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Literatur und Zeitkritik


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Du sollst Dein Leben ausbeuten!

Byung-Chul Hans »Psychopolitik« als soziale Apokalypse des Neoliberalismus

Von Peter V. Brinkemper



»Wir sind zu lebendig, um zu sterben und zu tot, um zu leben.«

Byung-Chul Han
(Foto: S. Fischer Verlag)

Manche Politiker und Philosophen verlautbaren seit der Weltwirtschaftskrise ab 2007 eine gewisse Rückkehr der Ökonomie zu vernünftiger Regulierung, im Interesse freier, sozialer und wohlhabender Bürger. Aber wie krisenfest sind die bürgerliche und die politische Freiheit auf einer Achterbahn? Byung-Chul Han ist der Ansicht: Die Deregulierungs-Maschine Neoliberalismus ist noch immer die herrschende Triebkraft des Zeitalters. Das neoliberale Konzept sei deshalb so ungebremst erfolgreich, weil es auf einer bisher nicht im vollen Umfang erkannten Strategie beruhe: auf der undurchschauten Kolonialisierung der massenweisen individuellen Freiheit, durch eine Psychopolitik der angeblich positiven Selbstausbeutung. Fast ohne Gegenwehr verdränge der Neoliberalismus auf allen Ebenen die vernünftige und freie Selbstgestaltung der Individuen – mit seinem Programm der propagierten Selbstausbeutung im Rollenmodell eines marktkonformen Unternehmers. Diesem Paradox der Selbstverknechtung im Dienstleistungs- und Medienzeitalter stellt Han Dimensionen der Verweigerung und der guten alten Freiheit entgegen: Lebenskunst, Zen, Entzug, stummen Protest und vertiefte Aufklärung.

Hilfe oder Hurra? Ich bin Unternehmer

Der Neoliberalismus ist das gefräßige Magma unserer transatlantisch verbundenen westlichen Gesellschaft. So versteht er sich jedenfalls gerne selbst. Er wälzt sich auf das dystopische Ende aller staatlichen und sozialen Regulierungsmacht zu, begleitet von der lautstarken Propaganda der vermeintlichen Entfesselung der individuellen Freiheit und ihres Umschlags in immer wieder neue Totalisierungen, in prekäre und oft höchst primitive Formen permanenter Konkurrenz und Konflikthaftigkeit auf allen Ebenen in einer chaotisierten Gesellschaft, in der sämtliche klaren Regeln und Ordnungen verwirrt werden, durchaus wider Sinn, Verstand und Vernunft. Im Stadium der konsequent durchprivatisierten Schrankenlosigkeit wird die Freiheit des Individuums als letzte verlässliche Kompetenz propagiert und aufgeblasen zum unreglementierten Alles-Können, als Superhelden-Schutzschild in den Kampfzonen der zerbrochenen sozialen und staatlichen Ordnungen.

Nach Byung-Chul Han wird vom einzelnen heute, als nivelliertes Mitglied einer Massen-Medien-Gesellschaft, an der Spitze und an der Basis, erwartet, dass er als Unternehmer  seiner selbst auftrete und sein mutmaßliches Alles-Können den zweckgebundenen Formen geschrumpfter oder umstrukturierter (Katastrophen-)Arbeit unterwerfe und auf dem Markt der unbegrenzten Möglichkeiten oder der dahinschwindenden Optionen anbiete. Und zwar sogar auch in bisher geschützten Domänen, die von Haus aus dem kommunikativ-sozialen und nicht dem produzierenden oder zynisch wertvernichtenden Sektor zugeordnet seien. In die neoliberale Schreddermaschine gelangten beinah auch schon die intersubjektiv greifbaren Werte der Lebenskunst, der anspruchsvollen biographischen Erfahrung, Freundschaft und der Solidarität (und der korrespondierenden Nachhaltigkeit), längst aber und vor allem die intra-subjektiv instrumentalisierten Komponenten: »Emotion, Spiel und Kommunikation« (so Han). Das scheinbare Alles-und-Nichts-Können des vereinzelten Individuums im Zeichen des Neoliberalismus sei Verlockung und Fluch einer isolierten Existenz- und Funktionsweise jenseits eines normativen Sollens (zwischen Gebot und Verbot), - die suggestive Ermächtigung für das Individuum, Beliebiges, ja Unmögliches in der Ego-Sphäre einer eigenen Ersatzwelt leisten zu können, um dabei zugleich äußerste Kalkulation, Disziplinierung und Risiko-Verantwortung ganz für sich allein aufzuschultern.

