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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»Denkmal + andere Klugscheissereien«

Der Briefwechsel zwischen Willy Brandt und Günter Grass

Von Lothar Struck






 

Im Januar 1965 schickt das »Büro Willy Brandt« dem Schriftsteller Günter Grass eine detaillierte Ausarbeitung Willy Brandts zu zwei von einem gewissen Hans Frederik 1961 publizierten Büchern »Die Kandidaten« und »…da war auch ein Mädchen« (letzteres unter dem Pseudonym Claire Mortensen verfasst) sowie die Klageschrift seines Anwalts gegen Frederik aus dem Jahr 1961. Im von Martin Kölbel herausgegebenen Band des Briefwechsels zwischen Willy Brandt und Günter Grass stehen diese Dokumente fast am Anfang (auf Seite 22) und nehmen 64 Seiten ein. Sie sind umfassend editiert, sogar Bemerkungen und Unterstreichungen, die Brandt oder Grass vorgenommen haben, sind ausgewiesen. Man kommt sich als Leser vor, als hätte man diese Dokumente auf dem Tisch.

Die Dokumentation im Buch ist beeindruckend. Brandt hatte insbesondere »Die Kandidaten« Seite für Seite auseinandergenommen und Frederik Satz für Satz, teilweise bis in das Wort hinein, Fehler, Denunziationen, Lügen, Auslassungen, willentlich falsche Übersetzungen (aus Brandts Publikationen während des Krieges) und Zitatfälschungen aufgeführt. Frederik (und seine Helfer) wollten Brandt als stalinistischen, mindestens jedoch kommunistischen Politiker darstellen, der während des »Dritten Reiches« sein Vaterland verraten habe, in dem er in Norwegen und Schweden den politischen Widerstand gegen die Nazis mitorganisierte. Im anderen Buch Frederiks ging es um das Privatleben Brandts. So wurden unter anderem Briefe von ihm an eine Journalistin abgedruckt, die beweisen sollten, dass Brandt ein Ehebrecher und Alkoholiker war. (Rührend, wie man einige Jahre später in einer PR-Kampagne versuchte Brandt als Angler darzustellen, um ihm ein bürgerlicheres Image zu verpassen.)

Willy Brandt war von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von Berlin. Den Bundestagswahlkampf 1961 hatte er als Kanzlerkandidat verloren; 1965 trat er erneut an. Die restaurativen Kräfte hatten ihren Hass auf ihn, den »Emigranten«, konzentriert. Brandt lehnte schon diese Vokabel explizit ab, da sie zu Denunziationszwecken gebraucht wurde, er wollte »politischer Flüchtling« genannt werden. Wie Kölbel im Nachwort zeigt, blieben die Ausfälle nicht auf das rechtsnationale Lager beschränkt. 1957 und insbesondere 1961 hatte Konrad Adenauer die Bundestagswahlkämpfe mit der Artikulierung von Brandts unehelicher Herkunft geführt (»Brandt alias Frahm«), um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken. Über 80 Strafanträge hatte Willy Brandt im Laufe der Jahre gestellt; der gegen Frederik dürfte der umfassendste gewesen sein. Wenn man sich nicht außergerichtlich einigte, bekam Brandt immer Recht. Im Fall Frederik – so ist zu lesen – kam es 1966 zum Arrangement: Frederik erkläre seine Anschuldigungen für falsch und übernahm die Kosten – die Kläger verzichteten auf den Vorsatzvorwurf. Die Sache war formal aus der Welt; die Kränkungen bei Brandt blieben, was sich an Ausführlichkeit und Präzision der Klarstellungen und Einwände zeigen.

Mindestens einmal war Grass im Flugzeug mit Brandt dabei, als dieser Frederiks Machwerk zerpflückte. Zu Recht schreibt Kölbel, dass dieser Vorgang bei Grass Eindruck hinterlassen hat und womöglich eine Art Initialzündung auslöste: Für diesen Mann muss ich etwas tun. Die Schriften dienten im zusätzlich als »Rohstoff« für sein Theaterstück »POUM«.       

Umgehen mit der Schuld?

