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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Keine geistige Immunität gegen Mitläufertum

Gustave Le Bons Arbeit über die »Psychologie der Massen«
hat über die Jahrzehnte nichts von ihrer Gültigkeit verloren.

Von Thomas Brasch

 

Gustave Le Bon gilt mit seiner knapp 200 Seiten umfassenden Abhandlung über die »Psychologie der Massen«, die 1895 in Frankreich erschien, gemeinhin als Vater der Massenpsychologie. Ca. 20 Jahre später traf es auch in deutscher Übersetzung den Nerv der mehr oder weniger bürgerlich intellektuellen Kulturpessimisten. Zumindest würde man Le Bon heute wohl in diesem Milieu verorten. Im späteren beeinflussen seine Thesen, die er sehr lesbar, ja fast populärwissenschaftlich, erörtert, u. a. Intellektuelle wie Sigmund Freud, Max Weber, Hannah Arendt und auch Albert Camus.

Le Bon vertritt einen bürgerlich-elitären Konservatismus, der angesichts des beginnenden »Zeitalters der Massen« jeglicher Hoffnung auf sich daraus entwickelnde kulturelle, soziale und politische Fortschritte eine Absage erteilt. Die Masse, wie er sie empirisch beobachtet, ist bar jeder Vernunft. Selbst der Gebildete, der Einzelne, der sich im Alltag vernünftig zu verhalten versteht, wird in dem Moment, wo er Teil einer Masse wird, überwiegend von unbewussten, niederen Instinkten geleitet. Jede sich bildende Masse Mensch ist eine wachsende Ansammlung von Opportunisten. Die Masse nivelliert dabei all ihr geistiges Vermögen auf das niedrigste Niveau. Angesichts gegenwärtiger Massenveranstaltungen (Sport, Kultur, Politik, aber auch Netzwerken) kann man diese Beobachtung noch heute nicht gänzlich leugnen. Doch während sie hier noch harmlos erscheint, wirkt die Tumpheit der Massen in den gesellschaftspolitischen Fragen sehr bedenklich und – wie die Historie mit ihren vielen blutigen Kriegen, Pogromen, Volksverhetzungen belegt – oft sogar mörderisch:

»Die Massen haben nur die Kraft der Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.«

Und an anderer Stelle:

»In den Massen verlieren die Dummen, Ungebildeten und Neidischen das Gefühl ihrer Nichtigkeit und Ohnmacht; an seine Stelle tritt das Bewusstsein einer rohen, zwar vergänglichen, aber ungeheuren Kraft.«

Doch Le Bon versteht Masse nicht allein als den namenlosen Plebs oder diskriminiert sie als dumpfen Pöbel, sondern erkennt dieselben psychologischen Muster auch bei nicht namenlosen Gruppen, wie z. B. Geschworene, Parlamentarier oder Wissenschaftler. Auch wenn Le Bon es vermeidet, explizit sich selbst als gefährdet zu betrachten, so schließt er dies auch nicht aus. Offensichtlich ist jeder gefährdet, und es gibt keine geistige Immunität gegen Mitläufertum.

Der Glaube, verbunden mit der Suggestionskraft einfacher Bilder, und nicht Aufklärung sei die Triebfeder der Massen, lautet die Quintessenz von Le Bon. Und angesichts der doch kläglichen Erfolge eines bislang 250jährigen philosophischen Bemühens, uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen, kann man dieser Einschätzung nicht vehement widersprechen. Denn auch die heutigen gesellschaftspolitischen Ideologien erweitern nur das Spektrum der Glaubensrichtungen.

»Beim Studium der Einbildungskraft der Massen fanden wir, dass sie namentlich durch Bilder erregt wird. Diese Bilder stehen einem nicht immer zur Verfügung, aber man kann sie durch geschickte Anwendung von Worten und Redewendungen hervorrufen. … Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten. So z.B. die Ausdrücke Demokratie, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit u. a., deren Sinn so unbestimmt ist, dass dicke Bände nicht ausreichen, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben, als ob sie die Lösung aller Fragen enthielten. In ihnen ist die Zusammenfassung der verschiedenen unbewussten Erwartungen und der Hoffnung auf ihre Verwirklichung lebendig.«

Entsprechend ablehnend würde sich Le Bon heute wohl auch über die Schwarmintelligenz äußern:

»Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf. Es hat nicht, wie man so oft wiederholt, die »ganze Welt mehr Geist als Voltaire«, sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die »ganze Welt«, wenn man unter dieser die Massen versteht.«

Le Bon bescheinigt den Massen nicht nur geistlosen Opportunismus, sondern auch Obrigkeitshörigkeit und Duckmäusertum:

»Die Massen erkennen die Macht an und werden durch Güte, die sie leicht für eine Art Schwäche halten, nur mäßig beeinflusst. Niemals galten Ihre Sympathien den gütigen Herren, sondern den Tyrannen, von denen sie kraftvoll beherrscht wurden.«
(Das lässt einen doch an einige lebende Personen und lupenreine Demokraten denken.)