Von der Freiheit wie eine Maschine zu funktionieren

Die reale Kraft, das utopische Pathos und die soziale Dimension von altliberaler und sozialistischer Freiheit als Form einer äußeren, real-gesellschaftlichen Solidarität und bewusst ausgehandelten gemeinsamen Veränderung werden in dem von Han zugespitzten neoliberalen Krisen-und-Bewährungs-Szenario in eine heteronome und autistisch-selbstreflexive Isolations- und Zwangsstruktur internalisierter Globalität von rund um die Uhr vor sich hinwerkelnden Individuen verwandelt. Trennung von Arbeit, Freizeit und Ruhezeit ist ihnen unbekannt. Freiheit wird nicht mehr als gesicherte Außen-Perspektive und Ordnungsrahmen, als gemeinschaftlich geteilte und genutzte Produktivkraft, als intelligenter raumzeitlicher Spielraum verstanden. Freiheit wird degradiert zur Leerstelle und zum Parkplatz eines entfremdeten, diffusen intrapsychischen Produktionsverhältnisses, als asoziale Pufferzone und turbinenhafter Beschleunigungs-Antrieb, als ein Arrangement und Arsenal durchkalkulierter, subjektiv gefühlter Befindlichkeiten, in einem Modus der Selbstunterwerfung und Selbstausbeutung des Ich, das - von äußeren Determinanten anscheinend befreit - sich immer neuen inneren Moden, Trends und Zwängen hingibt und jene Schwächephänomene erleidet, die mit Burnout und Depression bereits Vertreter erstaunlich junger Generationen heimsuchen.

In einem solchen gesellschaftslos-postindustriellen Katastrophen-Ambiente verschwinden nach Byung-Chul Han alte Unterscheidungen, so die marxistische Differenz zwischen Kapital und Arbeit, Proletariat und Bourgeoisie: in dem Sinne, dass der Arbeiter komplett zum Unternehmer mutiert und dabei vor allem die Ausbeutung und Schinderei der Untergebenen und Mitarbeiter gleich selbst übernimmt. Diese sprunghafte Metapher der intrapsychischen Übernahme der Selbst-Ausbeutung bei gleichzeitiger Beförderung zum bedenkenlosen oder verzweifelten Kleinunternehmer  könnte man historisch rückverfolgen, vom heutigen Outsourcing über den guten alten Sozialstaat bis zum Manchester-Kapitalismus. Han setzt die Solitude des in sich verstrickten Einzelkämpfers als Figur ziemlich absolut und verdoppelt damit den Neoliberalismus in seinem agonalen Endstadium psychotechnisch, zumal wenn er der Solidaritäts- und Politikfähigkeit der Multitude heterogener Individuen in Hardt und Negris postmarxistischer Empire-Theorie widerspricht.

Körper, Geist und Psyche

Mit der komplett internalisierten Verhaltensnorm des Einzelnen als definitiv Singulärem brauche das neoliberale System zunächst keine Abweichung und keinen Widerstand mehr zu befürchten. Jeder verkörpere als neoliberale Monade das System unmittelbar selbst, mit Leib und Seele. Dabei wären hier, auch gegen Han, historische Zwischenstadien und logische Zwischenschritte anzusetzen; mindestens aber Wahrnehmungsdefizite, kognitive Dissonanzen, singuläre Mikropolitiken oder statistische Schwarmpolitik als systemische Turbulenzen und Divergenzen ausfindig zu machen. Für ein explizites Nein bleibt dem orthodoxen Einzelkämpfer in Hans dystopischer Falle zunächst keine Rest-Energie und vor allem keine Orientierung. Wir werden, so Han, in unserer heutigen digitalen Mediengesellschaft durch Überforderung und Unübersichtlichkeit vom infiltrierenden Kapital noch unmittelbarer regiert und damit lebensfernen fremden Zwecken derart unterworfen, dass wir sie, wie nie zuvor, blind zu unseren eigenen Zielen machen.

