeugt ist, dass ein solches Werk niemandem ohne Vorlage einfallen könne. Tilly trifft Laclos erst sehr spät, in London, beim Herzog von Orléans. Eine Gelegenheit, etwas von ihm über die Gefährlichen Liebschaften zu erfahren, bietet sich jedoch erst bei einem Lever des Prinzen von Wales. Der Fürst lässt lange auf sich warten, Laclos, der mit Tilly warten muss, vertreibt sich die Zeit mit Plaudern. Dabei entlockt Tilly ihm das Geständnis, dass beide Hauptfiguren seines Romans auf reale Personen zurückgingen. Die Vorlage für Valmont sei demnach einer seiner Kameraden gewesen, der in seinem Leben eine Menge Abenteuer bestanden habe, die großes Aufsehen erregt hätten, ein Mann, der in »alle Falschheiten und Treulosigkeiten, die das weibliche Geschlecht so meisterhaft beherrsche«, eingeweiht worden sei.   

   Das Original der Marquise de Merteuil habe er in Grenoble gesehen, eine gewisse Marquise de la Tour du Pin de Montmort, von der die ganze Stadt gesprochen habe und die der unersättlichsten römischen Kaiserinnen würdig gewesen sei. Stendhal berichtet in seinem Leben von Henri Brulard über diese Dame, er habe sie gekannt, als er noch ein Kind gewesen sei: sie habe ihm eingemachte Nüsse gegeben, und sei, wie es sich für das Modell der Marquise de Merteuil geziemt, in strenger Frömmigkeit gestorben. Über den Charakter von Madame de Tourvel hingegen sagt Laclos, er habe ihn erfunden und halte ihn für »ungewöhnlich«.

   In den Gefährlichen Liebschaften setzt Valmont Emotionen wie Waffen ein, um Madame de Tourvel zu bekommen, er taktiert wie ein Feldherr mit gedeckten Vorstößen und kalkulierten Rückzügen, er sieht die Reaktionen seines Opfers voraus und bemisst danach seine nächsten Schritte, er erkennt, dass sich hinter den verzweifelten Zurückweisungen Madame de Tourvels, ihrem Bemühen, ihre Tugend zu schützen, die Sehnsucht verbirgt, verführt zu werden. Womit er jedoch nicht gerechnet hat, das ist, dass er sich in Madame de Tourvel verlieben wird. Und er hat die Marquise de Merteuil unterschätzt. Vielleicht steckt im Vicomte de Valmont doch etwas von dem an der Mathematik interessierten Soldaten Laclos, der in seinem Leben stets alles zu berechnen und zu bedenken scheint, und dessen Pläne dann doch immer wieder durchkreuzt werden.

   Als Fazit bleibt: was wir über Laclos wissen, reicht nicht aus, um hinter die Maske blicken zu können. Das Geheimnis, wie er ein solches Werk aus dem Ärmel zaubern konnte, bleibt unangetastet. Jedenfalls muss er einer gewesen sein, der wusste, was die Liebe mit uns anzustellen vermag. Und das macht die Lektüre der Gefährlichen Liebschaften auch noch 230 Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen so spannend.

 

P.A.F. Choderlos
de Laclos
Gefährliche Liebschaften
Übersetzt aus dem Französischen und herausgegeben von Wolfgang Tschöke
Hanser Verlag
544 Seiten
27,90 € (D)/UVP 37,90 sFR/28,70 € (A)
978-3-446-20383-9

Leseprobe

Der Autor Martin Göll, geb. 1979, Studium der Anglistik und Romanistik, lebt in Wien.


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