Wäre es mehr als nur eine küchenpsychologische Deutung, wenn man Grass' Identifikation mit dem Sozialdemokraten Brandt vor allem in dessen Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus verorten würde? Brandt war zwar nur 14 Jahre älter, aber für Grass mehr als nur ein moralisch einwandfreier Politiker. Im September 1967 schreibt Grass an Brandt: »…so sehr Sie in mir einen sachlichen, bis kritischen Anhänger Ihrer Politik sehen können, so unumwunden bewundere ich Sie nahezu als Vater…« Kölbel interpretiert, Grass meine damit Brandts freie Erziehung seiner Kinder. Dies mag vielleicht eine Rolle gespielt haben, aber es bietet sich auch noch eine andere Deutung an, trotz der Einschränkung: »Zwar sind Sie nie eine Vaterfigur gewesen, aber vielleicht waren Sie für Berlin der große Bruder (ich meine nicht Big Brother), der, ohne seine Autorität strapazieren zu müssen und ohne sich besonders viel um Innenpolitik zu kümmern, dennoch diese Stadt regierte.« Mit dem Wissen von heute (speziell um Grass' Zugehörigkeit in einer Waffen-SS-Einheit als 17jähriger) muss Brandt für Grass so etwas wie ein Idol gewesen sein. Ein Idol, das Grass' »moralpolitische[r] Obsession« (Kölbel) entsprach und – das war wichtig – Anregungen, Kritik und Hilfen nicht nur ertrug, sondern annahm und sogar forderte. Grass fühlt sich angenommen und konnte mit seinen Mitteln seine Scham, vielleicht auch seine Schuld, von der kaum jemand wusste, »abarbeiten«.

Zunächst steuerte Grass vor allem Formulierungshilfen bei und wollte Brandts Rhetorik verbessern (wovon er bald Abstand nahm, als er merkte, dass es gerade das Suchende war, das ihn vom herrisch-wissenden Ton anderer Politiker unterschied). Aber er mischte sich auch früh in programmatische und tagespolitische Dinge ein. 1965 ging er für Brandt in den Wahlkampf. Die Betonung »für Brandt« ist wichtig, denn obwohl Grass für die SPD, für die Sozialdemokratie, Wahlkampf machte, sollte sich auch später zeigen, dass es ihm zuvörderst um Brandt ging. 

Die Wahl 1965 ging verloren. Aber da tat sich knapp ein Jahr später eine Chance auf: Die Koalition zwischen CDU/CSU und FDP zerbrach. Die SPD trat in eine Koalition mit CDU/CSU ein – die sogenannte Große Koalition. Dieses Engagement wurde von den Intellektuellen argwöhnisch verfolgt. Man einigte sich in der »Gruppe Grass« nach einer langen Diskussionsnacht darauf, diese Koalition »hinzunehmen«, wie es gönnerhaft hieß. Beklagt wurde, dass man nun mit dem politischen Gegner, dessen gesellschaftspolitische Rückwärtsgewandtheit  man eigentlich überwinden wollte, gemeinsame Sache machte. Und dies mit dem NSDAP-Mitglied Kiesinger als Bundeskanzler und Strauß, dem politischen Teufel, als Finanzminister. Man sah die SPD und Brandt eingezwängt in politischen Rücksichtnahmen und Disziplinen; Gift für utopische Entwürfe.

Grass sah nicht nur durch die in Landtagswahlen stark aufkommende NPD die deutsche Demokratie in Gefahr. (Interessant: Er sprach sich zwar gegen ein Verbot der Partei aus - deren Programmatik sollte man argumentativ angreifen - fand jedoch andererseits ein Verbot des Publikationsorgans, der »National- und Soldatenzeitung« für geboten.) Scharfsinnig erkannte er auch in den Teilen der außerparlamentarischen Opposition, die gemeinsame Sache mit stalinistischen und kommunistischen Gruppen machte, großes Gefahrenpotential. Und dies bis hinein in die Jugendorganisation der SPD, den Jungsozialisten. Rechts und links sei man sich einig, so Grass, die Demokratie zu zerstören. Wie weiland in der Weimarer Republik.

Grass' Alarmismus

Der Schriftsteller entwickelte einen veritablen Alarmismus: Vietnamkrieg, die Berliner SPD, die Große Koalition – überall sah er Fallstricke lauern oder forderte klare Ansagen. Er wolle doch nur »Mut machen zum Mut«, so Grass im Oktober 1967. Die genaue Lektüre dieser Zeit zeigt, dass Grass darunter etwas anderes verstanden haben muss als Brandt. Intern moniert Grass 1967, Brandt beantworte »alles gebürstet«. Dahinter steht die Furcht, dass Brandt, der moralische Leuchtturm seines Lebens, der Außenminister geworden war, von der Macht korrumpiert werden könnte. 