Die fundamentale Gegenfrage: Wo bleibt die Kraft zum Widerstand und zur aufgeklärten, vernünftigen Selbstregierung der Individuen, wenn denn alles um sie herum im Fluss ist? Ausbeutung und Entfremdung diagnostizierte Marx ja bereits für alle Klassen und die Erfahrung von Selbstquälerei und allgemeiner Diskrepanz an der Basis wie auch an der Herrschafts-Spitze ist bei ihm mitgedacht.

Byung-Chul Han denkt Ausbeutung nun angeblich noch ‚tiefer’ als ‚bloß’ in Form von Anweisungen und Routinen im proletarisch abgestumpften Arbeiter-Körper, sondern eingepflanzt in das Unbewusste und Halbbewusste der verwilderten Angestellten-Psyche, die zum imaginären und geflissentlichen Unternehmer aller am Markt und an der Produktion Beteiligten mutiert. Als ob Arbeiter keine Psyche, keinen Geist besäßen und keine Fragen stellen könnten (Brecht). Als ob Angestellte und Arbeitende heutzutage keinen eigenen Willen und keine Kritikfähigkeit mehr hätten. Dahinter steckt geisteswissenschaftlicher Romantizismus. Der Entfremdungs- und Ausbeutungsbegriff ist bei Marx sachlich und ganzheitlich und gleichermaßen auf die arbeitende und die unternehmerische Klasse anwendbar.

Man kann Hans folgende Argumente als Panorama der heutigen Zeit akzeptieren, aber den stringenten argumentativen Zusammenhang durchaus anzweifeln: Das in die psychische Subjektivität ausgelagerte Dynamik des Kapitals entspräche perfekt die Transparenz- und Kontroll-Ideologie der digitalen Internetgesellschaft. Die Demokratie transformiere sich von einer aktiven Partizipations- in eine passive Polit-Konsum-Gesellschaft. Der Bürger nehme als »skandalisierender Zuschauer« zunächst politische Entscheidungen und sogenannte ökonomische Sachzwänge einfach hin und beschwere sich erst im nachhinein, wie bei einer Waren-Reklamation. Das Smartphone und die sozialen Netzwerke würden mit ihrer mechanischen Funktionalität zur »Devotionalie des Digitalen«, zu einer Apparatur, an der Schnittstelle zwischen ökonomischer Selbstausbeutung und ebenso freiwilliger informatischer Selbstbloßstellung und Rückkoppelung. Die schrankenlose Fabrikation und Konsumption kenne keine Wände.

Sprunghafte Typologie mit folgenschwerer Lücke

In seinem Hauptargument, der Psychopolitik, schließt Byung-Chul Han zunächst an Foucaults Analyse der historischen Macht (vom 17. bis zum 19. Jh.) als negatives, inhibitorisches Disziplinar-Medium an (verbunden mit dem absolutistischen und autoritären Staat, dem die Freiheiten und Rechte der Bürger zunächst relativ gleichgültig sind, bis dann die Liberalisierungsschübe für privilegierte Bürger, für Unternehmer und schließlich die Demokratisierung für breite Schichten einsetzen). Aber Han argumentiert nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft typologisch und setzt gegen die frühe autoritäre Staatsmacht und den nur gehorsamen Bürger die sich Anfang des 21. Jahrhunderts herausbildende finale neoliberale Form der »smarten, freundlichen« Macht, die sich an den Willen und die Psyche der vereinzelten, scheinbar sich selbst überlassenen Individuen anschmiegt, diese infiltriert und als Einzelne immer stärker und wie von selbst zur marktförmigen Eigenaktivität führt.

