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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Die menschliche Komödie
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Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

 

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Foto: Werner Schwarze
Arbeit am Abgrund des Selbst


Ein kleines Kriegspanorama mit Ernst Jünger

Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

»… Blut: Saat des Universums … Die Kräfte, die das Universums bestimmen

und jene, die der Sprache  ihre Architektur geben, sind identisch.«

                                 (Valère Novarina, Lichter des Körpers)

 

Der Krieg. Für meine Generation war das ein bisschen Borchert und Böll, der obligatorische Dachautrip während der Abschlussfahrt nach München und das farbig illustrierte Kapitel in den Schulbüchern der Mittelstufe. Der Krieg, den wir kannten, war eine nachkolorierte TV-Doku, mit der sowohl die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten als auch unsere Geschichtslehrer ihrem Bildungsauftrag in knapp 45 Minuten nachkamen.

Wir holten uns den Krieg noch nicht als Blue-ray bei Amazon, sondern via Commodore 64 und dem Multi Screen-Ballerspiel Beach Head in die Wohnstuben. Dieser legendäre Vorläufer der Ego-Shooter-Serien à la Black Ops ließ den Krieg zu einem Puzzle aus verschiedenen Features und Levels werden. Die miserable Grafik war ebenso leicht zu verschmerzen wie die während des Spiels tief über die Felder fliegenden Düsenjets, die doch bloß die Fensterscheiben unserer Kinderzimmer für einen Moment erzittern ließen, um wieder im Nirwana eines strahlenden Sommernachmittages zu verschwinden. Im Grunde war alles, was wir wirklich über den Krieg wussten, dass er nie wieder kommen durfte, obgleich er bei uns zu Hause immer auf geheimnisvolle Weise präsent blieb.

 

Streng genommen waren all die Medien, die uns den Krieg auf so unterschiedliche Weise darboten, nur Ablenkungsmanöver gewesen, die zusätzliche Distanz zum historischen Geschehen schafften.

In Wirklichkeit kenne ich den Krieg allein vom Schweigen meiner Vorfahren. Vom Schweigen meiner im ersten Weltkrieg geborenen Großmutter, die 1940 mit vier Kindern durch halb Europa flüchtete. Vom Schweigen meines Großvaters, über dessen Kriegsgefangenschaft nie Genaueres in Erfahrung zu bringen war. Und vom Schweigen meines Vaters, dessen Geburtsschrei rasch von der Bombardierung Polens übertönt wurde. Sein Trauma aus Lärm und Geschrei hütet er bis heute wie den Heiligen Gral. Für mich wurde so das kollektive Schweigen meiner Familie zum Synonym für Krieg.

Ich kenne den Krieg insofern als jene Nachwehe, die in der Sprachlosigkeit über den Schrecken und das Unvorstellbare neue Wirkung entfaltete. Ich kenne den Krieg als sozialen Riss, dessen Bruchlinie sich über die Generationen hinweg fortgepflanzt hat, und der mit seinen haarfeinen Verästelungen auch in die Biografien all der Generationen eindrang, die ihn selbst nie erleben mussten.

Die Flucht vor den Gräueln währte auch nach 1945 und wurde in den Wohnstuben des Wirtschaftswunderlandes mit anderen Mitteln fortgesetzt. Denn man schwieg geflissentlich über das, wovon man nicht sprechen konnte. Die Schwarz-Weiß-Fotografien eines zurückgelassenen Lebens blieben die einzigen Bilder, die wir vom Krieg unserer Vorfahren besaßen. Ihre Tabus wurden unsere größten Erzieher. Der Krieg blieb zeitlebens jene Leerstelle, die von uns Kindern wenn schon nicht ausgefüllt, so doch wenigstens respektiert werden musste. Es war diese Leerstelle, die dafür sorgte, dass wir uns alle auf mysteriöse Art mitschuldig fühlten und an eben dieser Mitschuld litten.

 

Das Los, die Sprache verloren zu haben, das viele Kriegsteilnehmer wie auch uns Jüngere, die wir unter ehemaligen Soldaten und traumatisierten Kindern aufwuchsen, auf so unterschiedliche Weise getroffen hat, ist in meinen Augen der wesentliche Grund für den bundesrepublikanischen Erfolg des Schriftstellers Ernst Jünger.