Neun Punkte legt er Brandt für einen Umbau der SPD vor. So solle man zum Beispiel spätestens 1969 die Große Koalition beenden, einen scharfen Wahlkampf gegen CDU/CSU führen, Außenseiter in die politische Arbeit der Partei einbinden, sich den Gewerkschaften annähern und – nach Godesberg merkwürdig genug – die »Öffnung der Partei nach links«. Im Kern sollten wohl »gemäßigte« APO-Aktivisten gewonnen werden. Im März 1969 wurde die Sozialdemokratische Wählerinitiative (»SWI« mit Büro in Bonn, sinnigerweise auf der Adenauerallee) offiziell vorgestellt. Grass ging in die Offensive. Vorher hatte man Herbert Wehner überredet und seine Zweifel, eine Art »Nebenpartei« könnte sich im Wahlkampf etablieren und der SPD schaden, zerstreut. Auch hieran mag Brandt einen Anteil gehabt haben. Mit dem Rückenwind der Bundespräsidentenwahl – Gustav Heinemann war als erster Sozialdemokrat  mit den Stimmen der FDP zum Bundespräsidenten gewählt worden – erkannte Grass die Möglichkeit eines Regierungs- und Mentalitätswechsels. Die FDP, ohne die es nicht ging, orientierte sich in Richtung Sozialdemokratie.

Grass wurde zum Trommler; mit ihm unter anderem Eberhard Jäckel, Kurt Sontheimer, Siegfried Lenz, Golo Mann und Arnulf Baring. Man organisierte Wahlveranstaltungen (meistens trat Grass auf, der zwischen März und September 1969 in über 60 Veranstaltungen sprach, 25 Betriebs- oder Zechenbesichtigungen vornahm und 46 Pressekonferenzen abhielt), legte Zeitschriften (»dafür«) und Flugblätter auf und schaltete Anzeigen. Wichtig war die Betonung, dass die Unterstützer keine SPD-Mitglieder waren. Insbesondere das Engagement durch Prominente wie Schauspieler, Kabarettisten, Fernseh- und Showgrößen oder populäre Schriftsteller wurde so erleichtert. Es sollte eine Wählerinitiative und keine Wahlinitiative sein. Grass ahnte instinktiv, dass der Bevölkerung die durch jahrzehntelange Propaganda geschürte Skepsis, ja Furcht, vor dem Politiker Brandt und der SPD genommen werden muss, in dem man darstellt, dass die Unterstützung nicht auf wenige Intellektuelle (denen man in Deutschland immer mit Skepsis begegnete) beschränkt blieb. Das Bekenntnis zur SPD von Prominenten sollte helfen, die Dämonisierung von Person und Partei abzubauen.

Dies auch dahingehend, dass man von der »Sozialdemokratie« (seltener am Anfang auch vom »demokratischen Sozialismus«) sprach. Hier musste man sich vom Kommunismus eindeutig separieren – auch dies in Anbetracht der Propaganda bis weit in die 60er Jahre hinein ein schwieriges Unterfangen. Die SWI formulierte konkrete Ziele, die häufig weitergingen als das Programm der SPD selber. Auch sparte man nicht mit Kritik – freilich konstruktiv vorgebracht. Das Zauberwort der damaligen Zeit – man glaubt es heute kaum – lautete: Reformen. Grass und seiner SWI gelang es rhetorisch geschickt, politisches Interesse in der Bevölkerung jenseits utopischer Entwürfe der APO zu wecken. Dies, weil man von mehr gesellschaftlicher Partizipation sprach bis hin zu Reformen im Bildungs-, Arbeits- und Gesundheitswesen. Manche Forderungen lesen sich nach mehr als 40 Jahren verblüffend zeitlos. Sogar von einer »Tobin«-Steuer ist einmal die Rede.

Der Kleinmut der Basis

Grass half weiter bei Formulierungen zu Brandts Reden, aber nicht immer wurden diese übernommen. Als er im April 1969 für eine Wahlkampfrede Brandts kernig formulierte »Wir werden siegen, wenn wir siegen wollen«, gefiel dies Brandt offensichtlich nicht; vom »siegen« hatte er wohl genug gehört. »Wir können stärker werden, wenn wir es wirklich wollen«, sagte er stattdessen (dazu muss man wissen, dass Brandt nicht nur Grass als Formulierer hatte).

Grass pochte immer wieder auf einen aggressiven Wahlkampf, der die Unterschiede zwischen CDU/CSU und SPD ungeachtet der Zusammenarbeit in der Koalition pointiert herausstellen sollte. Keine Schonung sollte es geben. Das war für den eher ausgleichenden Brandt, der als Minister in der Koalition ja stark eingebunden war, ein Spagat und wie sich zeigen sollte für einige seiner Genossen noch mehr. Tatsächlich war, wie man später hörte, das Arbeitsklima in der Großen Koalition ganz gut; Wehner und Schmidt richteten sich auf eine Fortsetzung ein. In seinen Wahlkampfeindrücken klagte Grass Brandt vom »Kleinmut« vieler Genossen an der Basis und sprach offen von einem »erschreckend niedrigen Niveau« der Kandidaten, die zu oft nur wie reine Funktionäre agierten.