Dabei vereinfacht Han Foucaults systematische und historische Analysen unzulässig. Was Hans Foucaults »Dilemma« nennt, ist sein eigenes. Han übernimmt kursorisch bestimmte Aspekte der bei Foucault allgemeiner konzipierten Bio-Macht, lässt aber den langwierigen Prozess zwischen absolutistisch staatlicher Monopolisierung und der zunehmenden Aufklärung, Liberalisierung und bewussten politischen und ökonomischen Selbstregierung der Bürger nach Foucault aus. Auf diese Weise erweckt er den Eindruck, Foucaults Machttheorie beschränke sich nur auf die alte staatliche Tötungs-, Bestrafungs- und Verbotsmacht und die ihr korrespondierende material-körperliche Wirtschaftsstruktur zwischen Merkantilismus und Frühkapitalismus, lasse sich aber nicht auf die aufklärerische Selbstermächtigung der Bürger und Unternehmer und auf die Folgen der industriellen Revolution beziehen. Auf diese Weise spielt Han in einem geschichtsübergreifenden Gegensatzpaar die frühe biopolitische Disziplinar-Macht und die späte psychopolitischen Permissions-Macht  gegeneinander aus und versucht diesen bei Foucault durchaus angelegten letzteren Aspekt für sich selbst in einem pessimistischen Interpretationsrahmen zu beanspruchen. »Die heutige Krise der Freiheit besteht darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie ausbeutet. Die freie Wahl wird vernichtet zugunsten freier Auswahl zwischen Angeboten.« Der Neoliberalismus sei der »Kapitalismus des Gefällt-mir«, die reflexive Routine, bei Facebook die Erlebnisse, Waren, Dinge und Dienstleistungen der Friends als nivellierte Massenprodukte und jederzeit bzw. sofort lieferbare Objekte zu betrachten und nur positiv, im Zeichen des hochgestrecktem Daumens, anzuklicken. Durch den Klick gliedere man sich ein in die Echtzeit-Konsumenten-Cloud zwischen Leader und Follower.

Byung-Chul Hans Bestreben, die Effektivität und Repressivität der marktförmig verdinglichten Freiheit und ihren selbstausbeuterischen Zwangscharakter genauer auf den Punkt zu bringen, enthält erhebliche Unklarheiten. Die meisten seiner Einwände basieren auf zeitgeistigen Beobachtungen und Zitaten. Aber Han bewegt sich zu oft und zu lange auf der Ebene des Scheins, statt auf der Ebene der Erklärung. Die Differenz von Freiheit als kritischer Idee und ihrem Abstieg zum ideologischen und ökonomischen Missbrauchsobjekt in einer digital changierenden, scheinbar postmaterialistischen und doch ganz auf akkumulativ-materiellen Konsum fixierten Gesellschaft vermisst man. Auch der konstruktive Beitrag des Einzelnen zur eigenen leichtsinnigen Selbstversklavung, konstruktiv und aktiv im Unterschied zu Kants Feigheits- und Faulheitsargument, bedürfte einer genaueren phänomenologischen Betrachtung. Den historischen Augenblick der Proklamation von emphatischer Freiheit (Menschen- und Bürgerrechen) gegen den spätabsolutistischen Staat und bei wachsender ökonomischer Unabhängigkeit der (amerikanischen und französischen) Bürger umgeht Han bezeichnenderweise. Dabei hätte er hier eine positive Wechselwirkung von Freiheitsbewusstsein und ökonomischer Selbstständigkeit feststellen können. Hans Analogie von Freiheitsaufgabe und den Strukturen der heutigen Internet-Kommunikation hat zwar einiges für sich. Die smarte Macht erscheint bei Han nivellierend multifunktional, konvertibel, vernetzt, global und mobil, genau wie das Smart Phone. Sie operiert nicht mehr, wie noch in Foucaults klassischen, vor allem aufklärungskritischen Beispielen, nach dem älterem biopolitischen Muster geschlossener, staatlich-territorialer Sektoren und Anlagen, wie »Familie« (Essen, Familientisch und Pünktlichkeit), »Schule, Gefängnis, Kaserne, Spital und Fabrik«, in denen das Subjekt als Körper vom Staat und seinen Agenten einkaserniert und gedrillt wird, so dass Psyche, Geist, Verstand und Vernunft wie Ballons daneben oder darüber schweben. Die neue fast politiklose Regierungsform, so wie Han sie suggeriert, ist ein psycho-politisches Implantat, das angesichts globaler Transitorien überall und jederzeit wirksam sein kann und das Außen und das Innen irgendwie paradox zu verschweißen scheint. Die Bewegungen und Aktivitäten im Schwarm und in der Menge wie im Verhalten der Einzelnen werden durch massives Datensammeln (Big Data, »Dataismus«) eingegrenzt und nach bestimmten Kriterien in Prognosen verwandelt.