Anders als so viele Andere spricht dieser Autor immerfort vom Krieg. Er zelebriert Sprache als Kampf. Jedes seiner Worte dient dem Überleben in fragmentierter Zeit. Von fast nichts anderem berichtet er deshalb so enthusiastisch wie von der Schlacht und vom Kampf und vom Blut, und mit jeder Zeile schreibt er an der Begeisterung der Kriegsfreiwilligen von 1914 weiter. Ein Jahrhundertleben lang.

Seine Prosa hatte aus diesem Grund kathartische Wirkung auf ein Land, dessen Familienleben nach den Kriegen vom Schweigen beherrscht wurden. Ich spreche von der Katharsis-Wirkung seines Schrifttums, weil sich an ihm, dem Kompanieführer der Deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, zeitlebens die Geister schieden; auch, weil an ihm die bundesrepublikanischen Aggressionen ausgelebt werden durften. Jünger rief heftigste Reaktionen hervor, die ein Licht auf seine Kritiker werfen: Warum ließ sie nicht kalt, was er schrieb? — Wohl, weil er in seinen Lesern etwas ansprach, das nicht einfach konsumiert werden konnte wie das Brot der frühen Jahre. Seine Texte forderten das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik und ihrer Bürger (sic!) heraus. Niemand war nach der Lektüre derselbe wie zuvor.

 

Als ich Jünger das erste Mal las war ich bereits Mitte 20, Jünger seit Kurzem tot. Mir wurde vieles verständlicher damals, weil dunkle Ahnungen in ein helles Licht eintauchten: »Eines der Symbole geschichtsloser Räume ist die Deponie. Der Raum wird durch den Abraum bedroht. Der Schutt wird nicht mehr bewältigt wie in den Kulturen; er überwächst die Bildungen« schreibt er in Eumeswil.

Obwohl es mir anfänglich schwer fiel, in die Hintergründe seiner Sprache einzudringen, merkte ich endlich, dass die Dinge dort nicht schwieriger, sondern einfacher wurden. Denn hier gab es einen, der das Schweigen über den Krieg brach und aus der Mitte des Unheils, aus den Katakomben des 20. Jahrhunderts heraus Zeugnis ablegte. Insbesondere In Stahlgewittern und Strahlungen schockten mich mehr als der Besuch im KZ-Museum, die ZDF-Doku oder später die Fronten des Kalten Krieges in den virtuellen Weiten von Black Ops. Denn Jüngers Bücher waren das Dokument eines in meinen Augen absolut authentischen Prototyps von Ego-Shootern — mit ungeahnten Nebenwirkungen bei mir als seinem Leser. Möglich, dass er die Wirkung seiner Tagebücher und Fronterlebnisse antizipiert hat als er in Strahlungen II schrieb, er bewege sich »durch verschiedene Schichten der Wahrheit.« Möglich, dass er sich bereits früher, als er 1922 den »Kampf als inneres Erlebnis« deutete, der Wirkkraft seiner Worte bewusst war: »Und immer solange des Lebens schwingendes Rad noch in uns kreist, wird dieser Krieg die Achse sein, um die es schwirrt. Er hat uns erzogen zum Kampf und Kämpfer werden wir bleiben, solange wir sind.«

In diesem wichtigen Satz liegt die Geschichte ganzer Kriegsgenerationen begraben: Der Krieg ist die Achse, um die das Leben kreist. Heiner Müller hat das gesehen als er in seiner Autobiografie »Krieg ohne Schlacht« am Ende seines Kapitels über Jünger schrieb, am Anfang, noch vor der Bekanntschaft mit Frauen, stünde bei diesem Autor der Krieg. Zuerst also kam das Töten und dann der Sex. Anders formuliert: Als Eros eintraf, war Thanatos bereits da.