Es dürfte nicht zuletzt auf Grass' Einfluss zurückzuführen sein, dass Brandt beherzt bereits in der Wahlnacht der Bundestagswahl 1969 die Koalition mit der FDP einfädelte – vorbei an den anderen Parteigranden. Es gab zwar schon im vorherigen Bundestag eine theoretische SPD/FDP-Mehrheit, aber nur sechs Stimmen. Der rechtsnationale Flügel der FDP war zu stark; Brandt wäre nicht gewählt worden. Dies zeigte sich im Übrigen bei der Kanzlerwahl 1969, als Wahlzettel mit despektierlichen Äußerungen auftauchten und Brandt nur zwei Stimmen über die erforderliche Mehrheit erhielt, obwohl es deutlich mehr Stimmen hätten sein sollen.           

Es kam zum Regierungswechsel - zum ersten Mal seit 20 Jahren eine Bundesregierung ohne CDU/CSU. Von nun an war Grass nicht mehr zu halten. Immer wieder warf er wie ein Heizer auf einer Dampflokomotive neue Kohlen ins Feuer, gönnte der Regierung keine Atempause. Früh setzte schon Kritik ein, vor allem an der Personalpolitik Brandts, der, was Grass nicht berücksichtigte, die diversen Flügel der Partei zu bedienen hatte. (Seltsamerweise taucht außer Genscher [und der nur wenige Male] die FDP im Briefwechsel kaum auf.) Dabei wusste Grass um die unterschiedlichen Strömungen in beiden Parteien sehr genau. Aber alles, was nicht Grass' Dampfwalzenenthusiasmus entsprach, wurde zerpflückt. So empfahl er Brandt Conrad Ahlers Manieren beizubringen. Und Klaus Schütz kanzelte er ab: »...bedauere, daß Sie weder unsere Sorge noch deren Anlaß begreifen«.

Autorität und Innenpolitik – dies hatte Grass bei Brandt 1967 herausgestellt. Es sind genau jene Punkte, die 1970, drei Jahre später, von Grass nun fast gebetsmühlenartig eingefordert werden. Schon früh erkannte er Brandts zu enge Fokussierung auf die Außen- bzw. Ostpolitik. Daneben gab es dann die abwartende, zum Teil lässige Haltung Brandts was innen- und wirtschaftpolitische Kabinettsentscheidungen und sogenannte Machtworte anging. Von Gaus kam das Wort vom »Teil-Kanzler« auf, das Brandt verletzt haben soll. Grass' Idee: Das Paar Adenauer/Erhard aus der Wirtschaftswunderzeit sollte durch Brandt/Karl Schiller für die neue Regierung revitalisiert werden. Dies gelang jedoch nur teilweise. Immerhin hatte Schillers DM-Politik wesentlich zum Wahlsieg 1969 beigetragen. Aber Schiller wurde eigen und selbstherrlich (ausgerechnet Grass musste das feststellen). Im Band finden sich zwei Briefe, in denen er Schiller nahelegt, sich pro-aktiv zu seiner NSDAP-Mitgliedschaft zu äußern. Immerhin war Schiller, Jahrgang 1911, kein Jüngling mehr gewesen (sogar zwei Jahre älter als Brandt). Als Schiller aus dem Kabinett ausscheidet und sich zur CDU orientiert, rechnet Grass mit ihm auf herrische Art und Weise ab. Inwiefern Schiller Grass Anfang der 1960er Jahre als »Lektor« bei den »Hundejahren« diente, wie dies vor einigen Jahren kolportiert wurde, wird nicht im Buch thematisiert.

