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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Bücher & Themen
Artikel online seit 22.03.13

Dimensionen des Täuschens

Martin Dolls ebenso aufschlußreiche wie
unterhaltsame Untersuchung
»Fälschung und Fake«


Von Lothar Struck





 

Schon das Cover von Martin Dolls Buch "Fälschung und Fake" führt in die Materie ein: Was zunächst wie ein Suhrkamp-Titelbild von Willy Fleckhaus aussieht, entpuppt sich beim genauen Hinsehen als das, was der Autor als Fake bezeichnet. Beim genauen Schauen und Lesen wird jeder Zweifel zerstreut: Das Buch ist nicht in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft erschienen, sondern im Kunstverlag Kadmos. Ein gelungenes Eröffnungsspiel.

Was folgt, ist allerdings hochseriös. Zunächst wird der Unterschied zwischen Fälschung und Fake definiert. Bei einem Fake ist, im Gegensatz zur Fälschung, die Aufdeckung von vornherein mitentworfen. Die Fälschung verbirgt die Aufdeckung, das Fake ermöglicht sie, legt Spuren, die die Täuschungsabsicht irgendwann sozusagen aus sich heraus identifizierbar macht. Daher ist beispielsweise das Cover ein Fake - die Aufdeckung ist hier möglich und das sogar in wenigen Sekunden. Nebenbei wird man mit dem Kuriosum konfrontiert, dass der Anglizismus "Fake" im deutschen eine andere Bedeutung bekommt als im englischen; dort wird der Begriff "Hoax" für diese Form der am Ende absichtsvoll erkennbaren Fälschungen verwendet).

Dolls Intention ist es, dass Fälschungen und Fakes als Diskursphänomene betrachtet werden, d. h. in erster Linie in den Kontext ihrer Diskursivierung gerückt werden, sei es im Allgemeinen die Rede über sie oder im Besonderen ihre Positionierung in einem jeweiligen Wissensgebiet. Dabei werden sowohl die historisch spezifischen Bedingungen, die die Existenz von Fälschungen ermöglichten und ihre Gültigkeit bestimmten, als auch die Wirkmächtigkeit, die von ihnen ausgehen kann herausgestellt und das kritische Potential von Fälschungen analysiert. Am Ende sollen Fälschung und Fakes zum einen als tatsächlich "diskursive Ereignisse", als Diskursphänomene  (im Wortsinne des Zur-Erscheinung-Bringens oder -Gebracht-Seins) betrachtet werden; zum anderen soll das konkrete Diskurs-Echo berücksichtigt werden, d. h. sowohl die durch die Falsifikate im Einzelnen hervorgerufenen Aussagen im Diskurs als auch die mit deren jeweiliger Aufdeckung verbundenen Modifikationen und Transformationen der diskursiven Praxis selbst. Dabei wird die Eigentümlichkeit [der] Doppelstruktur der Fälschung herausgestellt und die Effekte der Entlarvung behandelt, allerdings nicht aus einer moralischen Perspektive, sondern konzentrierend auf ein defizitäres Urteilsvermögen.

Ausgesuchte Beispiele

Dolls Buch erhebt keinen enzyklopädischen Anspruch, sondern verwendet ausgesuchte Beispiele. Aus der Paläontologie werden die "Lügensteine von Würzburg" (18. Jahrhundert) und der "Piltdown-Man" (1912-1953) analysiert (Doll gibt immer Entstehungs- und Aufdeckungsdatum an; eine Art Lebenszeit der Fälschung/des Fakes). Es folgen Bemerkungen zu literarischen Fakes schwerpunktmäßig anhand der Ossian-Gesänge (1759-1805) und dem erfundenen australischen Schriftsteller Ern Malley (1943). Schließlich beschäftigt sich Doll mit Journalismus-Fälschungen, entwickelt en passant eine Geschichte des Fakten-Fiktion-Verständnisses des Journalismus im 19. Jahrhundert (beispielweise die Fakes von Poe und Mark Twain, die heute gänzlich als Literatur betrachtet werden) und widmet sich dann dem zeitgenössischen Journalismus sowohl im Print-Bereich (schwerpunktmäßig Tom Kummers gefälschten Interviews 1996-2000) als auch im Fernsehen (die Filme von Michael Born). Den Abschluss bilden die Fakes der "Yes Men"-Aktivisten als Mischprodukte zwischen journalistischem Fake und Aktionskunst (wie dies auch teilweise schon bei den "Pranks" von Joey Skaggs der Fall war, die vorher behandelt werden).  Alle Fälle werden insbesondere auf ihr diskurskritisches bzw. diskurstransformatorisches Potential bei der Aufdeckung untersucht (und wurden auch dementsprechend ausgewählt).