 

Wir werden uns hundert Jahre später wohl noch einmal fragen müssen, ob wir uns mit dieser Rangfolge einverstanden erklären; ob wir tatsächlich Kämpfer bleiben wollen, Ego-Shooter einer völlig zerfaserten und durch abertausend Kleinkriege parzellierten Gegenwart? Sind wir wirklich gewillt, den Kampf, den unsere Vorfahren vor so langer Zeit begonnen haben, ewig weiter zu führen? Gleich ob in den Unternehmensetagen, der Politik, den Schulen und Hochschulen oder Werkhallen. Wäre es nicht allmählich an der Zeit, einmal inne zu halten?

Was mich betrifft, so bin ich des Kämpfens schlichtweg müde geworden. Ich möchte keine Opfer mehr bringen. Ich möchte mich nicht immer wieder aufopfern müssen. Ganz zu schweigen davon, ist mir das »Rasseln der Maschinengewehre von Langemarck« völlig fremd, obwohl es dies Rasseln war, das mir und meiner Generation als Wiegenlied gespielt wurde — als Echo einer gestohlenen Kindheit und Jugend der Elterngenerationen.

Wenn Jünger schreibt, die Maschinengewehre seien »Sätze einer Prosa«, die »beherrscht« werden wollten, macht mich das einigermaßen ratlos. Wer muss solche Sätze heute noch beherrschen? Legen wir unsere Waffen (wie immer sie auch aussehen mögen) doch einfach nieder. Ja, ich bin der Überzeugung, das Maschinengewehr — und mit ihm das Schweigen der Wörter — ist widerlegbar. Jedes Eingedenken, jede Erinnerung an die Toten von Langemarck und die vielen anderen Schlachthäuser der Welt ist eine solche Widerlegung.

 

Jünger selbst hat den Weg zu seiner eigenen Entwaffnung geebnet, indem er den Krieg durch die Ordnung der Sprache strukturierte. Gleichwohl bietet er lediglich das Material an, mit und an dem wir weiter arbeiten müssen, wollen wir die entstandenen Leerstellen der Kommunikation nach 1945 wieder mit Sinn füllen. Hierzu bedarf es jedoch des eigenen Vokabulars, um zur Sprache zu kommen. Jüngers Prosa könnte allerdings ein Anlass, eine Ouvertüre zur kritischen Reflexion eines Jahrhunderts sein, dessen Extreme noch immer nicht richtig durchdrungen worden sind. Damit geht meines Erachtens nicht zuletzt die Überwindung seiner Andeutungsprosa einher, die Überwindung auch des Kriegspathos, der Steifheit seiner Syntax und der semantischen Antiquiertheit seiner Texte sowie die Absage an die Zelebrierung des »pulsierenden Blutes«. Es ist denkbar, dass dies »Arbeit am Abgrund« bedeutet, die schwierig genug sein wird, weil ein Gespräch mit der Kriegsgeneration kaum mehr möglich ist.

Beschränken wir uns deshalb zunächst auf die Arbeit am Abgrund der Jüngerschen Texte. Das hieße freilich nicht weniger als eine Antwort auf die großen Fragen unserer Gegenwart zu finden, die da lauten, wie viel Krieg noch heute in uns wütet; wie viel Begeisterung für die Zerstörung; wie viel Kampfeslust uns noch immer umtreibt und anstachelt; wie sehr wir selbst noch Kompanie sind, uns führen lassen, Gefallen am Befehlen finden und in permanenter Todesbereitschaft die Arbeit verabsolutieren — und in eben dieser Willfährigkeit erneut vergessen … miteinander zu sprechen.

Jünger lesen hieße dann, uns zu fragen, was wir uns selber nicht einzugestehen vermögen; zu reflektieren, warum wir die Leerstellen, die der Krieg hinterlassen hat, nicht mit neuem Sinn gefüllt haben — bis jetzt! Schließlich wäre zu bedenken, ob wir uns kontinuierlich — wie Jünger dies getan hat — inszenieren müssen, um die verschiedenen Schichten der Wahrheit zu durchdringen, oder auch einfach nur, um etwas zu gelten in dieser geltungslosen Zeit. Das wäre in der Tat: Arbeit am Abgrund des Selbst.