5:1 für Grass

Grass mahnt, klagt, jammert, verwirft, entwickelt, rät ab, rät zu und fragt (eher selten und wenn, dann suggestiv). Das Verhältnis in den Briefen zwischen 1968 und 1973 liegt bei 5:1 zu Gunsten von Grass. Wenn man die meist knappen Antworten Brandts noch mit den seitenlangen Exzerpten von Grass vergleicht, wird es noch disparitätischer.  Grass quengelt manchmal wie ein Kind, das fünf Minuten nachdem man in die Sommerfrische aufgebrochen ist, fragt, wann man denn endlich wieder zu Hause ist. Selbst in positiv wahrgenommenen Ereignissen (Kniefall in Warschau; Nobelpreis) entdeckt Grass negatives Potential. Dennoch: Grass' Hyperaktivitäten sind, wenn sie nicht gerade in vorauseilenden Katastrophenszenarien abgleiten (drohender Bürgerkrieg in den USA oder ein neues Auschwitz in Biafra), durchaus substantiell. Nicht unflott steuert er die möglichen Themen an: Betriebsverfassungsgesetz, Mitbestimmung, Mieterschutz, »soziale Familienpolitik«, »fortschrittliche Bildungspolitik« und – man staune – Umweltpolitik (das wiegelt Brandt sofort ab – kein Geld). Grass beschäftigt sich mit Gesellschaftsentwürfen (bspw. Senkung des Wahlalters und Heranführung von Jungwählern an die SPD) oder entwickelt für die SPD Vorschläge für eine stärkere, innerparteiliche Demokratie. So sollen Direktkandidaten der Partei in einer Art Wahl oder Hearing durch die Öffentlichkeit bzw. Parteimitglieder bestimmt und gewählt werden. Sogar Wehner äußerte Interesse daran, was eigentlich, wenn man seine Hinterzimmermethoden kennt, unwahrscheinlich klingt. Auch Grass' Einwand, dass die Bundesregierung im Rahmen der Entspannungspolitik nicht vorauseilend Rücksichten auf innenpolitische Vorgänge in kommunistischen Ländern nehmen sollte, ist weitsichtig. Dennoch war es wohl eine Illusion zu glauben, dass ausgerechnet Deutschland disziplinarische Wirkungen in Osteuropa entfalten sollte. Immer wieder regt Grass eine Art deutscher Nationalstiftung an, in der unter anderem die kulturellen Eigenheiten und Bräuche der – für ihn selbstverständlich – verlorenen ehemaligen deutschen Ostgebiete weiter gepflegt werden und damit – so die Idee – den deutschtümelnden Vertriebenenverbänden entzogen werden würden. Erst 2002, unter Gerhard Schröder, kommt es zu einer solchen Nationalstiftung, freilich unter anderen Vorzeichen.

Es wäre zuviel, wenn man behaupten würde, Grass und die SWI hätten Brandt und SPD 1969 (und auch 1972) zum Wahlsieg tragen müssen. Martin Kölbel balanciert in seinem Nachwort über den Nutzen der Initiative. Grass selber deutet mit vollmundigem Understatement an, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben. Intern sagt er, dass es ohne die SWI 1969 keinen Wahlsieg gegeben hätte.

Melancholie

Warum trieb Grass mit dieser Vitalität Brandt an? Grass wusste seit Juli 1969 von dessen Gemütsschwankungen. In seinem Werkstatttagebuch vermerkt er Brandts Aussage: »Ich habe manchmal ein zwei Tage lang Depressionen«. Brandt sei jemand, »der seiner Melancholie Termine einräumt«, so resümiert der Dichter in den 70ern. Grass' Text über Dürers Melencolia-Engel begeistert Brandt (er ist im Buch leider nicht abgedruckt). Ob Brandt tatsächlich durch Grass' Vorschläge und Kritik immer mehr deprimiert wurde, wie Horst Ehmke, ein Duz-Freund von Grass, dies einmal anklingen ließ?

Kurz nach dem triumphalen Sieg 1972 musste sich Brandt einer Kehlkopfoperation unterziehen und konnte nicht an den Koalitionsverhandlungen teilnehmen. Die FDP nutzte dies aus; Wehner beging eine Illoyalität, in dem er einen Brief Brandts mit Instruktionen für die SPD-Delegation nicht weiterreichte. Reinhard Wilke, 1970-1974 Büroleiter von Willy Brandt, bemerkt in seinem Buch, Brandt sei nach der Operation ein anderer gewesen und spekuliert über eventuelle Probleme bei der Narkose. Über die »Melancholie« Brandts 1973/74 ist viel spekuliert worden; diejenigen, die es wissen, schweigen oder reden wortreich darüber hinweg (Egon Bahr beispielsweise).