Zu den Anthropotechniken Sloterdijks (2009) ist Hans skizzenhaftes Buch an manchen Stellen eine skeptische Gegenstimme: »Selbstmanagementworkshops, Motivationswochenenden, Persönlichkeitsseminare oder Mentaltrainings versprechen eine grenzenlose Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung«. Nicht nur ein begrenztes Kontingent von Arbeit und Arbeitszeit, sondern die gesamte Person, »ja das Leben selbst« würden ausgebeutet. Mit den US-amerikanischen Ratgeber- und Seminar-Markt und den »Zauberformeln« des »Healing« und des reibungs- und widerstandslosen »Flow« werde die menschliche Person dem »Diktat der Positivität« unterworfen. Dieses Vorhaben sei allerdings zum Scheitern verurteilt, da die »Negativität«, die Tiefen-Spannung, das Dunkle, das Unbewusste und schlicht Unproduktive der menschlichen Psyche, ihre Reibung und ihr Widerstand im Sinne der alteuropäischen und fernöstlichen Philosophie keineswegs verdrängt, banalisiert oder ausgetrieben werden könnte. Hier liegt Han zwischen Zen und Freud ganz auf der Linie seiner längst populären Publikationen »Müdigkeitsgesellschaft« (2010) und »Transparenzgesellschaft« (2012).  Andererseits befürchtet er ein massives Data-Mining, ein Ausbuddeln und Sezieren von individuellen und kollektiven Verhaltensweisen. Dies würde aber langfristig auch auf eine mögliche Vernichtung von Widerstandspotential und althergebrachter Freiheitserfahrung hinauslaufen, wenn diese dystopische Argumentation Recht bekäme.

Zwischen Schock und Verführung

Han versucht seine zentrale psychopolitische Argumentation in Auseinandersetzung mit zwei prägnanten Beispielen aus Naomi Kleins »Die Schock-Strategie« (2007) zu erläutern. Dabei kritisiert er ihr Buch vorab als »verschwörungstheoretisch«; ein Einwand, der Hans eigene Position in mancher Hinsicht ebenfalls treffen könnte.

Naomi Klein führe zum einen die brutalen und inhumanen Elektroschock-Experimente Donald Ewen Camerons bis in die 1960er Jahre an, finanziert durch die CIA; sie zerstörten Gehirn und Psyche der Probanden und Patienten und führten sie zurück in die traurige Regression einer infantilen Tabula Rasa. Cameron spreche von erfolgreichen Entprägungs- und Löschvorgängen, wo er in Wahrheit zerstörte und abtötete. Han sieht hier ein Beispiel an der Schwelle zwischen veralteter disziplinarischer Biopolitik und dem misslingenden Versuch psychopolitisches Terrain auf smarte Weise zu erobern.

Sodann beziehe sich Naomi Klein auf Milton Friedmans Vorschlag, Finanz-, Kriegs- und Naturkatastrophen als Einfallsschneisen neoliberaler Deregulierungen zu nutzen. Für Han liegt hier bereits eine positive Weiterentwicklung des Entprägungs-Konzeptes vor, um neoliberale Privatisierungen und rabiate Ökonomisierungen eleganter und mentaler durchzusetzen. Gegen diese Sichtweise von Han lässt sich einwenden, dass es auch in diesem scheinbar ‚zivilisierten’ Falle um gelenkte Regression und destruktiven Abbau von Ressourcen zu Gunsten von Ausbeutern geht (sowohl Einsparungen für den Staat wie Gewinne für Unternehmen und Konzerne).

Han zufolge konzentriere sich Naomi Klein zu sehr auf die Kategorie der biopolitischen Schockstrategien (wie bei Cameron) und bekommt die Option der neueren positiv getönten Psychostrategien (so eher bei Friedman) nicht in den Blick. Nur die freiwillig übernommene und doch manipulierte Selbststeuerung stelle eine hinreichende Erklärung für typische und massenhafte Verhaltensweisen im Zeitalter des vollendeten Neoliberalismus mit globaler Massennivellierung dar.