 

Arbeit am Abgrund: Nicht zufällig rückt gerade Jüngers »Arbeiter« wieder in den Fokus seiner Leserschaft. Als visionärer Text, politisches Manifest, ästhetische Theorie und philosophisches Traktat ist er bereits vor geraumer Zeit von Thomas Pekar und zuletzt von Helmuth Kiesel skizziert worden. Die zentralen Thesen des Buches, dass alles, auch der Müßiggang Arbeit ist, und nur der Arbeiter ein Aristokrat der technischen Welt sowie Vertreter einer neuen Elite sein könne, sind gleichfalls seit Erscheinen des Buches im Herbst 1932 virulent gewesen und müssen, wie auch Jüngers damit zusammenhängender Abgesang auf das Bürgertum, eigentlich nicht wiederholt werden. Das Versagen des Menschen an der Technik des 20. Jahrhunderts als Grund für Kriege und Traumata bildet allerdings ein Desiderat auch in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Ernst Jünger. Er selbst schreibt in diesem Zusammenhang, wohl auch mit Blick auf seine eigene Autorität, an Gerhard Nebel, dass 1945 mehr »als nur das tausendjährige Reich« untergegangen sei.

 

Dies spiegelt sich nicht zuletzt bei Peter Trawnys Auseinandersetzung mit Jünger wider. Trawny verficht in der »Autorität des Zeugen« die These, Jünger sei grundsätzlich als ein politischer Autor zu betrachten. Ein Autor, der Autorität beanspruche. Nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch heute noch: »Dabei wechselten die Formen. Mit den Stahlgewittern erschien er als der mehrfach verwundete und dekorierte Soldat … Mit dem Arbeiter beanspruchte der durch die Materialschlachten gegangene Krieger und Flugschüler … die weltgeschichtliche Repräsentation seiner die »Totale Mobilmachung« verkörpernden »Gestalt«. Die Afrikanischen Spiele setzten die Authentizität des Fremdenlegionärs voraus … Mit dem »Anarchen« und dem Waldgänger zieht er seine Konsequenz. Noch die Annäherungen kommen ohne die Autorität eines selber mit Drogen Experimentierenden nicht aus.«

Auch im Briefwechsel mit dem Journalisten Ludwig Alwens beansprucht Jünger Autorität. Sein Brief an Alwens vom 16. Oktober 1930 scheint so etwas wie die Geburtsurkunde des »Arbeiters« zu sein. Denn nur zwei Tage später, so Trawny, beginnt er mit dem Manuskript, das die »Notwendigkeit eines Zweiten Weltkrieges« sieht, um »die Gerippe des XIX. Jahrhunderts … durch die Knochenmühle des Chaos« zu jagen. Wie viele seiner Zeitgenossen sehnt Jünger das Ende von Weimar herbei. Der »Arbeiter« soll seinen Beitrag zu diesem Untergang leisten und eine »planetarische Perspektive« eröffnen. Hierbei ist Jünger weniger an parteipolitischen Strategien interessiert als vielmehr an kleineren Zusammenschlüssen wie dem Bund oder einem Kreis à la George. Das läge, so Trawny, an Jüngers »Vorliebe für das Militär und hierarchische Struktur«, in der er seine Autorität besser ausspielen konnte und sich durch sie, so Jünger später, »weithin den Tyrannen gezeigt« habe.

Nach 1945 aber fehlen diese Tyrannen, weshalb Trawny treffend formuliert: »Die Gewalt, ihre funktionalistischen Formen und ihre nichtssagenden Folgen haben den souveränen Autor im besten Fall zu einem Ritter der traurigen Gestalt gemacht. Es könnte sogar sein, dass nach 1945 der Autor als solcher undenkbar geworden ist.«

 