Früh deutete Grass seinen Rückzug aus der SWI an. Naturgemäß hatte er damit seine Position bei Brandt geschwächt. Dennoch versuchte er – wie so viele -  immer wieder mit Brandt in Kontakt zu kommen, aber die Terminkalender der beiden sind scheinbar schwer zu synchronisieren. Wirklich? Ein Punkt klingt in einer Bemerkung von Wilke an, die in einer Fußnote und später im Nachwort zitiert wird: Brandts Furcht vor allzu engen Bindungen an Menschen. Ein Wochenende mit Grass will sich Brandt nicht ausmalen; maximal ein Tag. Wilke wird in seinem Buch ja noch etwas deutlicher. Brandt nannte Grass einen »Besserwisser«, dem er, so Wilke, wenn möglich, immer aus dem Weg ging. Immerhin: Im Nachwort druckt Kölbel aus Brandts Notizen nach seinem Rücktritt 1974 die Bemerkung »Günter Grass: 'Denkmal' + andere Klugscheissereien« ab. Man kann Wilkes Buch von 2010 zeitweise fast parallel zum Briefwechsel lesen: Ausgiebig werden hier Brandts Schwächen aufgezeigt, wie sein immer wieder aufbrechendes Improvisieren in der Öffentlichkeit, seinen Hang in immer neuen Diskussionsrunden Beschlüsse zu fassen, die dann von einigen immer wieder nicht eingehalten wurden, sein – freundlich formuliert – antiautoritärer Führungsstil, der zuweilen nichts mehr von einer Richtlinienkompetenz eines Kanzlers hatte. Alle scharten sich um Brandt, und gleichzeitig blühte das Intrigantentum untereinander, was dann zu einer weiteren Absonderung Brandts führte, der mit all dem überfordert war.

Grass' Vorschläge und Einwände dürften durchaus Brandts Sympathie gefunden haben. Das Alltagsgeschäft der Rücksichtnahmen, Eitelkeiten und Sachzwänge wurde vom Schriftsteller aber eher ignoriert. Immer wenn etwas anderes als die Feder und die Rhetorik des Wortes verlangt wurde, zeigten sich seine Grenzen: Grass' Initiative, Soldatenbüchereien besser auszustatten, verlief sich; die zur Verfügung gestellten (anspruchsvollen) Bücher wurden profan in den Bestand der Bibliotheken integriert wie ihm Helmut Schmidt berichtete. Ein Entwicklungshilfeprojekt in Tansania, als blockübergreifend angelegt (Jugoslawien, Schweden und die Bundesrepublik) wurde immer kleinteiliger, bis es schließlich gänzlich versickerte.

So war sein Abschied von der SWI durchaus auch ein Stück Resignation. Dann kam ihm auch noch Brandts Rücktritt »dazwischen«. Noch nicht einmal zwei Jahre nach dem größten Sieg der deutschen Sozialdemokratie nach dem Krieg war die Euphorie verflogen und ihr Hauptdarsteller von der Bühne verschwunden. 1972 hatte Brandt an Heinrich Böll noch geschrieben: »Resignieren Sie nicht. Ich habe es auch nicht getan.« Jetzt hatte Brandt aufgegeben. Zwar blieb er bis 1987 Parteivorsitzender, aber mit Schmidt als realpolitischen Basta-Kanzler hatte Grass natürlich nichts im Sinn (das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit). Die Korrespondenz zwischen Grass und Brandt nahm ab; sie kam Ende der 70er Jahre fast ganz zum Erliegen (allerdings hatte Brandt auch 1978 einen Herzinfarkt). 1976 klagte Grass gegenüber Brandt, die SWI sei nur noch ein »Wahlhilfeverein«.  Und Grass' Vorschläge wurden immer theorielastiger und abstruser. So schlug er (ebenfalls 1976) eine Art sozialliberale Allianz von SPD und FDP vor. Dies bedeute »Abstand zu nehmen von einseitig sozialdemokratischer, einseitig freidemokratischer Politik. Nur für beide Parteien zusammen wird es auf längere Zeit hin Regierungsmehrheiten geben.« Damit unterschätzte er sträflich den politischen Opportunismus der Funktionspartei FDP. Brandts Rolle(n) beschränkten sich fast nur noch auf repräsentative Aufgaben, beispielswiese als Präsident der Sozialistischen Internationale (ab 1976) oder der sogenannten »Nord-Süd-Kommission« (ab 1977).   

Wie symbolhaft und affektgesteuert Grass agierte, zeigt sich exemplarisch im Oktober 1982. Als er vom Erfolg des konstruktiven Misstrauensvotums und der Kanzlerschaft Helmut Kohls hörte, entschloss er sich spontan in die SPD einzutreten. Dies bedeutete, dass er sich in dem Moment als Mitglied engagierte, als die Partei keinerlei politische Potenz mehr im Bund besaß. Indirekt schloss er sich damit zunächst noch Helmut Schmidt an, mit dem ihm politisch wenig verband – vor allem der Nachrüstungsbeschluss, den Schmidt vehement verteidigt hatte, war Grass ein Dorn im Auge. Als die Partei umschwenkte und Schmidts Position in den SPD-Gremien zurücknahm, war Grass zwar zufrieden, die Partei aber am Boden. Wehners Prognose von der langen Oppositionszeit sollte sich fast exakt erfüllen.