Kippmomente und Diskurs

Dabei wird zunächst der Begriff der "Wahrheit" im Sinne Foucaults, der Dolls theoretischer Übervater ist (und dessen französische Formulierungen er häufig in eigenständiger Übersetzung bringt), referiert. Wahrheit bleibt….Existenzbedingung für jeglichen Diskurses, aber sie ist, schreibt Paul Veyne, "selbst gleichfalls ein Diskurs und hat daher auch eine Geschichte, denn zu jeder Zeit reduziert sie sich auf das, was in der Gesellschaft als wahr gilt". Wahrheit, das Wahre existiert also durchaus, wird allerdings zu einer zeitgebundenen Übereinkunft deklariert: Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskurstypen, die sie annimmt und als wahr fungieren läßt. Die Definition könnte Fragen aufwerfen, beispielsweise auf die Kontextualisierung historischer Ereignisse. Da aber Doll Fälschungen mit weitgehenden historischen Implikationen und Verwerfungen wie beispielsweise die Konstantinische Schenkung nicht einmal erwähnt, ist dieser Punkt für ihn nicht relevant. Tatsächlich liegt der gewählte, vorläufige Wahrheitsbegriff näher an der Falsifikationsthese Poppers in Bezug auf die Naturwissenschaften als Doll dies in seinem Text ableitet.

Schlüssig gelingt die Beschreibung des sogenannten Kippmomentes zwischen Wahrheit und Fälschung: Bei Fälschungen werden Artefakte zu Fakten, etwas Gemachtes wird zu etwas Aufgefundenem erklärt. Bei der Aufdeckung von Fälschungen kippen diese Verkehrungen jedoch wieder zurück: Etwas als original, authentisch, autorisiert oder faktisch Anerkanntes wird auf seine irreführende Produziertheit zurückgeführt. Die gewählten Beispiele zeigen, wie die Aufdeckung der gefälschten Artefakte (sei es nun ein Stein, ein Totenschädel, Gedichte eines nicht existenten Schriftstellers oder nicht geführte Interviews) einen intensiven Diskurs erzeugt, der nicht selten in der Befragung der jeweiligen wissenschaftlichen Autoritäten (diejenigen, die die Fälschung als Original bezeugten) oder gar der gesamten Zunft selber zur Folge hat. Dolls Auslegung der Diskussion um die Würzburger Lügensteine geht sogar dahingehend, dass erst dieser Vorgang die Paläontologie als Wissenschaft konstituiert habe. Im 18. Jahrhundert gab es über ausgegrabene Steine einfach noch nicht entsprechend scharfe Grenzziehungen eines seriösen Sprechens. Danach änderte sich dies.

Ein sehr instruktives Kapitel ist dem sogenannten "Piltdown Man" gewidmet. 1912 "entdeckte" man einen Schädel, der in die Evolutionstheorie Darwins passte. Es schien eine bisher nur theoretisch abgeleitete Stufe zwischen Affe und Mensch gefunden worden zu sein, ein sogenanntes "missing link". Doll analysiert nicht nur den Fall und die entsprechenden Protagonisten und deren Interessen und Handlungsweisen, sondern zeigt auch die schwache Stellung der Skeptiker im damaligen wissenschaftlichen Informationsnetz auf. Die zeitspezifisch diskursive Kräfteverhältnisse, die man etwas populärer als "Mainstream" quantifizieren könnte, gründeten sich auf nahezu sakrosankte Autoritäten. Abweichende Meinungen hatten keine Chance; wer darauf beharrte musste mit sozialen und ökonomischen Sanktionen rechnen.

