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Im Bild verschwinden

Über
Benoît Peeters grandiose Biographie
zu Leben & Werk von Jacques Derrida

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Aus China stammt ein bekanntes Gleichnis. Es handelt von einem alten Maler. Sein letztes Bild gibt er Freunden zu sehen. Sie blicken auf eine Landschaft: Ein Weg führt am Wasser entlang, vorbei an Bäumen zu einem kleinen Haus. Die Tür steht einen Spalt weit offen. Als sich die Freunde nach dem Maler umschauen, ist er fort und zu einem Sujet des eigenen Bildes geworden. Auf dem schmalen Pfad zu der Tür des kleinen Hauses wandelnd, steht er plötzlich still, dreht sich noch einmal um, lächelt und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in ihrem Spalt.

So möchten wohl auch die Biographen entschwinden: In das Portrait, das sie zeichnen, eingehen, die Tür einen Spalt weit offen lassend, um einmal zurückkehren zu können, wenn die Zeit es erfordert.

Benoît Peeters ist mit seiner Biographie über den französischen Philosophen Jacques Derrida ein Kunstwerk gelungen, das dem des chinesischen Malers ähnelt. Sein Buch ist ein farbenprächtiges, nicht selten erstaunliches und rundum faszinierendes Werk. Auf jeder Seite ist die oft beschworene »Faszination des Biographischen« (Christian Meier), hervorgerufen durch die Teilhabe am Leben von Persönlichkeiten früherer Zeiten, spürbar.

Peeters nähert sich Derrida in drei Schritten. Im ersten berichtet er über den jungen und wilden Denker, der die französische Philosophie und ihre institutionelle Verankerung, die harte Schule der Ausbildung, zwischen Folterkammer und Thronsaal erlebt. Ein Panorama des Geisteslebens breitet er im zweiten Teil aus und dekliniert das Netz der akademischen Beziehungen durch, das sich in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebildet hat. Derridas Schriften bettet er ein in die familiären und universitären Kontexte, aus denen sie sich entwickelt haben. Die Diskussion über die Dekonstruktion und ein sehr lesenswertes Portrait über den 60-jährigen Philosophen, der sich zeitlebens an keine Konvention halten mochte, sind die Schwerpunkte im dritten und letzten Teil. Die zahlreichen und nahezu unbekannten Anekdoten aus dem privaten Umfeld, die Peeters mit eine sehr dicht komponierten Darstellung der Schriften Derridas ineinander webt, machen das Buch zu einem absoluten Lesevergnügen.

Doch am Ende wird nur Peeters, der lächelnd in das Haus Derridas entschwand, die Tür einen Spalt weit offen lassend, das Eingangszitat des Philosophen zu deuten verstehen: »Niemand wird je wissen, von welchem Geheimnis aus ich schreibe.«

Möglich, dass der Biograph eines Tages aus seinem Bild zurückkehrt, um uns auch über dieses letzte Geheimnis Derridas zu berichten.

Artikel online seit 06.06.13
 

Benoît Peeters
Jacques Derrida
Eine Biographie
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Suhrkamp
935 Seiten
39,95
ISBN: 978-3-518-42340-0


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