Der Mann der Offenen Briefe

Zwei Dissense größeren Ausmaßes habe es gegeben, so Kölbel im Nachwort. Zum einen 1973, als der deutsche Botschafter in der UdSSR Grass empfohlen hatte, eine geplante Reise zu verschieben, da er befürchtete, Grass' Aktivitäten (u. a. ein geplantes Treffen mit Alexander  Solschenizyn) könnten den Entspannungsprozess stören und von Moskau als Einmischung in die inneren Angelegenheiten aufgefasst werden. Grass reagierte mit polternder Vehemenz  – wie so häufig mit einem »Offenen Brief« (es scheint so, als habe er diese Gattung erfunden) - und sagte die Reise mit großem Aplomb ab. Nüchtern bemerkt Kölbel: »Grass' Insistenz auf freier Moralität und direkter Aktion vertrugen sich nicht mit der Staatsräson und dem Abwägen großpolitischer Machtbalancen…« Obwohl man danach scheinbar wieder zur Tagesordnung überging zeigte sich, wie Grass seine Rolle als eine Art »moralischer Sonderbotschafter« verstand. Das war übrigens weit mehr, als ihm Brandt 1969 als Bundeskanzler hochoffiziell anbieten wollte: Einige Reisen zu Goetheinstituten (u. a. in Australien) und ein Besuch bei den deutschen Siedlungszentren in Südamerika. Für Grass hatte dies »das Beklemmende eines Alptraums«: er schien auf mehr und Besseres gehofft zu haben – bis zum Schluss vergeblich.

Die zweite Prüfung der Freundschaft setzte anlässlich des deutschen Wiedervereinigungsprozesses 1989/90 ein. Grass warnte jetzt nicht mehr vor einer Metternich-Außenpolitik wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, sondern sah den Bismarckschen, deutschen Nationalstaat wiedererstarken, den er für beide Weltkriege verantwortlich machte. Die deutsche Teilung sei, so Grass suggestiv, als Strafe für Auschwitz durchaus gerechtfertigt und sollte bestehen bleiben. Er neigte einer Konföderation zu, was er übrigens bereits seit den 60er Jahren verfochten hatte. Interessant sind hier die Zuordnungen: Damals sprach man von zwei deutschen Staaten einer Nation. Grass' Gedanke einer Konföderation hatte nie bedacht, was zu tun sei, wenn ein Teil (die DDR) dies mehrheitlich nicht mehr wollte. Also argumentierte er – wie so oft – moralisch. Um diese Moralisierung zu rechtfertigen, mussten wilde historische Vergleiche her.

Wie dieses Erregungsverfahren von Grass funktioniert wird an einer Stelle im Briefwechsel sichtbar: Es sind zwei Briefe von Klaus Schütz von 1968, der damals Regierender Bürgermeister von Berlin war. Schütz verwahrte sich gegen den Vergleich, in Berlin habe anlässlich von Demonstrationen eine »Pogromstimmung« gegen die Studenten geherrscht und stellte klar: »'Pogrom' ist immer noch Synonym für staatlich organisierten Mord und grausame Verfolgung. Wer diesen Begriff undifferenziert gebraucht, kommt in den Verdacht, die Leiden von damals verniedlichen zu wollen.« Grass' patzige Antwort wurde bereits weiter oben zitiert.

Als sich die deutsche Einheit abzeichnete, stimmte Grass in die Euphorie Brandts überhaupt nicht ein, glaubte ernsthaft, bei Brandt nationalistische Töne gehört zu haben und wollte ihn diesbezüglich zur Rede stellen. Dass die Einheit Deutschlands das strategische Ziel der Entspannungspolitik mit der DDR und dem damaligen Ostblock war, hatte Grass entweder vergessen oder war ihm nie präsent.

Zur Aussprache kam es wohl nicht mehr. Im letzten regulären Brief vom 11. Juni 1992 bedankt sich das Büro Brandt für das »Lesefutter« – Grass hatte Brandt die Erzählung »Unkenrufe« geschickt. Die letzte Nummer 288 ist dann eine Weihnachts- und Neujahrsglückwunschkarte Brandts, von ihm unterschrieben, die dann jedoch nicht mehr verschickt wurde, da Brandt bereits am 8. Oktober 1992 starb. 