Doll bemerkt, dass das eigentliche Fundstück, ein unvollständiger Schädel (der sich später als Orang-Utan-Schädel herausstellte) gar nicht erschöpfend untersucht wurde, sondern lediglich die zur Schonung des "Originals" angefertigten Abdrücke. Diese wiederum wiesen die für die spätere Identifikation als Fälschung maßgeblichen Zeichen nicht auf. Auch die Folgen der Aufdeckung berichtet Doll: Die Gegner der Evolutionstheorie Darwins nutzten die Fälschung, um die Theorie als Ganzes zu verwerfen (was zum Teil heute noch in fundamentalreligiösen Kreisen anhält).

Weniger eindeutig sind die Zuordnungen auf dem Gebiet der literarischen Fälschungen. Wenn Doll anhand der sogenannten Ossian-Gesänge feststellt, dass  die Ununterscheidbarkeit zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert zum prekären Problem wurde, dann verschwimmen irgendwann Fälschung und Fake hin zu einer Art literarischem Vexierspiel. Auch die Erfindung des Autors Ern Malley 1943 in Australien, der als ein neuer Lyrikstar implementiert bzw. nach seinem "Tod" "entdeckt" wurde, zielt in diese Richtung. Doll definiert zwar: Literarische Texte können…dann als Fälschungen angesehen werden, wenn sie aufgrund entsprechender "Fakten" im literarischen Diskurs auf bestimmte Weise als authentisch oder echt wahrgenommen wurden, später aber diese Eigenschaft wieder entkleidet wurden, konstatiert jedoch sofort: Dabei lässt sich zeigen wie prekär die Grenzziehungen zwischen Fälschungen und legitimen literarischen Praktiken sind. So werden die Gedichte des "gefälschten Autors" als "originale" Gedichte unter dem Namen des Fälschers in den literarischen Kanon sozusagen überführt, und zwar unabhängig der Fälschungs-Causa. Die Gedichte erscheinen…nur als Fälschung, wenn man sie von vornherein einer Orthodoxie, einem starren System "Wahrer" oder "echter" Poiesis, unterstellt. […] Die Kommentare der "Fälscher" geben…weniger Auskunft über die von Ihnen zurückgewiesenen Modelle, sondern eher über ihre eigenen poetischen Leitideen, denen zufolge beim Dichten gewisse literarische Notwendigkeiten in Anschlag gebracht werden müssen. Die Intention der Fälscher der Gedichte, die literarische Moderne und die Literaturkritik zu diskreditieren, wurde schlichtweg verfehlt, weil der anschließende Diskurs die Literarizität eines Textes (hier: der Gedichte) über die Autorschaft stellte.

Text statt Autorschaft

Doll befragt von diesem Beispiel ausgehend die Autorschaft durchaus postmodern-existentiell und macht sich zum Anwalt eines fast libertären Intertextualitätsbegriffs, der vom Autor-Prinzip zu einer Art Lektüre-Prinzip das Wort reden möchte. "Ern Malley" wandelt sich durch die Aufdeckung von einem faktischen empirischen Autor […] zum Schreiber im Barthes'schen Sinne, einem Schreiber, der nie seinem Text vorgängig ist, sondern die "Identität des schreibenden Körpers" verliert, sich also allein textlich konstituiert und damit erst wirklich modern wird. Und weiter heißt es: Damit wird nicht der Autor, sondern die Sprache zur Instanz. Der Leser sollte sich, so Doll, auf die Literarizität der poetischen Sprache …besinnen anstatt Texte auf außersprachliche Para-Phänomene hin zu interpretieren. Abgesehen davon, dass das aktuelle Feuilleton fast ausschließlich auf "außersprachliche Para-Phänomene" in seiner Literaturkritik rekurriert (was nicht Gegenstand von Dolls Untersuchung war), muss man feststellen, dass es, wenn man dieser Definition folgt, streng genommen gar keine literarischen Fälschungen geben kann.