Gegen Hans Kritik an Naomi Klein ist anzunehmen, dass sich derzeit angesichts der weltweiten Finanz-, Wirtschafts-, Politik-, Staats- und Ökologie-Krisen mindestens beide Szenarien, die Steuerung durch massiven Zwang und Schock und durch die freiwillige, erschöpfende Selbstausbeutung im Rahmen von zunächst erfolgversprechenden Perspektiven vermischen. Dabei wäre auch zu unterscheiden, ob der Schock (einer  individuellen oder allgemeinen Krise) am Anfang oder Ende eines Handlungszyklus’ steht, also die Psychopolitik auf eine Krise reagiert, ihr ausweicht, sie verschleiert, sie bestenfalls sogar mitverhindert oder ihr schlimmer Weise zuarbeitet.

In der alltagsinduzierten psychotechnischen Selbstausbeutung besteht jederzeit die Gefahr der anbahnenden Fragmentierung und Zerrüttung zwischen Selbstbestätigung und (Außen-)Schock. Emotional und geistig destabilisierte Akteure werden in einem permanenten Ausnahmezustand verheizt und verbrannt, in einer zivilen Verschwendung und einem zivilen Krieg, wo kein Krieg zu sein bräuchte, wo Normalität, Stabilität und Vernunft einen humanen Handlungsrahmen für eine friedliche und erfolgreiche Koexistenz oder gar Solidarität schaffen könnten. Orwells »1984«, von Krieg und Cold War beeinflusst, inszeniere die Isolation des Einzelnen zwischen lügenhaft-aggressiver Außen-Rolle und dem Restspielraum letzter individueller Freiheit und friedliebender Würde beindruckend. Heute, so Han, werde im aktuellen Regime der neoliberalen Psychopolitik ungleich freundlicher und unauffälliger die Realität verdreht und verzerrt als in Orwells euphemistischem »Neusprech«. Die unterdrückten Orwell-Bürger hatten im »Zwiedenk« bzw. »Doublethink« noch ein unglückliches Bewusstsein (Hegel). Apple, PC und Smart Phone ließen im Werbeclip die Front von Big Brother und IBM zerplatzen und arbeiten ihr doch im Netz der Suchmaschinen und Big-Data-Konzerne unentwegt zu. Die technische Kommunikation erzeuge eine Verflachung, Zerlegung und Erosion der sozialen Verhältnisse, welche die objektiven Wahrnehmungen, gültigen Erzählungen und stabilen Gefühle von Gestern durch das simulative Theater kurzfristig angeleierter Emotionen und Affekte im Kontext fortwährend disruptiver Zeitdiktatur ersetze. Die alte Disziplinargesellschaft stabilisierte Strukturen, grenzte politisch missliebige Wahrnehmungen zugunsten einer harten Disziplin und Ordnung aus, provozierte aber damit auch die ästhetisch-künstlerische Gegenmacht der noch unterdrückten Bürger und unteren Klassen für alternative Ausdrucksformen und bestenfalls demokratische Entwicklungen. Heute würden Emotionen überall als Dekoration eingesetzt und dabei wie von außen als Gegenstände behandelt, als soziales Design und kommunikativer Füllstoff, um überhaupt so etwas wie Verbundenheit zwischen Konsument, Management, Dienstleistungen und Produkten künstlich herzustellen. Ehemals qualifizierte Arbeit werde als postindustrielle Schwundgröße oder als gängige Dienstleistungsware (von Konzernen und Märkten) in Quantität und Qualität auf- oder abgewertet. Sie werde scheinbar spielerisch und doch knallhart umgesetzt im Modus von Games (künstlich designten, außengeleiteten Konkurrenzspielen, die gerade die interne soziale Theatralik und sprachbasierte Identitätsstiftung des Meadschen Play umgehen), mit schnell erlernbaren Spielzügen und ebenso unmittelbar erscheinenden Zielmargen und Gratifikationen. Die industriellen Spielzüge würden mit den spätkapitalistischen Zwecken verbunden, so dass der alte Homo ludens und die ursprünglich gemeinte Dimension von Freiheit und Luxus im Spiel (Luxus als gesellschaftlich geteilte Muße) völlig außer Sichtweite gerate.