Würde Le Bon heute auferstehen, könnte er sich vollends bestätigt in den kulturpessimistischen Diskurs des 21.Jahrhunderts einbringen. Die Entwicklung der Medien, besonders die Omnipräsenz und Verfügbarkeit von endlosen Informationen, wäre ihm Erklärung genug für die aktuelle Empörungsgesellschaft:

»Der Erwerb unnützer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen.«

Seit an Seit mit Günter Grass & Co. würde er sich nach den guten alten Zeiten sehnen, als Intellektuelle noch überzeugt von ihrer politischen gesellschaftlichen Relevanz waren, und sich im naiven Glauben wähnten, Meinungsbildner zu sein:

»Einst, und dies Einst liegt gar nicht so weit hinter uns, wurde die öffentliche Meinung von der Tatkraft der Regierung, dem Einfluss einiger Schriftsteller und einer ganz geringen Anzahl von Zeitungen getragen. Heutzutage haben die Schriftsteller allen Einfluss eingebüßt, und die Zeitungen spiegeln nur die öffentliche Meinung wider.«

Und er würde mir vielleicht beipflichten, wenn ich behaupte, dass wir heute keine Politiker mehr wollen, die ernsthaft und manchmal schmerzhaft die Zukunft gestalten, sondern nur Verwalter unserer bürgerlichen Komfortzone wählen:

»Und was Staatsmänner anbelangt, so denken sie nicht daran, sie (die Masse) zu lenken, sondern suchen ihr nur zu folgen. Ihre Furcht vor der öffentlichen Meinung ist fast schon Schrecken und raubt ihrer Haltung jede Festigkeit.«

Ebenso würde ihn wohl unsere wiederkehrende Enttäuschung über die Mehrheit von Führungskräften verwundern. Denn schon vor über 100 Jahren erkannte er:

»Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden.«

Ebenso müde oder vielleicht auch süffisant lächelnd könnte er die aktuelle medienkritische Diskussion verfolgen. Ist doch schon zu seiner Zeit klar, dass der heute so gepriesene, unabhängige, aufklärende und Haltung erfordernde Qualitätsjournalismus allenfalls sporadisch und in unauffälligen Nischen aufkeimt:

»Die Presse, die einstige Leiterin der öffentlichen Meinung, hat wie die Regierungen gleichfalls der Macht der Massen weichen müssen. Gewiss, besitzt sie noch eine bedeutende Macht, aber doch nur, weil sie lediglich die Widerspiegelung der öffentlichen Meinung und ihrer unaufhörlichen Schwankungen ist. Sie ist zum einfachen Informationsmittel geworden und hat darauf verzichtet, irgendwelche Ideen oder Lehren zu verbreiten. Sie geht allen Veränderungen des öffentlichen Geistes nach, sie ist dazu verpflichtet, weil sie sonst Gefahr läuft, durch die Maßnahmen der Konkurrenz ihre Leser zu verlieren. Die alten, ehrwürdigen und einflussreichen Blätter von ehedem, deren Ansprüche von der vergangenen Generation noch ehrfurchtsvoll wie Weissagungen angehört wurden, sind verschwunden oder zu Nachrichtenvermittlungen geworden, die von unterhaltenden Neuigkeiten, Gesellschaftsklatsch und geschäftlichen Anzeigen umrahmt sind.«

Und wer glaubt, das Feuilleton bilde eine hoffnungsvolle Ausnahme und könne zumindest noch in elitären Kreisen seinen Einfluss behaupten, dem hat Le Bon schon 1895 vorgehalten:

»Die Kritik hat nicht einmal mehr die Macht, ein Buch oder ein Theaterstück durchzusetzen. Sie kann schaden, aber nicht nützen.«

Wer sich einmal die Mühe macht, Buchempfehlungen in den deutschen Feuilletons mit denen der Amazon-Rezensenten zu vergleichen, kann der Einschätzung nur zustimmen. Wer bis hierhin noch nicht von der zeitlosen Relevanz Le Bons überzeugt ist, lässt sich vielleicht von seinem abschließenden Fazit einnehmen, in dem er uns auch deutlich macht, dass die aktuelle Krise der Staatsfinanzen, die wir historisch so einmalig empfinden, doch einzig nur eine logische Konsequenz unserer besten unter den schlechten, von den Massen getragenen Staatsformen ist. Denn auch nach Ansicht Le Bons erweist sich die parlamentarische Demokratie noch immer als die beste unter allen schlechten Regierungsformen. Sie birgt

»eigentlich nur zwei ernstliche Gefahren in sich: die übermäßige Verschwendung der Finanzen und die zunehmende Beschränkung der persönlichen Freiheit.«

Letzteres durch die unendliche Zunahme stets einschränkender Gesetzgebung. Und dass die wachsende Verschwendung von Staatsgeldern dann in die uns akut betreffende Finanzkrise führt, ist schon vor über 100 Jahren evident – und wurde schon damals von uns altbekannten Staaten angeführt:

»Das ununterbrochene Anwachsen solcher Ausgaben muss notwendigerweise zum Bankrott führen. Viele Staaten Europas, Portugal, Griechenland, Spanien, die Türkei, sind dabei angelangt, andere werden bald soweit sein. Aber man braucht sich nicht viel darum zu kümmern, da das Publikum ohne großen Widerspruch nach und nach die Kürzung von vier Fünfteln aller Zinszahlungen der verschiedenen Länder angenommen hat. … und in einer Zeit allgemeinen Zerfalls muss man sich damit begnügen, in den Tag hinein zu leben, ohne allzu sehr an das Morgen zu denken, das sich unserer Macht entzieht.«

Artikel online seit 07.01.15

Weitere Texte von Thomas Brasch finden Sie auf seinem blog brasch & buch.
 



Gustave Le Bon
Psychologie der Massen
Mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter
Übersetzt von Rudolf Eisler.
Kröner Verlag
198 Seiten, Leinen,
Kröners Taschenausgabe 99, 232 g
10,90 €
978-3-520-09915-0

 


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