Wenn es Doll allerdings Ernst gewesen wäre, die hartnäckige Verteidigung des Fortbestehens des "toten Autors" zerstreuen zu wollen, hätte er den Fall Wilkomirski nicht in drei Fußnoten sozusagen untergehen lassen dürfen. Tatsächlich liegt ja der Erfolg des Buches "Bruchstücke" in der angenommenen Wahrhaftigkeit der Autorenbezeugung bzw. der "Authentizität" der empirischen Autoridentität, was sich dann als falsch erwies: In Wilkomirskis Buch ("Aus einer Kindheit 1939-1948" lautet der Nebentitel von "Bruchstücke") wurde der Ich-Erzähler nicht nur in der Rezeption von Kritik und Publikum mit dem Autor gleichgesetzt, sondern von ihm selber ebenfalls (bzw.: wurde dieser Gleichsetzung nicht explizit widersprochen). Das Buch war im Stil einer Autobiographie geschrieben. Die Leistung der Abstraktion (Ich ≠ Autor) musste vom Leser ausgehen, aber es gab hierfür kaum Anhaltspunkte. Dolls Argument gleich zu Beginn, den Fall nicht sein Buch aufgenommen zu haben weil die Aufdeckung im Vergleich zu den behandelten Fällen kaum nachhaltige Diskurseffekte zeitigte und das Buch sehr schnell aus dem Literaturbetrieb ausgeschlossen wurde, wirkt nicht ganz überzeugend. Denn die Tatsache, dass das Buch nicht nur "sehr schnell" ausgeschlossen, sondern tatsächlich vom Markt genommen wurde, mag dem Kontext (eine jüdische Jugend im Nationalsozialismus) geschuldet sein. Ein Diskurs sollte vielleicht nicht stattfinden, weil er ähnliche Verfahren in anderen Lebens- und Zeitzonen ebenfalls infrage gestellt hätte. Zum einen zeigt der Fall, dass die Fiktionalisierung des Autor-Ich durchaus Grenzen im Diskurs zu haben scheint: Eine Inszenierung als Opfer in der nationalsozialistischen Diktatur schreibt man sich nicht einfach im Stil eines autobiographischen Lebensberichts zu, so die gängige Lesart der Kritik. Dabei wäre es interessant gewesen, die bis zur "Aufdeckung" zum Teil euphorischen Kritiken des Buches zu untersuchen und die Frage zu stellen, ob die Literarizität des Buches ausschließlich durch die vermeintliche Erlebnisgenauigkeit begründet war. Dabei wäre es erhellend gewesen, dass genau dieser Diskurs ausgeblieben war, d.h. hier hätte Doll den ausgebliebenen Diskurs reflektieren müssen. Zum anderen gilt das Argument des Ausschlusses des inkriminierten Werks im Fall von Tom Kummer offensichtlich nicht, denn hier zitiert Doll aus dem ebenfalls frühzeitig vom Markt entfernten Buch, welches die gefälschten Interviews enthielt.