Wieso eigentlich: Verführung?

Byung-Chul Han schafft eine faszinierende Revue von Argumenten zu der in vieler Hinsicht entgegenkommenden These, die Psychopolitik sei die neuste Waffe des Neoliberalismus, den Menschen zur eigenen Ausbeutung anzuleiten. An der Oberfläche sind seine Ausführungen zunächst packend und ein Stück weit verständlich. Die smarte Verführung unserer immer stärker technikgesteuerten Psyche ist in der heutigen Mediengesellschaft unmittelbar nachvollziehbar. Und doch hat man das Gefühl, dass Han in der heute gefühlten Medienideologie einer saturierten Überflussgesellschaft argumentativ hängen bleibt. Han versucht seine erfolgreich verbreitete Idee der trügerischen Transparenzgesellschaft und der auf Exhibition und Positivität getrimmten Kommunikation als paradoxe Selbstausbeutungs-Gesellschaft en bloc weiterzudenken. Dabei ist dem Autor, nicht ganz zu Unrecht, eine gewisse Ungeduld und grundbegriffliche Mechanik, die Einebnung von Unterscheidungen in einem Potpourri der simplifizierenden Weiterverwendung aus seinen vorherigen Erfolgspublikationen vorgeworfen worden. Collage und Behauptung überwiegen die Stringenz der Begründung. Han arbeitet mit dem Kontrastmodell: Klassische rigide Staats-Politik von Verbot und Ausgrenzung gegen alles durchdringende freundliche Psychosteuerung des global freigesetzten Neoliberalismus. Er lässt den entscheidenden Zwischenschritt aus: Die frühe Liberalisierung des Marktes und das weite Spektrum bloß egoistischer oder auch weiträumig sozial denkender Unternehmer, die zunehmende Rolle von Gesellschaftskritik, von Sozialismus und Kommunismus bis hin zur Entwicklung des europäischen Wohlfahrtsstaates und die Rolle der Bildung. Auch die Auflistung von Weigerungsformen gegen die psychotechnische Ausbeutung kann nicht recht überzeugen: Die Rede ist vom abstrakt-mystischen »Idiotismus«, der Figur des wissenden Idioten, von psychopolitischer Überempfindlichkeit, von Rückzug, Schweigen, Stille und dem sich neu formierenden Widerstand. Dies alles hört sich eher wie die Restfigur der von Han zuvor ausgemalten neoliberalen Beschädigung geistig entleerter und vernunftzerrütteter Subjekte an. Failed state, failed market, failed society, failed individuals. Willkommen im Asyl der lädierten Freiheit. In Hans Darstellung fehlt eine ausführliche Darstellung der sozialen, mentalen und spirituellen Aktivitäten und der Diskurspraktiken, die den Individuen aus der Lethargie und Passivität vorprogrammierter Betriebsamkeit herausreißen und ihnen die gemeinschaftlich geteilte Einsicht und das Gefühl, intelligente, aufgeschlossene und deshalb freie Bürger zu sein, wiedergeben könnten. Man denke nur einmal an die öffentliche und private Selbstdisziplin, Geduld, Arbeit und Kraft, die ein Künstler und Dissident wie Ai Weiwei entwickeln muss, um mitten in China, zwischen spättotalitärer Repression und kapitalistischer Liberalisierung, zwischen Kunst, Leben und Protest wirksam und kritisch zu handeln. Byung-Chul Hans sozial- und medien-philosophische Befürchtungen einer neoliberalen Psycho-Apokalypse und die Hoffnungen auf eine neue Dämmerung  von Vernunft und Freiheit sind noch keine komplette Aufklärung, aber gleichwohl anregend in ihrer abstrakt-provokativen Tragweite.

Artikel online seit 26.12.14
 

Byung-Chul Han
Psychopolitik
Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
S. Fischer
€ (D) 19,99
| € (A) 20,60 | SFR 28,90
978-3-10-002203-5

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