Völlig undenkbar war ein solcher Autor nicht, liest man die Briefe an Jünger, die Detlev Schöttker nun unter Mitarbeit von Anja Hübner herausgegeben hat. Das Who ist Who der deutschen Geistesgeschichte nach ´45 ist dort vertreten: Celan, Heisenberg, Jaspers, Gadamer, Sternberger, Scholem, Kempowski und andere. Nahezu alle verehren Jünger, sind ihm »treu ergeben«, »dankbar« oder bringen ihm »Größte Hochachtung« entgegen. Eine Ausnahme ist dabei: Alexander Mitscherlich, der nach dem Erscheinen von Jüngers Friedensschrift nicht an ihn, sondern dessen Frau Gretha schreibt: »Die Stärke Ihres Mannes ist es immer gewesen, der Chronist der Destruktion zu sein, die er begreifen mochte wie etwas, was als Paradox zur Ordnung der Welt gehört. Die Liebe zu den Farben der Verwesung ist überall spürbar. Wenn er nun … an der Notleine des Christentums zieht, dann muss ich einfach lachen. Wer nichts als die christliche Heilsbotschaft in dieser traurigen Welt zu offerieren hat, der wird keine Peripetie erzwingen.« Denn, so Mitscherlich weiter, die »Attitüde der Gläubigkeit« halte keinen Wendepunkt in der Geschichte bereit. Am Ende des Briefes geht auch er auf den »Arbeiter« ein und bemerkt, Jünger habe ihm eine Maxime des Marquis de Vauvenargues in sein Exemplar geschrieben, die behaupte, Krieg sei besser als Knechtschaft. Dazu Mitscherlich: »Es gibt Sätze, welche so sinnlos sind, dass sie auch in der Verneinung hoffnungslos unsinnig bleiben. Man darf sie eben überhaupt nicht denken.«

 

Doch für Jünger gibt es im Denken keine Tabus; nichts verschlägt ihm die Sprache. Diese Haltung entspringt, wie Helmut Lethen im Gespräch mit Stephan Schlak (Ernst Jünger, Arbeiter am Abgrund, Marbachkatalog) betont, dem 19. Jahrhundert, ist an der Sprache der Naturwissenschaften orientiert und entwickelt sich in der Weimarer Republik zu einer »Verhaltenslehre der Kälte« — so der Titel von Lethens Buch aus dem Jahre 1994. Er kommentiert anlässlich der Jünger-Ausstellung des Deutschen Literatur-Archivs: »Im Arbeiter schwitzt niemand mehr. Er ist geruchsfrei. Die Gestalt ist galvanisiert.« An der Kälte seiner Schlachtbeschreibungen und der Vieldeutigkeit seiner Person erhitzten sich nicht zuletzt die deutschen Befindlichkeiten der Nachkriegsära. Jünger ließ, wie Detlev Schöttker in Anlehnung an Jean Améry über »Jüngers Präsenz in der deutschen Literatur nach 1945« schreibt, keinen gleichgültig. So galt der Arbeiter bereits in Lukács´ Zerstörung der Vernunft von 1954 als »militante Lebensphilosophie.«

Ob nun kalt oder militant — es ist nur folgerichtig, wenn Schlak seine einleitenden Worte in die Marbacher Ausstellung als »Stereoskopien« zu Jünger präsentiert und damit abermals auf das 19. Jahrhundert verweist, dem Jünger entstammt und das das Stereoskop in Form des Kaiserpanoramas zu einem Publikumsmagneten werden ließ. Kaiserpanoramen waren die Nachfolger der großen Rundpanoramen, jener monumentalen und zuerst von dem Iren Robert Parker in Umlauf gebrachten Schaustätten im ausgehenden 18. Jahrhundert. Zu sehen waren in den aufwendig hergestellten Panoramen, Dioramen usw. Schlachten, Feldzüge oder Landschaftsgemälde. Es war die Zeit der großen illusionistischen Schaubilder, die mit der Weltausstellung zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Schaulust nach sich zog. August Fuhrmann mit seinen neuen farbigen Glasphotogrammen und dem automatischen Bildtransport steigerte die illusionistischen Reize.

»Das bedeutendste und berühmteste Panorama der Epoche« schreibt Dolf Sternberger in seinem Panorama vom 19. Jahrhundert, sei von Anton von Werner entworfen und gemalt worden: »Das Panorama der Schlacht bei Sedan, welches am 1. September 1883 zu Berlin in Gegenwart des Kaisers feierlich eröffnet wurde.«

Es ist also kein Zufall, dass Schlak Jünger »stereoskopisch« deutet.