Eher im Boulevard-Journalismus

Sehr umfangreich ist das Kapitel über Fälschungen im Journalismus, wobei zwischen Print und Fernsehen unterschieden wird. Die Definition Dolls lautet: Von Fälschungen wird gesprochen, wenn etwas vorgeblich zu einem Dokument für etwas gemacht wird, wenn also etwas – den journalistischen Regeln ungemäß – als Beweis für etwas Non-Existentes fungiert. Dabei wird festgestellt: Ein Dokument beweist nichts, sondern mit einem Dokument wird etwas bewiesen. Doll wendet diesen Imperativ auch auf das Bild an, in dem er klarstellt, dass nicht das Bild lüge, sondern höchstens mit ihm gelogen werde (durch falsche Kontextualisierung beispielsweise). Leider verbleibt Doll ausschließlich im Boulevard-Journalismus und verwendet kein Beispiel aus dem Nachrichtenjournalismus beispielsweise der in den 1990er Jahren zunehmenden Konflikte (Irak, Jugoslawien, Ruanda). Dabei denke ich besonders an das sogenannte Stacheldrahtbild aus Trnopolje, welches 1992 weltweit für erhebliches Aufsehen sorgte. Zu sehen waren Häftlinge eines Lagers im bosno-serbischen Trnopolje hinter Stacheldraht. Besonders stach der ausgemergelte Häftling Fikret Alić heraus, dessen Oberkörper frei war. Dies war, so die Ikonographie, der Beweis für die Existenz von Konzentrationslagern der bosnischen Serben. Das Foto wurde Titelbild des amerikanischen Nachrichtenmagazins "Time" und der britische "Daily Mirror" titelte plakativ "Belsen 92" - erinnernd an das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Wirkung dieses Bildes ist enorm suggestiv: "Beim Betrachten dieser Fotografie werden ohne unser Zutun jene im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Bedeutungen aktiviert, die wir mit den Bildikonen der Shoah verknüpfen", so der Literaturwissenschaftler Martin Sexl in einem Aufsatz über "Poesie als Medienkritik". Es war dieses Bild, welches die Bereitschaft in der Öffentlichkeit - insbesondere in den USA - zur Intervention in den Jugoslawienkriegen zu Gunsten der Bosnier gegen die Serben bzw. bosnischen Serben begründete. Die Serben wurden nun mit den Nazis gleichgesetzt. Der Journalist Thomas Deichmann entlarvte 1997 dieses Bild als Fälschung. In einem ausführlichen Artikel wies er nach, dass nicht die fotografierten Häftlinge, sondern die Fotografen selber in einem abgesperrten Gelände hinter Stacheldraht gestanden und die Häftlinge fotografiert hätten. Tatsächlich gab es zwar das Lager, aber es war nicht mit Stacheldraht eingezäunt. Die "normalen" Bilder des Lagers hätten eine Realität gezeigt, die nicht ausreichend emotional und skandalisierend gewirkt habe. Daher hätten die Autoren des Films eine Inszenierung vorgenommen und den damals kranken Alić in den Vordergrund postiert. In einem späteren Prozess wurden die Aufdecker der Fälschung sogar zu einem Schadenersatz verurteilt - allerdings nicht weil die Fälschung an sich verhandelt wurde, sondern aufgrund ihrer Behauptung, die Aufnahmen seinen absichtlich gefälscht worden; dies war jedoch nicht zu beweisen.

Doll widmet sich solchen Themenfeldern leider nicht. Womöglich war ihm die Situation zu vage: Wer hat tatsächlich Recht? Handelt es sich um ein gefälschtes Bild oder ist es nur "unglücklich" fotografiert? Wie fragil der Einwand ist, Fälschungen nicht aufzunehmen, weil es nachträglich nicht zu größeren und grundsätzlichen Diskursen gekommen ist (wie anlässlich dieses Bildes, das fast nur in der Subkultur wahrgenommen wurde und nicht im Massenjournalismus), lässt sich an diesem Beispiel schön zeigen: Die Journalisten, die hierüber hätten berichten müssen, wären zum großen Teil diejenigen gewesen, die ihre Berichterstattung direkt oder indirekt auf die manichäische Sicht der Balkankriege ausgerichtet hatten. Eine Befragung der Berichterstattung fand nicht statt. Und das obwohl Doll konstatiert: Journalistische Fakes entwickeln dann Sprengkraft, wenn ihre experimentellen Ergebnisse über die Binsenweisheit der Aufdeckung einer medial produzierten Realität hinausreichen und die konkreten publizistischen Verfahren infrage gestellt werden. Eine Infragestellung hätte also einen Autoritätsverlust des/der Journalisten bedeutet.

Zeuge und oberster Richter

Dabei entwickelt Doll für den Journalismus durchaus so etwas wie einen Imperativ, den er "Wahrhaftigkeit" nennt: Die Wahrhaftigkeit einer Nachricht […] besteht […] nicht darin, ob etwas objektiv richtig oder "wahr" ist, sondern darin, ob der Journalist seine Eindrücke und Anschauungen im Einklang mit seinen "journalistischen Hypothesen von Realität" oder in Übereinstimmung mit seiner Einschätzung der Situation weitergibt. Die Bilder von Born beispielsweise wurden erst ab dem Zeitpunkt zu Fälschungen, als mit ihnen eine allgemeine Nachricht behauptet wurde. Dies könnte man auch vom Stacheldrahtbild sagen. Umgekehrt könnte man also sagen: Bringe Nachrichten (Bilder, Ton, Interviews) nach der Maxime, dass ihre Aussagen zugleich auch ein Prinzip repräsentieren und charakteristisch auf etwas Allgemeines verweisen. Bliebe das Problem mit dem "Exklusiv"-Journalismus, der ja von der Einmaligkeit seiner Quelle lebt.