99 Dokumente

Kölbel versichert im Nachwort, dass der Briefwechsel komplett ist (lediglich eine Anlage mit Gesundheitsdaten ist aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nicht abgedruckt). Auf 800 Seiten werden die 288 Briefe, Postkarten oder Telegramme abgedruckt. Die Abbildungen sind sehr gut gewählt. Der Fußnotenapparat ist ausführlich, gelegentlich redundant, etwa wenn auf zehn Seiten dreimal auf das veränderte Wahlalter hingewiesen wird. Dafür wird der Leser nicht informiert, dass der »Herr von Thadden«, der einmal erwähnt wird, der damalige Vorsitzende der NPD war. Ein wenig verblüfft ist man schließlich, dass nach dem Briefwechsel noch rund 200 Seiten mit 99 sogenannten »Dokumenten« folgen. Hier handelt es sich um nicht direkt zuordenbare bzw. den Briefwechsel ergänzende Dokumente wie Briefe an bzw. von Dritten (fast immer bezogen auf Günter Grass), Tagebuchnotizen von Brandt und Grass, Protokollfragmente oder auch Roman- oder Erzählungsausschnitte aus Grass' Büchern. Die Entscheidung wann ein Schriftstück nun als Briefanlage dient und wann als Dokument, scheint zuweilen etwas undurchsichtig. Dies zeigt sich zum Beispiel an den bereits genannten Briefen von Klaus Schütz an Grass von 1968. Diese stehen als Dokument 23 auf den Seiten 858 und 859, während der Brief von Grass an Schütz als Nummer 43/1 auf Seite 194 abgedruckt ist.

In den Dokumenten hätte man sich unbedingt auch einen Ausschnitt aus Grass' Tagebuch aus dem Jahr 1990 (»Unterwegs von Deutschland nach Deutschland«) gewünscht, welches 2009 erschienen war und nicht nur in verblüffender Ehrlichkeit die krausen politischen Ansichten des Dichters zur Einheit dokumentiert, sondern auch das Verhältnis zu Willy Brandt und dessen vermeintlich nationalistischen Äußerungen thematisiert.

Überrascht ist man, dass auf Seite 1017 dann einige Informationen »zu dieser Ausgabe« angebracht werden. Man hat sich inzwischen auch ohne diese die Vorgehensweise des Herausgebers halbwegs erschlossen und weiß, dass »│« einfach nur bedeutet, dass die Originalseite des Dokuments wechselt und erkennt den Unterschied zwischen handschriftlich verfassten und mit der Schreibmaschine geschriebenen Texten (an der jeweils anderen Schrift). Warum die Briefe in Anmerkungen gelegentlich fast ertrinken (neben den bereits angesprochenen Redundanzen sind es vor allem sattsam bekannte historische Ereignisse, die man glaubt erklären zu müssen), in den Dokumenten jedoch jede Fußnote fehlt, wird nicht erläutert.

Geist und Politik

Dieser Briefwechsel sei ein Dokument eines Dialogs zwischen »Geist und Macht«, so schreibt Martin Kölbel mehrmals. Schöner – und typisch für ihn – ist da die Brandt-Formulierung von dem Austausch zwischen »Geist und Politik«. Das Buch ist nicht nur eine Zeitreise durch die Geschichte der adoleszenten Bundesrepublik (in seiner beherzten Art formuliert Grass einmal, die Bundesrepublik sei nun volljährig und könne die kurzen Hosen ablegen). Sie zeigt auch an, wie ein Intellektueller sich einer Sache verschreibt, ohne sich mit ihr vollends gemein zu machen. Wenn Offene-Briefe-SchreiberInnen heute gleichzeitig inbrünstig betonen, niemals in die Politik gehen zu wollen, so zeigt dies eine fatale gesellschaftspolitische Haltung an: als sei Politik ein Konsumprodukt, dass je nach Gusto aber letztlich ohne Konsequenz kritisiert werden kann. Grass war da anders: Er agitierte nicht nur, er agierte auch. Dieser so oft  irrlichternde Grass aus den 60er/70er Jahren ist allemal interessanter, markanter und anregender als die heutigen Möchtegerne mit ihrem pseudopolitischen Engagement in sozialen Netzwerken es jemals sein werden. Und so versöhnt man sich am Ende sogar ein wenig mit Günter Grass.

Der Text kann hier als pdf heruntergeladen werden: Begleitschreiben
 

Willy Brandt, Günter Grass
Der Briefwechsel
Herausgegeben von Martin Kölbel
Steidl Verlag
1230 Seiten
49,80


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