 

Ein Rundbild seines Schaffens bietet nicht zuletzt der jüngst von Wojciech Kunicki und anderen herausgegebene Band »Ernst Jünger — ein Bilanz«. Ein weiteres Mal wird hier der Arbeiter fokussiert, um den herum sich die übrigen Arbeiten Jüngers gruppieren. Michael Jaeger bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt, das Kriegserlebnis lasse »die heroische Gestalt des Arbeiters besonders markant hervortreten, und zugleich lenkt das martialische Umfeld den Blick auf das der modernen Existenz des Arbeiters ohnehin zukommende, ihr Bedeutung gebende Pathos. Ihren heroischen Sinn gewinnt die Existenz des Arbeiters aus der — im Horizont der Moderne archaisch, höchst paradox sich ausnehmenden — permanenten Gegenwärtigkeit des Todes, des Blutopfers, der Todesbereitschaft, und dies im programmatischen Gegensatz zum ängstlichen Bürger und seiner von der Avantgarde verhöhnten Sicherheits- und Versicherungsneurose.«

Mit dieser hellsichtigen Diagnose ist bereits eine grundsätzliche Frage benannt: Lohnt es heute noch Jünger zu lesen, da mehr und mehr das Archiv über die Legende zu triumphieren droht, wie mit Stephan Schlak zu ergänzen wäre?

Und schließlich verlieren Bücher, so Karl-Heinz Bohrer schon in seiner Habilitationsschrift von 1978 über Jünger, ihren Schrecken.

 

Was also bleibt?

Ereilt Jünger dasselbe Schicksal wie das bereits erwähnte C64er Spiel Beach Head? Ist er ästhetisch nicht längst überholt, auch wenn sein Name Kult ist? Immerhin bleiben die Gründe für den Erfolg bis dato ebenso im Dunkeln wie die Helden der Ego-Shooter-Serien, die den Krieg in einer anderen Dimension präsentieren. Warum also einer, für den Krieg und Kampf Antriebsmomente des Lebens waren, ausgerechnet im verhältnismäßig friedlichen bundesdeutschen Alltag nach 1950 so erfolgreich war und so emotionale und gegensätzliche Positionen provozierte, wird weiter eine nicht hinreichend beantwortete Frage bleiben.

War der Streit um Jünger nur deshalb so heftig, weil er in einer Zeit stattfand, die noch in Kategorien von rechts und links, gut und böse, Autorität und Herde, Freund und Feind dachte und keine Probleme damit hatte, diese auch zu benennen? Sicher ist, dass dieses Schubladendenken einer Zeit angehörte, in der tief fliegende Kampfjets noch Symbol des Kalten Krieges waren und unsere Schlafzimmerscheiben hin und wieder erzittern ließen.

 

Was aber kommt danach? Nach der Kälte, nach der Katharsis? Nur das Archiv? Am Ende das Vergessen? — »Es gibt ein archivarisches Gewissen, dem man sich selbst zum Opfer bringen muss« schreibt Jünger in Eumeswil.

So bleibt in der Beschäftigung mit dem Autor etwas Uneingestandenes virulent. Dieses Etwas gehört unter Umständen zu jenen »Formen der Flucht, in denen der Einzelne, nachdem er den Umkreis der geistigen und körperlichen Welt nach einem Ausweg durchlaufen hat, die Waffen streckt«, heißt es im Arbeiter.

 

Es bleibt uns eine Aufgabe. Helmut Lethen fasst sie so zusammen: »Wir sollten die Abgründigkeit seines Menschenbilds in unsere Anthropologie einbringen.«
 

Literatur:

Ernst Jünger
Arbeiter am Abgrund
marbacherkatalog 2011,
hg. von Heike Gfrereis



Wojciech Kunicki
et alii:
Ernst Jünger —
eine Bilanz.

Leipziger Universitätsverlag 2010.




Peter Trawny
Die Autorität des Zeugen
Ernst Jüngers politisches Werk. Matthes und Seitz 2009.


 

Detlev Schöttker
Im Haus der Briefe
Autoren schreiben Ernst Jünger
1945-1991
Wallsein-Verlag.






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