Das Problem liegt darin, dass der Journalist zugleich Zeuge und oberster Richter ist - und bleibt. Der Rezipient ist, wie Doll süffisant anmerkt, zur Unmündigkeit verurteilt; am Ende muss er vertrauen (oder ignorieren). Problematisch werden dabei die kaskadierende[n] Verifizierung[en] durch Nachrichtenagenturen, die zumeist ungeprüft bei ihnen eingehende Meldungen (u. a. auch aus Pressemitteilungen von Politik, Wirtschaft und Kultur) an andere Medien verbreiten. Häufig dienen diese Agenturen als einzige Autorität, was zur schnellen und zügigen Verbreitung von Fälschungen führen kann, wie Doll an einigen Beispielen aufzeigt. Insbesondere die Beleuchtung der Aktivitäten der Yes Men-Aktivisten sind erhellend und sehr interessant.

So hatte man beispielsweise die Webseite der Welthandelsorganisation WTO (wto.org) unter gatt.org in allen Details (also auch das Logo) nachgebildet und dort absurde Thesen und Entwürfe gepostet, die sich aber durchaus im Denkgebäude der WTO hätten bewegen können. Dies führte schließlich zu Einladungen zu Konferenzen, wo in Vorträgen dann eine Figur im Namen der WTO Reden hielt, in Vokabular, Sprachduktus und -stil angelehnt an das Sprechen der Organisation. Dabei ging man jedoch bewusst an Grenzen, beispielsweise in dem man in Anlehnung an den Emissionshandel im (sogenannten) Umweltschutz einen "justice voucher" propagierte. Damit sollte multinationalen Konzernen die Möglichkeiten gegeben werden, Verstöße gegen die Menschenrechte finanziell zu kompensieren. In einem anderen Vortrag wurde behauptet, dass der amerikanische Präsident Abraham Lincoln indem er gegen die Sklaverei vorgegangen sei, illegal in den freien Handel des Südens eingegriffen habe. Schließlich wurde sogar die Auflösung der WTO bekannt gegeben. Merkwürdigerweise fanden diese Einlagen kaum Resonanzen bei den anderen Tagungs- und Konferenzteilnehmern vor Ort. Die eingeladenen Figuren, die durch die Yes Men dargestellt wurden, suggerierten Autorität, die dann nicht mehr befragt wurde. Hinzu kam, dass einer medialen Weiterverbreitung die sehr schnelle Auflösung der Aktionen durch die Aktivisten selber gegenüberstand. Damit habe man, so Doll, eine eingehende Untersuchung der Phänomene nebst Diskurs behindert. Selbst als ein Aktivist als Repräsentant von Dow-Chemicals auftrat (eine entsprechende Webseite hatte man auch gefälscht) und die vollständige Entschädigung der Opfer der Chemiekatastrophe von Bhopal in einem BBC-Interview verkündete, beeilte man sich das Dementi direkt danach ebenfalls noch zu fälschen.

"Fälschung und Fake" ist ein überaus faktenreiches Buch. Dass der Autor sich jeglicher moralischer Wertungen enthält schafft Raum um die diversen Diskursbewegungen bei der Aufdeckung von Fälschungen ausreichend zu analysieren. Leider merkt man diesem Buch an, dass es eine Dissertation ist; die Fremdwortdichte ist enorm und wirkt zuweilen etwas gespreizt. Ich gestehe zum Beispiel, die Bedeutung des Wortes Pluristilismus (ein Google-Treffer) nicht eruiert zu haben. Über das Verfahren des Indexikalischen der Fälschung  habe ich nach der Lektüre nur eine höchst diffuse Ahnung bekommen. Sehr ärgerlich sind die zahlreichen, zum Teil langen, unübersetzten englischsprachigen Passagen aus drei Jahrhunderten, die nicht nur in den Fußnoten sondern auch im Text beleghaft für eine jeweilige Aussage zitiert werden (es gibt ja reiche Bezüge zu Großbritannien und den USA). Dennoch: Die schwierige Lektüre lohnt. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

 

Martin Doll
Fälschung und Fake
Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens
Kulturverlag Kadmos
broschiert (Kaleidogramme Bd. 78)
480 Seiten
29.80 €
978-3-86599-140-9


Leseprobe von Martin Doll (pdf)

Diese Besprechung als Download (pdf)

 


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